Perspektivenwechsel

Arbeit - Bedrohung oder Quelle der Gesundheit?

Von Ueli Kraft

Die Beziehung von Arbeit und Gesundheit ist uns vor allem aus einer Perspektive vertraut: Belastende Arbeitstätigkeiten und -bedingungen können unsere Gesundheit beeinträchtigen und Krankheiten verursachen. Die Diskussion krankt aber verbreitet an einem eingeschränkten Blickwinkel: Zum einen wird Arbeit hauptsächlich von ihrem gesundheitsschädigenden Potential her betrachtet, zum andern liegt oft ein wenig reflektiertes Verständnis von Gesundheit vor, das einseitig nach Ursachen von Krankheiten sucht. Spätestens seit den Befunden einer massiven Bedrohung der Gesundheit durch den Skandal der Arbeitslosigkeit stellen sich neue Fragen: Was erhält Menschen eigentlich gesund? Welches sind sozusagen "Ressourcen" von Gesundheit? Und: Gehört zu diesen Ressourcen nicht auch unsere tägliche Arbeit?

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Wer arbeitet, kennt die beiden Seiten: Arbeit kann bereicherndes Tun sein, das unserem Leben Sinn gibt - sie kann aber auch eine Last sein. Den Aspekt der Sinnstiftung hat der Schriftsteller Ludwig Hohl auf den Punkt gebracht: Er nennt Arbeiten ein eigenes Tun, zu dem uns nicht fremde, äussere, sondern innere Gewalten nötigen, »das einzige, was Leben gibt, was retten kann« (1944). Und Max Frisch formuliert: »Erst in Zeiten, wo die Arbeit uns wieder verlassen hat, zeigt es sich deutlicher, warum man, wenn irgend es geht, überhaupt arbeitet; es ist das einzige, was uns am Morgen, wenn man jäh und wehrlos erwacht, vor dem Schrecken bewahrt; was uns in dem Labyrinth, das uns umgibt, weitergehen lässt; es ist der Faden der Ariadne.« (1950). Hier wird Arbeit als eigentlichste Lebensäusserung verstanden, als Verwirklichung und Weiterentwicklung des Menschen - ausgeprägt in der Form einer meditativen Versenkung in eine Tätigkeit, das selbstbestimmte und zugleich selbstvergessene Einswerden mit ihr und der Welt, wie wir es aus dem Umfeld etwa des Zen-Buddhismus kennen. Aber auch unsere Kultur liefert entsprechende Beispiele: Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen bewahrt Bilder und Gerüche einer Sattlerwerkstatt im Dorf meiner Grosseltern: die offene Tür zur Werkstatt, der kleine Bach vor dem Haus, auf der Schwelle spielende Kinder, der gottesfürchtige Mann bei seiner Arbeit, ruhig und stetig. Diese Verschränkung von Arbeiten, Leben und Wohnen gerät uns natürlich leicht zur Idylle. Die Idealisierung solchen Arbeitens ist aber Symptom, sie kennzeichnet insbesondere auch "Aussteiger", die in "Alternativbetrieben" wirklich vieles auf sich nehmen, um selbstbestimmt arbeiten zu können.

Diesem Ideal gegenüber liegt ein durch Fremdbestimmung und Zwang geprägtes Arbeiten. Für die extremste Form mögen die Pyramiden, die Grosse Mauer in China, Kanäle und Bahnlinien in Sibirien stehen. Sie wurden nicht von Despoten erbaut, sondern von Heeren von Sklaven, Verurteilten oder Unterdrückten, die bis zum Umfallen schuften mussten. »Arbeit macht frei« stand als zynisches Memento über dem Eingangstor von Auschwitz. - Aber auch die Gegenwart kennt genügend Beispiele: Die Arbeiter in den Minen Südafrikas, auf den Plantagen Mittel- und Südamerikas, zeitweise auch die Emigranten auf den Baustellen Europas riskieren - fern von ihren Familien - nach wie vor ihre Gesundheit in Arbeitsverhältnissen, die nur jemand eingeht, den die nackte Not dazu zwingt. Solche Gegebenheiten sind verbunden mit der Leistungsgesellschaft, die die Arbeit nach Macht und Besitz organisiert. Im Zuge der Industrialisierung haben sich die seit jeher bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Herrschenden und Untertanen in solche zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewandelt. Und aus dem »liberté, égalité, fraternité«, das noch heute die französischen Münzen ziert, hat die bürgerliche Gesellschaft ein "freie Bahn dem Tüchtigen" gemacht - im so genannten "freien" Markt fressen die Stärkeren die Schwächeren nicht nur gnadenlos, sondern auch noch in der Überzeugung eigener Tüchtigkeit. Und wer arm ist, ist selber schuld, dass er schweisstreibende Arbeit verrichten muss. Die Fremdbestimmung in der Arbeit, die Trennung von Kopf und Hand erfährt heute durch die zunehmende Überführung menschlichen "Produktionswissens" in die Maschinen eine neue Blüte. Und vielerorts steckt hinter diesen Bemühungen die technokratische Vision menschenentleerter Produktionshallen.

