Von Martin Leschhorn Strebel
Geldverschleuderung, Potentatenschutz und Wirkungslosigkeit: Die Schweizer Entwicklungspolitik steht unter öffentlichem Druck. Ein Blick auf die 30jährige Geschichte der Deklaration von Alma Ata, die das umfassende Primary Health Care Konzept propagierte, entlarvt die Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit als fadenscheinig.
Fast schon jede und jeder kann von einem Projekt in Afrika erzählen, das ein guter Bekannter, gut gemeint auf die Beine gestellt habe, aber an der afrikanischen Realität gescheitert sei. Wer für die Petition „Gemeinsam gegen Armut“ Unterschriften gesammelt hat, kennt diese immer gleichen Geschichten.
Und selbstverständlich gibt es auch in den Projekten der Entwicklungszusammenarbeit
Ansätze, die sich als falsch herausgestellt haben und Projekte, bei welchen
aufgrund einer falschen Lagebeurteilung, hunderttausende von Franken in den
Sand gesetzt wurden. Es gibt Organisationen, die nicht sauber arbeiten – wie
es ja auch Banken geben soll, die aufgrund einer aberwitzigen Risikobeurteilung
40 Milliarden abschreiben mussten.
Entwicklungszusammenarbeit ist ein kompliziertes Geschäft, das sich in einem
Umfeld bewegt, in welchem soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische
Kräfte auf den verschiedensten Ebenen einwirken. Gerade deshalb braucht es verschiedenste
staatliche und nicht-staatliche Organisationen, die mit unterschiedlichen Philosophien,
Instrumenten und Ansatzpunkten arbeiten.
Natürlich geht es in der Entwicklungspolitik immer auch um Interessenpolitik.
Das forsche Auftreten Chinas als Geldgeber in Ländern, in welchen der Rohstoffbedarf
der aufsteigenden Macht gedeckt werden kann, macht dies überdeutlich. Doch auch
die Militarisierung der Entwicklungshilfe belegt dies: Das Afrikakommando (africom)
des US-Militärs beschäftigt sich etwa damit, Menschen in Djibouti medizinische
und zahnärztliche Basisversorgung zu gewähren. Und in der Schweiz wird immer
mal wieder die Verknüpfung von Rücknahmeabkommen mit entwicklungspolitischen
Forderungen verknüpft.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Entwicklungspolitik
aus dem Dornröschenschlaf einer breiten Akzeptanz geweckt und in die öffentliche
Debatte gezogen wird. Die Geschichte der internationalen Gesundheitszusammenarbeit
zeigt aber auch, dass in der Entwicklungspolitik der vergangenen 30 Jahre politische
und wirtschaftliche Interessen, die Umsetzung eines umfassenden Ansatzes verhinderten.
Vom 6. bis 12. September 1978 fand in Alma-Ata (UdSSR) die internationale Konferenz
über „Primary Health Care“ (PHC) statt. 134 Staaten unterzeichneten eine Deklaration,
die ausgehend davon, dass es sich beim Recht auf Gesundheit um ein fundamentales
Menschenrecht handelt, ein Konzept einer umfassenden Gesundheitsversorgung darlegte.
Der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen sollte allen Menschen sichergestellt
sein. PHC definiert Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern
wesentlich breiter als physisches, psychisches und soziales Wohlergehen des
Menschen.
Das bestechende an dem in Alma Ata beschlossenen Ansatz besteht darin, dass
Gesundheit nicht isoliert, sondern verschränkt mit sozialer und wirtschaftlicher
Entwicklung betrachtet wird. Für Gesundheit braucht es eben auch gesundes Wasser
und eine ausreichende Ernährung. Es braucht Menschen, die befähigt sind, an
der Lösung von Gesundheitsproblemen mitzuarbeiten und vorhandene Ressourcen
zu nutzen wissen. Und es braucht die Möglichkeit, dass die Gemeinschaften selbst
an der Planung ihrer Gesundheitseinrichtungen mitarbeiten können.
