Der Neem-Baum erregte das Interesse der Medien: VertreterInnen indischer NGOs hatten beim Europäischen Patentamt in München gegen Patente auf den Neem-Baum geklagt. Der Baum ist den InderInnen heilig. Er wächst wild, wird aber auch in grosser Zahl kultiviert. Seit Jahrtausenden werden Zubereitungen aus Blättern, Rinde, Wurzeln und Blüten in der ayurvedischen Medizin verwendet. Alte Aufzeichnungen beschreiben die Verwendung gegen Hauterkrankungen, Malaria, Pocken und Entzündungen. Aufgrund ihrer desinfizierenden Eigenschaften sind Neem-Zweige ein wirksames Hilfsmittel zur Mund- und Zahnpflege. In der Landwirtschaft spielt Neem eine wichtige Rolle zur Schädlingskontrolle und zur Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten. Mit anderen Worten: die Anwendung von Neem-Zubereitungen ist ein allgemeines Kulturgut, das in Indien seit Jahrtausenden geheiligt, gepflegt und erhalten wird. (2) Dass diese Tradition schriftlich dokumentiert ist, war die Rettung für die KlägerInnen vor dem Europäischen Patentamt. Denn so konnte bewiesen werden, dass die Neem-Patente nichts Neues enthielten, sondern dass es sich hier um Biopiraterie handelt: Die Privatisierung von gemeinschaftlichem Wissen und die Patentierung einer traditionellen Heilpflanze. Das Engagement der InderInnen war erfolgreich: Von den weltweit über 90 Neem-Patenten musste inzwischen der grösste Teil wieder zurückgezogen werden.

Biologische Vielfalt

Dass Biopiraterie hauptsächlich Heilpflanzen aus Ländern des Südens betrifft, ist kein Zufall. Vor allem in tropischen Regionen gibt es eine enorme Biodiversität, eine Vielfalt an Pflanzen und Tieren, wie sie sonst nirgends zu finden ist. Viele dieser Pflanzen werden traditionell als Arzneimittel genutzt. In immer stärkerem Ausmass versucht die pharmazeutische Industrie, dieses überlieferte Wissen auszuschlachten: rund 400 Unternehmen und Institute in Europa und USA beschäftigen sich inzwischen mit der Wirkstoffsuche in Naturstoffen (3)

Grundlage dieser Forschung bildet oft die so genannte Bioprospektion. Die Tier- und Pflanzenwelt bestimmter Gebiete wird systematisch erfasst und taxonomisch eingeordnet. Die Identifizierung von Heilpflanzen wird erheblich beschleunigt, wenn dabei auf das Wissen der (oft indigenen) Bevölkerung zurückgegriffen wird. Den Umgang mit solchen Forschungsprojekten versucht ein internationales Regelwerk zu steuern: die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt (CBD), die 1992 auf dem Umweltgipfel in Rio beschlossen wurde.

Die CBD hat drei Hauptziele: den Erhalt der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer Komponenten sowie die Teilhabe der Bevölkerung am Gewinn, der durch diese Nutzung entsteht. Jeder Staat habe die Souveränität über sein genetisches Material, dürfe also darüber bestimmen, wer an was forschen darf. Dabei gilt allerdings die Maxime, dass der Erhalt der biologischen Vielfalt am besten gewährleistet wird, wenn diese Vielfalt genutzt wird. Für diesen „Erhalt durch Nutzung“ sind die Staaten verpflichtet, auch Anderen (d.h. kommerziellen Unternehmen) den Zugang zu diesen Ressourcen zu gestatten.