Wo unsere Arbeit auf der Achse zwischen selbstbestimmtem Wollen und fremdbestimmtem Sollen zu liegen kommt, hängt unter den gegenwärtig gegebenen Verhältnissen von verschiedenen Faktoren ab - von unserer sozialen Herkunft, vom Geschlecht, vom Bildungsstand, von der Wirtschaftslage, von regionalen Besonderheiten des Arbeitsmarktes. Schon bei der Berufswahl steht dem Versprechen einer Selbstverwirklichung im Beruf der zeitweilig barsche Wind der Arbeitswelt gegenüber, die Zuweisungen nach ihren Bedürfnissen vornimmt. Die Rollen, die angeboten werden, werden von den einen bewusst und gerne gewählt, von anderen unter Zwängen und nur zögernd "geschluckt". Und: Die einen können ihre Arbeit als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität verstehen, den anderen bleibt sie fremd und äusserlich.

Gesundheit: Zustand oder Prozess?

Unser Alltagsverständnis von Gesundheit orientiert sich zwar weitgehend an der Abwesenheit von Krankheitssymptomen, schliesst aber über soziales und psychisches Befinden die Ahnung ein, dass die Sache etwas komplizierter sein dürfte - eine Einsicht, die auch in der Wissenschaft langsam Fuss fasst. Die ursprünglich unterschiedlichen Zugänge der Medizin, der Biologie und der Psychologie verdichten sich seit einigen Jahren zu einer "ökologischen" Sichtweise, die das technokratische Denken vieler Schulmediziner zu relativieren versucht. Der Grundgedanke liegt darin, dass wir potentiell krankmachenden Belastungen der physikalischen, biologischen und sozialen Umwelt eigentlich dauernd ausgesetzt sind, und es stellt sich die Frage, wie und womit wir diesen begegnen können. Es handelt sich nach diesem Verständnis um ein - gelingendes und misslingendes - Wechselspiel zwischen den die Gesundheit bedrohenden Faktoren und Schutzmechanismen. Gesundheit ist damit nicht einfach da, sie muss von uns sozusagen immer wieder hergestellt werden.

Wo wir Gesundheit nicht mehr lediglich körperlich verstehen, müssen wir nach den verschiedenen Faktoren fragen, die uns helfen, gesund zu bleiben oder unsere Gesundheit wieder zu erlangen. Solche Ressourcen liegen in der Umwelt - Stichworte: saubere Luft, Wohnsituation -, in unserem eigenen Gesundheitsverhalten - Stichworte: gesunde Ernährung, Vermeidung oder Reduzierung potentiell schädigender Genussmittel und ausreichende Bewegung. Sie liegen in der Arbeit, sofern uns diese von der Sache und von der sozialen Seite her "etwas bringt"; sie liegen in uns selber, wo wir - basierend auf unserem Selbstwertgefühl und einer positiven Haltung dem Leben, den anderen Menschen, unseren Gefühlen und unserer Arbeit gegenüber - sinnvolle Strategien im Umgang mit Belastungen verfügen oder solche entwickeln können; sie liegen in den sozialen Beziehungen in der Familie, unter Bekannten und am Arbeitsplatz, wo wir auf Verständnis und Unterstützung treffen können.

Die in uns liegenden persönlichen und die sozialen Ressourcen können zusammenfassend als psychosoziales Immunsystem verstanden werden, das eng mit dem biochemischen System "zusammenarbeitet". Wer einen Raubbau an diesen Ressourcen begeht - etwa indem Beziehungen zur Lebenspartnerin oder zum Lebenspartner nur "ausgebeutet" und nicht gepflegt werden -, schädigt sich über kurz oder lang selber, indem wesentliche Bestandteile des so verstandenen Immunsystems geschwächt werden.

Arbeit: Belastung oder Ressource von Gesundheit?

