Soziale Grundsicherung – Basis für Gesundheit im Alter. Ein Fallbeispiel aus dem ländlichen Tansania

Salz und Seife verhelfen zu neuer Würde

Von Stefan Hofmann

"Ohne die Rente wären wir längst tot", war in den ersten Jahren des Kwa Wazee-Rentenprogramms häufig zu hören. In manchen Fällen schien dies nicht einmal übertrieben: Anfang des Jahrtausends konnte im ländlichen Tansania zunehmend beobachtet werden, wie heftig die HIV/AIDS-Krise auch die ältesten Familienmitglieder betraf. Doch erst nachdem die Rolle alter Menschen bei der Versorgung von verwaisten Enkelkindern deutlich geworden war, begann sich der Fokus auch auf die generell prekäre Situation alter Menschen zu richten. Es zeigte sich dabei bald einmal, wie wenig bekannt war über ihre besondere Verletzlichkeit, über ihre Gesundheitssituation aber auch über ihre Leistungen und Potentiale. Entsprechend wurden die folgenden Jahre für Kwa Wazee auch zu einer Art andauernden Entdeckungsreise.

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Salz und Seife verhelfen zu neuer Würde

17.Mai 2016. Die obersten Vertreter der Muleba Distrikt Regierung in Tanzania treffen die Alten-Räte in drei verschiedenen Dörfern. Sie werden dabei auch konfrontiert mit Stapeln von Quittungen für Gesundheitsdienstleistungen, für die alte Menschen eigentlich nicht bezahlen müssten. (Foto: Edmund Revelian / Kwa Wazee)

 

Dieser Artikel steht auch in englischer Version zur Verfügung.


Schutz gegen grösste Armut

2003 wurde Kwa Wazee, was auf Kisuaheli soviel heisst wie 'Für alte Menschen', mit dem Ziel gegründet, die äusserst prekäre Situation alter Menschen durch regelmässige Bargeldbeiträge zu lindern. Die Massnahme war damals noch unpopulär, der Betrag mit anfägnlich 4 US-$ pro Monat klein, die Anzahl der Unterstützten bescheiden, und doch zeigte sich die Wirkung so deutlich und so unmittelbar, dass das Programm in den folgenden Jahren kontinuierlich ausgebaut wurde.  In der Mehrzahl wurden zu Beginn Frauen aufgenommen, von denen rund die Hälfte für Enkelkinder sorgten.

Die 2007/8 durchgeführte Studie (Salz, Seife und Schuhe für die Schule, pdf) zur Wirkung der Kwa Wazee-Renten bestätigte und vertiefte die ersten Eindrücke und zeigte im quantitativen Teil, dass durch regelmässige Geldbeträge unterstützte alte Menschen in den meisten untersuchten Bereichen – Ernährung, Versorgung mit Grundprodukten, Krisenresistenz, psychologisches Wohlbefinden – signifikant besser abschnitten als die Kontrollgruppe, die keine Rente erhielt.

Rückkehr ins gesellschaftliche Netz

Wenn im qualitativen Teil der Studie Grossmütter nach den grössten Unterschieden gefragt wurden seit der Einführung der Renten, äusserten sie häufig als erstes, dass sie jetzt Salz und Seife kaufen konnten. Dies überraschte, weil die Ausgaben für diese Produkte bescheiden waren in einem Gesamtbudget, in welchem der allergrösste Teil für Lebensmittel ausgegeben wurde. Doch es zeigte sich bald, dass Salz und Seife Metaphern waren, das heisst im Falle von 'Salz' stellvertretend nicht nur für mehr Ernährungssicherheit, sondern auch für geschmackvolleres Essen und dafür, wieder 'dabei' zu sein im gesellschaftlichen Netz von Geben und Nehmen: auch einmal selber Salz ausleihen zu können, wenn's beim Nachbarn knapp ist. 'Seife' andererseits bedeutet nicht nur mehr Hygiene und Sauberkeit, sondern auch besseres soziales Eingebundensein, mehr Selbstwert, Selbstvertrauen und Würde.

Rententag in Nshamba. Einmal im Monat treffen sich Rentnerinnen und Rentner zum Abholen ihrer Rente von 15'000 Tsh – etwas weniger als 7 Franken. Der Betrag ist bedeutend, für viele ist es die Hälfte oder mehr des gesamten Bareinkommens. (Foto: Christoph Gödan / Kwa Wazee)

 

Im Gesundheitssystem sind alte Menschen nicht vorgesehen

Komplexer waren die Ergebnisse im Bereich Gesundheit. In den Gruppengesprächen wurde die bessere Gesundheit zwar oft erwähnt, doch trotz besserer Ernährung, besserer Hygiene, besserer psychischer Verfassung gaben fast 70 Prozent an, häufig oder permanent an Krankheiten zu leiden. Im Vergleich war bei den RentenbezügerInnen immerhin jene Gruppe deutlich kleiner, die sich als fast immer krank bezeichneten.