Allzu oft mündet dies in Biopiraterie. Wie die Hüter traditionellen Wissens enteignet werden, zeigt der Fall der Maca-Pflanze. Im Hochland Perus dient Maca (Lepidium meyenii) als Nahrungsquelle, Indigenas verbessern die Qualität seit Jahrhunderten durch Auslese. Maca wird auch als Heilpflanze genutzt, da Inhaltsstoffe der Wurzeln den Hormonhaushalt beeinflussen und die Fruchtbarkeit erhöhen. Das macht Maca zu einem guten Lifestyle- Medikament für den Markt der Industrieländern. Die Nachfrage steigt seit Jahren, so dass Maca-Produkte inzwischen zu einer wichtigen Einkommensquelle für die Kleinbauern geworden sind. Doch nun haben zwei US-Firmen Patente auf Wirkstoffe der Pflanzen angemeldet. Für die Maca- Bauern wie Gladis Vila Pihue aus Huancavelica ist das nichts anderes als Diebstahl: „Diese Patente beanspruchen neue Erfindungen; dabei weiss jeder, dass sie auf dem traditionellem Wissen und den Ressourcen indigener Menschen beruhen.“ (4) Mit den Patenten können die US-Firmen den peruanischen Bauern nun verbieten, ihre Maca-Produkte in die USA zu exportieren. Gegen diese Biopiraterie vorzugehen, werden sich die Bauern kaum leisten können: Ein Patentstreit kostet in den USA schnell über eine Million Dollar.

Schutz traditionellen Wissens?

Die peruanische Regierung versucht, derartigem Missbrauch in Zukunft vorzubeugen. Seit 1998 wird eine Regelung zum Schutz des Wissens indigener Gemeinschaften diskutiert. Grundlage ist die Anerkennung von traditionellem Wissen als Eigentum der indigenen Gemeinschaften. Dieses Wissen soll freiwillig bei einer nationalen Behörde für geistige Eigentumsrechte (INDECOPI) registriert werden. Die Eigentümer hätten dann das Recht, über die Verwendung ihres Wissens zu entscheiden und die Bedingungen in Nutzungsverträgen festzuschreiben. Von den finanziellen Gewinnen, die aus der Nutzung indigenen Wissens entstehen, sollen 0,5 Prozent in einen Fond für die Entwicklung indigener Gemeinschaften eingezahlt werden. Dieser Vorschlag wurde von den betroffenen indigenen Gruppen abgelehnt, da seine Inhalte überhaupt nicht mit ihrer Auffassung von Eigentum vereinbar seien. (5)

Was die peruanische Regierung hier zu regeln versucht, wird international unter dem Begriff Access and benefit sharing diskutiert. Wie ist der Zugang (access) zu Pflanzen, Tieren, Wissen usw. zu regeln? Und wie wird der Gewinn verteilt, der bei einer Nutzung entsteht (benefit sharing)? Die CBD sieht vor, dass alle Staaten den Zugang zu ihren Ressourcen gewährleisten müssen. Vor einer Bioprospektion muss eine Erlaubnis eingeholt werden (prior informed consent). Für das Erteilen einer Forschungsgenehmigung ist im Prinzip „der Staat“ zuständig. Doch gerade wenn es um traditionelles, indigenes Wissen geht, stellt sich die Frage: Wessen Interessen vertritt der Staat? Ein homogenes nationales Interesse existiert in den seltensten Fällen, vor allem die Interessen indigener Gemeinschaften werden von den nationalen Behörden oft ignoriert.

Merck, Sharp & Dome in Costa Rica

Für das benefit sharing gibt es verschiedene Konzepte, z.B. direkte finanzielle Ausschüttungen (Gewinnbeteiligung) oder die Verpflichtung zum Aufbau einer Forschungsinfrastruktur im prosperierten Land. Das älteste und am besten ausgebaute Modell findet sich in Costa Rica mit verschiedenen Formen des benefit sharing. Costa Rica gehört zu den biologisch reichsten Ländern und verfügt vermutlich über 4 bis 5 Prozent aller biologischen Arten der Welt. Das Instituto Nacional de Biodiversidad (INBio) koordiniert die Erforschung dieser Vielfalt in einem bisher einzigartigen landesweiten Projekt. Wichtigster Partner ist seit 10 Jahren der US-Pharmakonzern Merck, Sharp & Dome. INBio garantiert die Sammlung von Proben und erhält dafür ein Budget, das die Kosten des Instituts abdeckt. Die industriellen Partner stellen Laborausrüstung zur Verfügung, die nach Ende des Projekts beim Institut verbleibt. Industrielabors bilden costaricanische Wissenschaftler aus, was einen Nord-Süd-Technologietransfer gewährleisten soll. Werden aus den biologischen Ressourcen Costa Ricas in Zukunft vermarktungsfähige Produkte entwickelt, so wird INBio an den Gewinnen beteiligt. Die Hälfte dieses Geldes muss in die Erhaltung von Schutzzonen investiert werden.