Obwohl wir in der Schweiz eine der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartungen haben, sind offenbar die wenigsten Menschen in einem umfassenden Sinne gesund. Die Prämien der Krankenkassen steigen und steigen; Hausärztinnen und Hausärzte sehen sich zunehmend mit psychosomatischen Störungen konfrontiert - die Psyche macht sozusagen nicht mehr mit und sucht sich in der physischen Erkrankung ein gesellschaftlich anerkanntes Mittel zur Entlastung. Das ständige Getrieben-Sein in unserer Leistungsgesellschaft zeigt mannigfache physische, psychische und soziale Folgen - wir nennen einen Teil davon Ziviliationskrankheiten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebsleiden oder Allergien aller Art sind physische Signale dafür, dass unsere Abwehr überlastet wird; Abhängigkeiten von Genussmitteln, Drogen und Medikamenten Zeichen von untauglichen Versuchen, mit dem subjektiv als massiv erlebten Druck fertig zu werden. Eine Sinnkrise spiegelt sich in Selbstmordraten und in der Raserei auf den Strassen. Der Boom pseudo-psychotherapeutischer Angebote ist ebenso Symptom wie die rasant steigenden Umsätze mit esoterischen Schriften und Gerätschaften. Immer mehr Menschen leiden unter Depressionen, sind einsam, fühlen sich bedroht, haben Angst. Das gehetzte Funktionieren in einer technokratischen Welt geht offenbar einher mit einer emotionalen und sozialen Verkümmerung, auf Kosten von Lebendigkeit und Gelassenheit.

Nun wäre es etwas gar plump, die Produktionsverhältnisse der Wirtschaft pauschal zur allein Schuldigen zu stempeln. Aber wir können uns fragen, welche Vorkehrungen in den Betrieben getroffen werden könnten, damit nicht lediglich negative Auswirkungen der Arbeit vermieden, sondern positive gefördert werden. Die Arbeitspsychologie hätte auf beiden Seiten einiges zu bieten.

Eine lange Tradition hat die Forschung zur Belastungsvermeidung, die das Phänomen Stress mittlerweile sehr gut versteht: Wo in der Arbeitswelt Planung, Ausführung und Kontrolle einer Tätigkeit auseinandergerissen worden sind, wo in ausgeklügelten Hierarchien der eine über den anderen verfügt, wo einzelne vereinzelt "gegen" fremdgesetzte Termine kämpfen, sind Voraussetzungen zur Entstehung von Gefühlen eines Kontrollverlustes und von Ohnmacht gegeben - unabhängig von der Persönlichkeit der Arbeitenden selbst. Als spezifische Stressfaktoren können verschiedenste Merkmale der täglichen Arbeit in Betracht kommen. Ähnlich der Formulierung des Paracelsus, wonach ein jedes Ding - je nach Dosierung - Gift oder nicht Gift ist, kann ein Zuviel einzelner oder mehrerer Belastungsaspekte Stress auslösen: Alleinsein kann sehr angenehm, Isolation hingegen sehr belastend sein. Kontakt mit Menschen zu haben, entspricht einem verbreiteten Bedürfnis, anderen nicht mehr ausweichen zu können, kann Stressreaktionen provozieren. Zeitdruck kann als Herausforderung wirken, wo wir auf die entsprechenden Faktoren keinen Einfluss haben, kann er uns lähmen. Zuwenig Bewegung ist so ungünstig wie zuviel körperliche Belastung, Unterforderung so schlecht wie klare Überforderung. Das je günstige oder erträgliche Mass variiert natürlich - wir Menschen sind halt verschieden. Die allgemein ungünstigen gesundheitlichen Auswirkungen solcher Belastungen in Kombination mit geringen bis fehlenden Kontrollmöglichkeiten sind durch die Forschung aber hinreichend belegt. Die Arbeitspsychologie hat auf solche Ergebnisse mit Versuchen geantwortet, auf die Gestaltung von einzelnen Arbeitsaufgaben und ganzen Organisationen einzuwirken. Vielerorts hat dies auch bewirkt, dass solche Belastungen allgemein reduziert worden sind - ganze Berufsgruppen oder bestimmte Funktionen leiden aber nach wie vor darunter, dass hohen Anforderungen mittels geringsten Spielräumen und Entscheidungsbefugnissen genügt werden soll.

Die Möglichkeiten einer Gesundheitsförderung durch die Betriebe erschöpfen sich nicht in gutgemeinten Aktionen wie Gymnastik vor den Bildschirmen. Nach dem oben skizzierten Verständnis von Arbeit hätten Arbeitspsychologie und Betriebe Möglichkeiten, die aus ihren eigentlichen Feldern stammen und die so neu gar nicht sind. Konzepte zur Motivationsförderung, zur persönlichkeitsförderlichen Gestaltung von Arbeitstätigkeiten und zur Förderung eines sozial unterstützenden Arbeitsklimas können auch als Konzepte zur Erhaltung der Gesundheit verstanden werden. Die Arbeit birgt in sich ja auch das Versprechen, dass wir davon etwas haben könnten: Befriedigung, Selbstbestätigung, Anregung zur Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit. Arbeit kann dann Ressource sein, wenn sie unseren Fähigkeiten entspricht und diese auch steigert, wenn sie sozusagen "ganzheitlich" ist, das heisst, wenn wir selber planen, ausführen und kontrollieren können, wenn wir Entscheidungen selber treffen oder mitbestimmen können, wenn wir mit anderen Menschen kooperieren können - die aufgezählten Punkte entsprechen alten Forderungen der Arbeitspsychologie. Solche Arbeit "schütteln wir nicht aus dem Ärmel", sie fordert uns heraus und strengt auch an. Aus der Motivationsforschung wissen wir, dass so erbrachte Leistungen uns - direkt über die Sache selbst und indirekt über soziale Anerkennung - belohnen, unser Selbstwertgefühl stützen und steigern.