Weshalb ist vieles, das in der Deklaration von Alma Ata angelegt war, Papier
geblieben? Vielleicht kam die Deklaration zum falschen Zeitpunkt. 1979 wurde
Margaret Thatcher britische Premierministerin und ein Jahr später Ronald Reagan
amerikanischer Präsident. Der politische Wind kehrte, ökonomische und neoliberale
Ideen dominierten die Szene. Das Primary Health Care Konzept galt in diesen
Kreisen als wenig effizient und effektiv. Angeführt von der Weltbank stellten
sie dem ein Konzept gegenüber, in welchem sich internationale Gesundheitszusammenarbeit
auf die Bekämpfung einiger ausgewählter Krankheiten konzentrieren sollte. Dieser
selektive Ansatz (Selective Primary Health Care, SPHC) popagierte Krankheitsbekämpfungsprogramme
die von Experten ohne Partizipation der betroffenen Menschen durchgeführt werden
sollte.
In den 90er Jahren führten von der Weltbank verordnete Sparmassnahmen in afrikanischen
Entwicklungsländern dazu, dass Privatisierungen auch im Gesundheitswesen vorangetrieben
wurden. In einigen Ländern entstand ein freier Markt, der sich auf den Verkauf
von Medikamenten konzentrierte. Qualität war hier nicht gefragt: Da viele Menschen
keinen erschwinglichen Zugang mehr zu anderweitigen Gesundheitseinrichtungen
mehr hatten, wurden Medikamente ohne medizinische Konsultation zum Teil auf
der Strasse verkauft.
Wie präsentiert sich die Situation heute, sieben Jahre bevor die Milleniumsziele
erreicht sein sollten, die eine Halbierung der Armut weltweit fordern? In der
internationalen Gesundheitszusammenarbeit sind neue Akteure präsent. Im Sinne
von Public-Private-Partnership Programmen engagieren sich grosse Stiftungen
wie die Bill und Melinda Gates Foundation oder der Global Fund to Fight Aids,
Malaria and Tuberculosis. Auch sie verfolgen im Grunde einen selektiven Einsatz.
Über diese verschiedenen globalen Initiativen werden grosse Summen staatlicher
Entwicklungshilfe abgewickelt. Es besteht die Gefahr, dass sie den bestehenden
Mangel an Fachleuten weiter verschärfen. Stephen Gillam schrieb kürzlich im
British Medical Journal: „Global initiatives tackling priority diseases like
AIDS, tuberculosis and malaria may undermine broader health services through
duplication of effort, distortion of national health plans and budgets, and
particularly through diversion of scarce trained staff. Holistic care is often
neglected in favour of the technicalities of controlling disease. “
30 Jahre nach der Alma Ata Deklaration kann gesagt werden, dass die internationale
Gesundheitszusammenarbeit einen anderen Weg gegangen ist, als ihn die unterzeichnenden
Staaten eigentlich gewiesen haben. Die Interessen waren in diesen neoliberalen
Jahren offenbar anders gelagert und vor allem mächtiger. Die heutige Kritik
an der Entwicklungszusammenarbeit greift zu kurz. In der internationalen Gesundheitszusammenarbeit
hat genau der Ansatz nicht funktioniert, der von jenen vertreten wird, die jetzt
zu den lautesten Kritikern an der gesamten Entwicklungszusammenarbeit gehören.
*Martin Leschhorn Strebel ist Mitglied der Geschäftsleitung von Medicus Mundi Schweiz und betreut die Kolumne „Med in Switzerland“. Med in Switzerland
Quellen
From Alma Ata to the Global Fund: The History of International Health Policy.
Prepared by the Italian Global Health Watch. In: Social Medicine, Volume 3,
Number 1, 2008
Stephen Gillam: Ist he declaration of Alma Ata still relevant to primary health
care? In: British Medical Journal, 2008, 336, pp 536-538