Wirkstoffe für die Pharmaindustrie im Tausch gegen ein dickes Förderungspaket – ist das eine win-win-Situation? Auch hier drängt sich wieder die Frage nach dem Schutz traditionellen Wissens auf. Gibt es ein „nationales Erbe“, über das INBio verfügen darf? Welche Mitbestimmung haben indigene Gruppen? Der Brasilianer Darell Posey empfindet staatliche Bioprospektionsprojekte deshalb als respektlos: „Wer hat das Recht, den Zugang zu einem indigenen Territorium zu gewähren? Hat der Staat das Recht, Zugang zu Ihrem Haus zu gewähren? In Deutschland darf der Staat dies nicht tun. Aber gleichzeitig wird Unternehmen gewährt, sich Zutritt zu den Gärten, den Dörfern in Reservaten lokaler Gemeinschaften zu verschaffen, ohne sie vorher zu fragen.“(6)

Buchtipp: Biopiraterie

Vandana Shiva, die bekannte indische Wissenschaftstheoretikerin und politische Aktivistin, gibt eine brillante Einführung in den Themenkomplex Biopiraterie. Viele konkrete Beispiele veranschaulichen ihre Kritik an der Patentierung von Pflanzen und tierischen Organismen. Diese Einführung ist geprägt von Shivas Talent, die Probleme in einem umfassenden historischen Zusammenhang zu betrachten. Mit ihren umfassenden Kenntnissen unterschiedlichster Kulturkreise stellt sie „Weisheiten“ der Industriegesellschaft in Frage, die wir all zu gerne als selbstverständlich hinnehmen. So liefert Shiva eine grundlegende ethische Auseinandersetzung mit dem Patentrecht. Anschaulich wird vorgeführt, wie wenig wertneutral Naturwissenschaften sind und welche wichtige Rolle in der modernen Forschung die Frage der Macht spielt. Das Buch liefert einen erschreckenden Überblick, welche Folgen das Aufdrängen des industriellen Patentsystems auf traditionelle Kulturen hat.

Vandana Shiva: Biopiraterie. Kolonialismus des 21. Jahrhunderts. Unrast Verlag Münster 2002. 156 S.

Das Ziel solcher Projekte ist die Patentierung von Pflanzen und Wirkstoffen. Gerade das wird von vielen Menschen abgelehnt. „Kein Patent auf Leben“ – das ist eine grundsätzliche Forderung, die sich nicht nur auf Heilpflanzen beschränkt. Patente sollen Erfindungen schützen. Aber was sich in der Natur befindet, kann höchsten entdeckt werden. Dennoch versuchen Universitäten und Firmen, um jeden Preis zu patentieren. Patente bedeuten Schutz vor Konkurrenz und damit eine Steigerung der Gewinne. Das internationale Handelsabkommen TRIPS zwingt alle beteiligten Länder, ein Patentrecht einzuführen, das den Interessen der Industrienationen auf den Leib geschneidert ist. Aber das TRIPS-Abkommen lässt eine wichtige Möglichkeit offen: In der nationalen Gesetzgebung darf die Patentierung von Pflanzen ausdrücklich ausgeschlossen werden. Diese Möglichkeit sollte nicht nur aus ethischen Gesichtspunkten genutzt werden. Die Patentierung und damit Enteignung überlieferten Wissens hat auch sehr weitreichende soziale Auswirkungen. Indigenes und traditionelles Wissen stellt für viele Menschen überhaupt die einzige medizinische Hilfe dar. Heutzutage basiert die Gesundheitsversorgung grosser Teil der Weltbevölkerung auf traditioneller Medizin. Die meisten Menschen können sich die teuren Präparate der Pharmaindustrie nicht leisten. Pflanzen dagegen werden kostenlos von der Natur bereitgestellt. Immer mehr Menschen, die von einer öffentlichen Gesundheitsversorgung vernachlässigt oder ausgeschlossen werden, besinnen sich auf die traditionellen Heilmethoden, pflegen dieses Wissen und entwickeln es weiter.