Es zeigte sich auch, dass der Zugang mittelloser alter Menschen zu Gesundheitseinrichtungen – entgegen den geltenden Rechten – nicht gewährleistet war. Keiner der Befragten gab an, in der Vergangenheit kostenlos behandelt worden zu sein. Hingegen wurden viele Beispiele angeführt wie alte Menschen in den Spitälern abgewimmelt wurden. Nicht selten hörten wir Aussagen: "Wenn ich krank bin, bleibt mir meist nichts anderes als mich hinzulegen und zu hoffen, dass es vorbeigeht." 

Kwa Wazee setzt auf Prävention und Selbstverteidigung

Als Folge dieser Erfahrungen und Erkenntnisse wurde in den folgenden Jahren von Kwa Wazee mit bescheidenen Mitteln ein Gesundheitsprogramm aufgebaut, welches auf folgende Elemente setzt:

  • Gegenseitige Hilfe in den Nachbarschaftsgruppen. Selbsthilfegruppen haben Tradition in Tansania, Gruppen ausschliesslich mit älteren Menschen waren hingegen kaum bekannt. In den rund siebzig 'Mutual support groups' stehen neben der gegenseitigen Unterstützung im Krankheitsfall Sammelsparen und Gruppeninvestitionen im Vordergrund.
  • Vorsorge. In den meisten Gruppen wirken einzelne Mitglieder als 'Gesundheits-Trainerinnen', die, von Kwa Wazee ausgebildet, mit der Gruppe Übungen praktizieren – zum Beispiel zur Stärkung von Rücken, Gelenken und Trittsicherheit. Auch andere Präventionsmassnahmen wie die Aufbereitung von sauberem Wasser oder der Gebrauch von Moskitonetzen – werden regelmässig thematisiert.

 

Altersturnen. Eine Gesundheitsassistentin übt mit den Mitgliedern ihrer Nachbarschaftsgruppe einfache Körperübungen, zur Stärkung der Muskulatur, zur Verbesserung der Beweglichkeit.  (Foto: Katja Busch / Kwa Wazee)

 

  • Selbstverteidigung und Selbstschutz. Im Anschluss an eine Serie von Übergriffen auf alte Frauen begann Kwa Wazee mit Workshops, in denen – wiederum in den Gruppen – einfache Techniken der Selbstverteidigung geübt werden. Die Übungen stärken Beweglichkeit und Körpertonus und vermitteln den Teilnehmenden das Vertrauen, einem allfälligen Angriff nicht wehrlos ausgeliefert zu sein.
  • Einforderung der Rechte alter Menschen im Gesundheitswesen. Verbesserter Zugang zu Gesundheitseinrichtungen. Obwohl Verbesserungen festgestellt werden können, bleibt die angemessene Behandlung alter Menschen in staatlichen Gesundheitseinrichtungen ein Dauerthema. Die Förderung von Alten-Räten, die Demonstrationen am Weltaltentag sowie regelmässige Besuche von Alten-Delegationen in Gesundheitseinrichtungen und beim Distrikt haben immer auch zum Ziel, den alten Menschen zugesicherte Rechte zum Durchbruch zu verhelfen. In Zusammenarbeit mit einer mobilen Augenklinik schafft Kwa Wazee alten Menschen in besonders abgelegenen Dörfern erstmals Zugang zu Augenbehandlungen. Die wiedergewonnene Sehkraft erhöht die Selbständigkeit alter Menschen entscheidend.
  • Mittragen von Gesundheitskosten. Versicherungssysteme wie der Community Health Fund haben sich in der Gegend für alte Menschen bisher noch nicht bewährt. Kwa Wazee beteiligt sich deshalb in beschränktem Umfang an gewissen Gesundheitskosten. Im Besonderen werden die Selbsthilfegruppen unterstützt, indem ihnen ein guter Teil der Gesundheits-Ausgaben für Gruppenmitglieder rückerstattet wird.

 

Eine Kwa Wazee Mitarbeiterin begleitet eine Patientin, die am Grauen Star operiert worden ist. Operationen haben sehr gute Erfolgschancen wenn auch die sachgemässe Nachbehandlung gewährleistet ist. (Foto: Kwa Wazee)

 

Im einem grösseren Rahmen können folgende Beobachtungen gemacht werden:

  • Gemäss der letzten Volkszählung von 2012 sind im Muleba Distrikt 3.8% der Bevölkerung 65 Jahre alt oder älter. Für die meisten von ihnen bleibt Krankheit ein existenzielles Armutsrisiko. Zu den Gesundheitskosten kommen Auslagen für Krankentransport und Verpflegung hinzu sowie vermindertes oder beendetes Subsistenzeinkommen. Ein minimaler Sozialschutz wie ihn eine Rente darstellt, bleibt nach den Erfahrungen von Kwa Wazee erster und wichtigster Baustein einer Gesundheitspolitik.
  • Während bei den klassischen Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS durch verbesserte Prävention und Behandlungsmöglichkeiten eine gewisse Entspannung festgestellt werden kann, treten chronische nicht übertragbare Krankheiten immer stärker in den Vordergrund. Vor zehn Jahren war von Bluthochdruck, Diabetes, von Krebserkrankungen oder Altersdemenz noch kaum die Rede gewesen. Nicht etwa weil diese nicht existierten, sondern weil sie in den meisten Fällen nicht diagnostiziert und auch nicht behandelt wurden. Weil der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung am Steigen ist, stellt diese Entwicklung für ein nationales Gesundheitssystem eine besondere Herausforderung dar.
  • Aus Sicht alter Menschen kann festgestellt werden, dass sich der kostengünstige oder kostenfreie Zugang zu Gesundheits-Dienstleistungen in den letzten Jahren zumindest spürbar verbessert hat. Die vielerorts in Alten-Räten organisierten Seniorinnen und Senioren sind zu einem Faktor einer Zivilgesellschaft geworden, die regional und national ernstgenommen werden muss.
  • Im Gebiet, das Kwa Wazee überblicken kann, hat sich das Risiko extremer Armut für alte Menschen in den vergangenen Jahren etwas reduziert. Dies mag mit dem Wirtschaftswachstum zusammenhängen und auch damit, dass die Folgen von HIV/AIDS weniger lasten. Die Anzahl der Enkelkinder, die von der Grosselterngeneration aufgezogen werden muss, hat beispielsweise deutlich abgenommen. Alte Menschen können auch wieder etwas vermehrt Unterstützung durch ihre eigenen Kinder erwarten. HIV/AIDS bleibt allerdings ein Thema. Bei Jugendlichen sind die Ansteckungsraten nach wie vor hoch. Alte Menschen sind zwar selten infisziert, doch wenn dies der Fall ist, leiden viele unter dem Stigma und versuchen die Erkrankung zu verheimlichen.
  • Ein Signal, von welchem man sich Tiefenwirkung erhofft: Sansibar, halbautonomer Teilstaat von Tansania, hat im Mai 2016 universelle Altersrenten eingeführt.

 

15. November 2016. Freude an einem historischer Tag. Alle im Dorf Ikondo lebenden alten Menschen ab 70 Jahren erhalten eine Sozialrente. Die erste 'Universal Pension' in Mainland Tanzania wird vom District Commissioner verteilt. (Foto: Edmund Revelian/ Kwa Wazee)

 

Pilotprogramm mit dem Fernziel Renten für all

Aufgrund der beschränkten finanziellen Mittel wurde im Rentenprogramm von Kwa Wazee von Beginn an und mit verschiedensten Ansätzen versucht, die Bedürftigsten unter den alten Menschen zu ermitteln. Dabei zeigte sich, dass in einem Kontext, in welchem der grösste Teil der älteren Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, eine Auswahl nur sehr unbefriedigend zu lösen ist und immer auch Ausgrenzung bedeutet. Seit Jahren ist allen Beteiligten bewusst, dass ein nationales Sozialrenten-Programm alle erreichen müsste – wie bei uns die AHV. Nicht zuletzt, weil sozialer Schutz im Alter damit als Recht und nicht als Privileg wahrgenommen wird.

In diesem November startet Kwa Wazee in Absprache mit dem Distrikt in zwei Dörfern ein Pilotprogramm, in welchem alle alten Menschen über 70 Jahren eine Rente erhalten werden. Insgesamt sind dies etwa 180 Frauen und Männer. Vom Versuch verspricht sich Kwa Wazee viele Erfahrungen und Erkenntnisse über Prozesse und Verfahren im Kleinen. Besonderes Interesse gilt auch den Dorfkomitees, die – gewählt von den RentnerInnen – das Rentenprogramm umsetzen werden.

Im Rahmen des Monitorings durch Kwa Wazee wird es auch möglich sein, Rückmeldungen zu Gesundheitsfragen der gesamten ältesten Bevölkerung zu erhalten. Zum Beispiel, welche Krankheitsbefunde ihnen bekannt sind und wie sie behandelt werden.

 

KWA WAZEE

KWA WAZEE wurde 2003 von Dr. Kurt Madörin, einem Entwicklungsexperten, der lange für terre des hommes schweiz gearbeitet hatte, iniitiert und zusammen mit einem kleinen lokalen Team aufgebaut. In der Schweiz entstand gleichzeitig der Verein Kwa Wazee für Mittelbeschaffung und Öffentlichkeitsarbeit. 2016 erhalten rund 1'100 alte Menschen eine Rente und zusätzlich Kindergeld, falls sie Hauptversorgende sind von Enkelkindern. Die Cash-Transfers werden begleitet von den Programmen zur Förderung von Selbsthilfegruppen, zur Stärkung von Gesundheit und Sicherheit sowie Advocacy. Zusätzliche Programme konzentrieren sich auf die Stärkung vor Kindern und Jugendlichen.

Zusammenfassung der Studie: Salz, Seife und Schuhe für die Schule (2008): http://www.kwawazee.ch/application/files/5914/4304/6613/Salz_Seife_und_Schuhe_fuer_die_Schule.pdf

 

Stefan Hofmann
Stefan Hofmann ist Gründungsmitglied von Kwa Wazee Schweiz und führt die Geschäfte des Vereins. Als Koordinator und Mitautor war er auch an den erwähnten Studien zur Programmarbeit von Kwa Wazee beteiligt.