„Wer hat gesagt, dass die Tradition nicht mit Prävention im Einklang ist?“ Kunstvoll ge-schmückte Hände, Symbol muslimischer Tradition, halten ein Kondom. Fasziniert betrachte ich das Poster im Büro der Vereins Kampf gegen Aids (Association de lutte contre le sida, ALCS) in der marokkanischen Küstenstadt Essaouira. Die Botschaft des Bilds trifft ins Schwarze.

Diese Offenheit erstaunt mich in einem muslimischen Land. Ein freiwilliger Mitarbeiter von ALCS hatte das Poster entworfen, inspiriert von den Gesprächen mit Jugendlichen. Viele junge Männer wie Frauen hatten trotz gesellschaftlicher Tradition und Religion be-reits vor der Ehe sexuelle Kontakte und wollten sich vor einer HIV-Infektion schützen. Das Poster knüpfte an einer Botschaft an, die die Leute kannten. Zudem war es eine Antwort an all jene, die predigten, die Tradition schützte vor HIV und Aids und die Ju-gendlichen sollten auf den Pfad der Tugend zurückkehren. Das Plakat war ein grosser Erfolg. Es regte öffentliche Diskussionen an und in Bars, Diskotheken und an Ständen wurden während der Festivals in Marrakesch und Essaouira zahlreiche Kondome gratis abgegeben.


Kultur und Tradition

Während in der Schweiz die Zahl der Neuinfektionen stagniert nimmt sie weltweit weiter-hin zu. Heute leben gemäss dem neusten Report der Aidsorganisation der Vereinten Nationen (UNAIDS) etwa 33 Millionen Menschen mit HIV oder Aids, Tendenz steigend. Afrika südlich der Sahara, wo 67% aller mit HIV infizierten Menschen leben ist besonders hart betroffen. In Diskussionen und Dokumenten werden oft traditionelle und kulturelle Werte als Argument angeführt für das Scheitern von Aufklärungs- und Präventionsprogrammen. Wenn die Leute nur genügend Informationen hätten, wenn sie aufgeklärt und „modern“ wären, könnte sich das Virus nicht so schnell ausbreiten, so eine verbreitete Annahme.

Kultur und Tradition werden in internationalen Kampagnen tendenziell als Hindernis ge-gen die Prävention von HIV und Aids gesehen. Die Prävention von HIV und Aids ist eine sehr komplexe Angelegenheit, beeinflusst von vielen Faktoren. Dazu gehören sozioökonomische Bedingungen wie Armut und Reichtum, die Rolle der Geschlechter, der Zugang zu Informationen und zu Gesundheitsdiensten, zu Kondomen und antiretrovirale Therapien. Ein Faktor, dem bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde, ist die Kultur, insbes. die kulturelle Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit, von Sexualität und Moral in bestimmten Gesellschaften.

Kultur ist jedoch nicht primär ein Problem, sondern Teil der Lösung. Wenn ich in diesem Beitrag für eine verstärkte Berücksichtigung von Kultur in Programmen und Projekten plädiere, gehe ich von einem ganzheitlichen Kulturbegriff aus. Kultur ist nicht nur Kunst und Literatur, Kultur umfasst die Lebensweisen, die grundlegenden Menschenrechte, Wertsysteme, Traditionen und Glaubenssätze (UNESCO, 1982).

Kultur, Kommunikation und traditionelle HeilerInnen


Kreative und künstlerische Projekte sind die sichtbarsten Beispiele kultureller Ansätze. Traditionelle Riten, Tänze, Dramen, Geschichten oder Lieder sind wunderbare, gesell-schaftlich verankerte Kommunikationsmethoden in der Aidsaufklärung. Partnerorganisa-tionen von aidsfocus.ch unterstützen Theatergruppen zum Thema HIV und Aids in Mali, Peru oder Kambodscha, MigrantInnen in der Schweiz inszenieren ein Forum-Theater und ALCS in Marokko macht verstecktes Theater, bei dem Jungendliche im Bus ein Gespräch zur Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen anzetteln. Ein gutes Beispiel ist auch das Memory Book, in dem eine HIV-positive Mutter für sich und die Kinder die wichtigen Dinge in ihrem Leben festhält, einschliesslich der kulturellen Herkunft, der Traditionen und der schönen Momente. Bei diesen Formen der Kommunikation geht nicht um künst-lerische Glanzleistungen, sondern um den Austausch und das Knüpfen von Beziehungen in Gemeinschaften, in einer Sprache, die alle verstehen. Um wirksam zu sein müssen diese Aktivitäten in einem Verständnis der lokalen Kulturen verankert sein und dürfen nicht als Instrumente zur Propagierung fremder Botschaften von aussen missbraucht werden. Wo kultursensitive Ansätze in der Kommunikation zu HIV und Aids entwickelt und angewendet wurden hat sich erwiesen, dass die Programme grössere Wirkung hatten auf das Bewusstsein und Haltungen und auf die Reduktion von Stigma und motivierten Menschen, die mit HIV und Aids leben, mitzumachen.