Projekt in Mexiko gescheitert

Dass sich immer mehr Menschen kritisch mit den Folgen der Biopiraterie auseinandersetzen, zeigt der Verlauf des ICBG-Maya Projekts in Mexiko. ICBG (7) – unter diesem Kürzel laufen einige der grössten gewinnorientierten Bioprospektionsprojekte. Von der US-Regierung ins Leben gerufen, sind an den unterschiedlichen ICBG-Projekten neben US-Forschungsinstituten immer kommerzielle Partner beteiligt. Alle Projekte laufen nach dem gleichen Schema ab: Eine ortsansässige Forschungsagentur stellt Kontakt zu den indigenen Gemeinden her, sammelt deren Heilpflanzen und dokumentiert das Wissen über den Gebrauch der Pflanzen. Eine (meist US-amerikanische) Universität erforscht die Wirkungsweise der Pflanzen und patentiert die Wirkstoffe. Anschliessend entwickelt ein Konzern ein Medikament, das ebenfalls patentiert und dann vermarktet wird.

Die Forschung konzentriert sich auf so genannte Megadiversitätszonen, Gebieten mit enormer biologischer Vielfalt. Momentan laufen fünf Projekte in Asien, Afrika und Lateinamerika. Bis vor kurzem gab es noch ein sechstes Projekt: ICBG-Maya im Süden Mexikos. Die Kooperationspartner, ein Institut der Universität von Georgia (USA) und das mexikanische Institut Ecosur (El Colegio de la Frontera Sur), planten Wissen der traditionellen Heiler Chiapas zu dokumentieren und ganz im Sinne des ICBG in Patente umzusetzen. Ziel war also die Entwicklung neuer Medikamente für zahlungskräftige Industrieländer, nicht etwa die Förderung der Gesundheit der Bewohner Chiapas. Dabei hätten diese dringend Hilfe nötig. Die Bewohner dieser Gegend profitieren kaum von der staatlichen Gesundheitsfürsorge, weshalb sie begonnen haben, sich eine eigene Versorgung aufzubauen. Grundlage ist das Wissen der traditionellen Heiler – und lokale Pflanzen, die nichts kosten.

Als die Bioprospektoren von ICBG-Maya immer öfter ausschwärmten, wuchs der Unmut in der Bevölkerung. Niemand habe sie gefragt, ob sie ihre Pflanzen und ihr Wissen verkaufen wollten, beschwert sich Sebastian Luna, einer der traditionellen Heiler. Es gebe auch nichts zu verkaufen, denn schliesslich gehöre die traditionelle Medizin allen: „Niemand hat das Recht, das Wissen meiner Ahnen zu patentieren.“ Verschiedene Organisationen traditioneller Heiler und Hebammen organisierten eine Kampagne gegen die Biopiraterie des ICBG-Maya Projekts. Innerhalb von zwei Jahren schlossen sich 3000 indigene Gemeinden dem Protest an. ICBG-Maya musste im November 2001 aufgrund mangelnder Mitwirkung der Bevölkerung eingestellt werden.

Der Artikel von Christian Wagner wurde zuerst im Pharma-Brief der BUKO Pharma-Kampagne veröffentlicht: www.bukopharma.de. Die Pharma-Kampagne ist eine Aktion der Bundeskoordination Internationalismus BUKO. BUKO-Kampagne gegen Biopiraterie: www.biopiraterie.de.

Anmerkungen:

  1. Thomas Henkel (BAYER, Leiter des Wuppertaler Instituts für Naturstoffforschung), Die Zeit 9/2002
  2. siehe H.Schmuttterer (Ed.), The Neem Tree, Weinheim 1995
  3. Schatztruhe Natur, Die Zeit 9/2002
  4. Mitteilung der etcgroup, 3.Juli 2002 (www.etcgroup.org)
  5. Carlos M. Correa, Traditional Knowledge and Intellectual Property. Quaker United Nations Office, Geneva 2001
  6. Zitat leicht verändert nach : Wieviel Modellhaftes bietet INBio/Costa Rica? Friedrich Ebert Stiftung, Runder Tisch II zu Nord-Süd-Biopolitik Juli 1997
  7. ICBG = International Cooperative Biodiversity Groups Program