Wir sehen also: Fremdbestimmte, uns "äusserlich" bleibende Arbeit kann zwar so gestaltet werden, dass die damit verbundenen Belastungen erträglich bleiben und zu keinen Beschwerden führen. Viele Menschen haben sich in derartigen Arbeitsverhältnissen arrangiert und geben sich damit auch leidlich zufrieden. Damit Arbeit aber auch Ressource von physischer, psychischer und sozialer Gesundheit und von wirklichem Wohlbefinden sein kann, muss mehr gegeben sein: Zum einen Möglichkeiten, die Arbeitssituation nach eigenen Vorstellungen zu beeinflussen - formulieren wir es ruhig als Selbst- oder Mitbestimmung über Ziele und Wege; zum anderen soziale Unterstützung - sei es in Form direkter Hilfen oder als emotionale Stütze. Erst dann kann sie das werden, was sie potentiell sein kann: Ansatzpunkt persönlicher Entwicklung, zentrale Stütze unserer Identität, Sinnstiftung in unserem Leben, der Faden der Ariadne...

Arbeit zur Ressource machen!

  • Arbeit ist nicht an sich beglückend oder mühsam. Was und wie wir arbeiten, ist durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse in mehr oder minder grossem Masse mitgeprägt. Selbstverwirklichung und Fremdbestimmung stehen zwar als Endpunkte einer Skala, beide sind aber in unterschiedlichsten Kombinationen miteinander verschränkt und bilden ein Spannungsfeld, dem die meisten von uns ausgesetzt sind. Wo die verfügbaren Berufsrollen mit unseren Interessen vereinbar sind, kann die Arbeit sinnstiftend wirken und unser Selbstvertrauen stärken. Wo diese auseinanderklaffen, kann sie fremd bleiben und äusserlich.
  • Gesundheit ist eine Leistung des ganzheitlich verstandenen Organismus: Wir sind dauernd Belastungen der physikalischen, biologischen und sozialen Umwelt ausgesetzt, die potentiell krank machen können. Diesen Belastungen begegnen wir aber mit Hilfe von Ressourcen, die in uns selber, in sozialen Beziehungen, in unserer Arbeit und unserer Umwelt liegen. Solange das biochemische und psychosoziale Immunsystem dieses Gleichgewicht aufrecht erhalten kann, stellen wir Gesundheit also immer wieder her. Wenn dies nicht mehr gelingt, werden wir krank.
  • Unsere Arbeit kann unsere Gesundheit belasten oder fördern. Wo sie uns entfremdet wird, unsere Bedürfnisse nicht befriedigt, uns auslaugt und subjektiv als nicht mehr zum eigentlichen Leben gehörig empfunden wird, fehlt sie nicht nur als wichtige Ressource, sondern belastet unseren Organismus. Wo wir unter geringen Entscheidungsbefugnissen hohen Anforderungen genügen sollen, drohen Gefühle von Überforderung und Kontrollverlust, die zu Stressreaktionen mit potentiell ernsthaften Folgen für die Gesundheit führen können. Arbeit wird dann zur Ressource, wenn sie uns anregt, bestätigt, herausfordert und uns in diesem Sinne beweglich und "lebendig" erhält. Eine sinnstiftende Arbeit trägt nicht nur zu körperlichem, sozialem und psychischem Wohlbefinden bei; sie festigt auch unsere Identität - was uns wiederum hilft, Belastungen zu bewältigen und gesund zu bleiben.

*Ueli Kraft, 1951, Psychologe, Dr. phil. Langjährige Forschungstätigkeit zu Fragen der Berufsbildung (Uni Zürich) und der Arbeitspsychologie (ETH Zürich). 1994-96 Studienleiter am Schweizerischen Institut für Berufspädagogik. Gegenwärtig: selbständige Tätigkeit in der Schulung von Lehrenden in Betrieben, Lehrwerkstätten und Berufsschulen.