Kultursensible Ansätze zu HIV und Aids setzen sich mit Werten, Glauben, Traditionen und sozialen Strukturen auseinander, dem kulturellen Kontext und „Bedeutungsgewebe“, in dem die Menschen leben. Ein zweiter Ansatz ist die Zusammenarbeit mit traditionellen Führungspersönlichkeiten, mit Ältesten, HeilerInnen, HerbalistInnen und religiösen Würdenträgern. Einer der Erfolgsfaktoren des umfassenden Aidsprogramms des Schweizerischen Roten Kreuzes in Swaziland zur HIV-Prävention, antriretroviraler Behandlung und Pflege war die Zusammenarbeit mit traditionellen Würdenträgern und den lokalen Gemeinschaften. Auch SolidarMed unterstützte in nördlichen Mozambique ein Gesundheitsprojekt, das erfolgreich mit traditionellen HeilerInnen und Hebammen zusammenarbeitet.

Diese Zusammenarbeit, so wichtig sie ist, ist meist nicht einfach. Traditionelle afrikanische Medizin unterscheidet sich grundlegend von „westlichen“ biomedizinischen Gesundheitssystemen punkto Philosophie, Weltsichten, Werten, Konzepten und Methoden. Eine Zusammenarbeit in Kontext von HIV und Aids aber ist notwendig, da die Leute selbst beide Systeme benutzen, oft mehr Vertrauen in traditionelle ÄrztInnen haben und in der Regel zuerst den traditionellen Heiler aufsuchen.


Was haben Kolanüsse mit Kondomen zu tun?

Kultur ist nicht einfach Kultur. Für die Präventionskampagne bei Menschen mit afrikanischer Herkunft in der Schweiz suchte die Organisation Afrimedia nach typisch afrikanischen Symbolen und Redewendungen. Und fand die Kolanuss: In den meisten westafrikanischen Gesellschaften werden Kolanüsse bei Heiraten, bei der Konfliktlösung und bei religiösen Praktiken ausgetauscht. Sie spielen zudem eine wichtige Rolle in den Bereichen Gesundheit und Sexualität. Es gibt daher wichtige Gemeinsamkeiten zwischen Kolanüssen und Kondomen, dem wichtigsten Werkzeug der MediatorInnen bei der HIV-Präventionsarbeit.

Mit dem Wissen um die Kolanuss, mit Informationen zu HIV und Aids und Kondomen ausgestattet wandten sie die MediatorInnen in Bern und Genf an Männer und Frauen afri-kanischer Herkunft. Die MediatorInnen waren erstaunt, wie wenig die Ansprechpartne-rInnen über die Kolanuss und deren symbolischen und gesellschaftlichen Bedeutung wussten. Die meisten waren städtischer Herkunft oder in der Schweiz aufgewachsen, „afrikanische“ Traditionen waren ihnen fremd geworden. Doch, wie Noel Tschibangu, der Koordinator des Projekts erzählte, entspann sich rund um die Kolanuss ein Gespräch über Herkunft, Identität und soziale Beziehungen, in dem fast beiläufig die Rede auf sexuelle Beziehungen, HIV und Aids und Kondome gebracht wurde. Da das Kondom nicht mehr im Zentrum stand, konnten die Betroffenen offener und mit weniger Scham über diese eher heiklen Themen reden. Viele von ihnen freuten sich über die Wertschätzung der afrikani-schen Kultur und die meisten nahmen Kondome mit nach Hause. Wenn auch anders als geplant hatte sich die Kolanuss als sehr wirksames Vehikel erwiesen für eine Auseinan-dersetzung über HIV und Aids, Risiko, Verantwortung und safer sex.


Kultur in die öffentliche Diskussion einbringen

Die internationalen Entwicklungs- und Aidsorganisationen sind sich grundsätzlich be-wusst, dass Kultur die Umsetzung von Politiken, Strategien und Programmen beeinflusst. Doch der Zugang zu medizinischer Behandlung und Pflege hat für die mächtigsten inter-nationalen Geldgeber wie dem Global Fund to Fight AIDS, Malaria und TB erste Priorität. Technische Massnahmen scheinen leichter durchführbar zu sein und konkrete, messbare Resultate können vorgezeigt werden.

Die UNESCO wie auch die UNFPA haben wertvolle Studien zur Relevanz kultureller Ansät-ze in der Aidsarbeit durchgeführt und Politiken, Richtlinien und Instrumente zur Umset-zung kultureller Ansätze in der Entwicklungszusammenarbeit entwickelt. Diese Richtlinien sind bisher blosses Papier geblieben. UNESCO hat festgestellt dass der institutionelle Druck, der medizinischen Aktivitäten Vorrang gibt, und Mangel an Training und Sensibili-sierung Mitarbeitende von Programmen daran hindert, sich für kulturelle Anliegen zu en-gagieren.

aidsfocus.ch will mit der Fachtagung im Mai die Bedeutung und Notwendigkeit kultursen-sibler Ansätze der HIV-Prävention, der Behandlung und der Pflege in die öffentliche Dis-kussion einbringen und die TeilnehmerInnen motivieren, in ihrer Arbeit kulturelle Ansätze umzusetzen. Denn eine Strategie, die Kultur aussen vor lässt, ist wie ein Stuhl mit einem fehlenden Bein. Irgendwann fällt der Stuhl um, weil ihm eine wichtige Dimension fehlt.

* Helena Zweifel ist Ethnologin, Geschäftsführerin von Medicus Mundi Schweiz, dem Netzwerk Gesundheit für alle, und Koordinatorin von aidsfocus.ch, der schweizerischen Fachplattform HIV/Aids und indernationale Zusammenarbeit.