Allmacht, Ohnmacht, was sonst?

Gesund bleiben im Umgang mit Krankheit

Von Ursula Walter

Wie können sich die Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, auf die Konflikte und Leiden, mit denen sie zu tun haben, einlassen und dabei gesund bleiben? Dazu zwei ermutigende Beispiele und einige grundsätzliche Überlegungen zur Gefährdung und Erhaltung der Gesundheit im Umgang mit Krankheit.

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Wir leben in einer Zeit, in der von erneuerbaren und von nicht erneuerbaren Ressourcen gesprochen wird. Sind Menschen Dinge, die “vom Leben” ausgenützt werden, solange sie eine bestimmte Funktion erfüllen, bis sie nichts mehr hergeben und dann, wenn sie unproduktiv geworden sind, mehr oder weniger nett entlassen und besorgt oder entsorgt werden? Oder sind und bleiben Menschen Menschen, die ihr Leben in ihrem jeweiligen Kontext leben? Diese Frage gilt für PatientInnen und Betreuende.

Wie sind lebendige, gesundheitserhaltende Bedingungen im Gesundheitswesen zu schaffen? - Es könnte darum gehen, dass das Menschsein von Betreuenden und PatientInnen vorgesehen ist und im System einen adäquaten Platz findet. Zunächst zwei Beispiele, die in dieser Richtung gehen, dann etwas Theorie dazu.

Belastungen sichtbar machen - ein Beispiel aus Mexiko

Wie schon oft finde ich zunächst eine Antwort im Süden: Dort wird vielfach mit weniger Mitteln klarer und konsequenter gedacht als in unserer, auch ideologischer Überflussgesellschaft.

Leticia Cufré, Psychologin, Psychoanalytikerin in Xalapa, Veracuz, Mexiko ist spezialisiert in Gemeinschaftsfragen, psychologia collectiva, wofür wir im Deutschen nicht einmal ein anständiges Wort kennen. Mit einem Team von drei PsychologInnen und einer Soziologin hat sie 1994 bis 1996 ein Dreijahresprojekt (1) entwickelt und durchgeführt, um die psychische Grundversorgung in die staatliche Gesundheitsversorgung der Stadt Xalapa einzuführen. Das Gesundheitsministerium stellte die Räume zur Verfügung, und das gesamte staatliche Gesundheitspersonal aller Stufen im zentralen Spital und in den Ambulatorien in den armen Vorstädten konnte innerhalb der Arbeitszeit an den Gesprächen und Kursen teilnehmen. Leticia Cufré arbeitet mit dem grundsätzlichen Ansatz der "participacion" (Beteiligung) und methodisch mit "integrierter Forschung und Praxis".

Die Professionellen des Gesundheitsdepartements wurden zuerst aufgefordert, ihr Wohlbefinden im Bezug auf ihre eigene Gesundheit und ihre Arbeitssituation mit Fragebogen einzuordnen. In Gruppengesprächen wurden die Ergebnisse im Hinblick auf die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung besprochen. Im Weiteren wurde ihr Wissen und ihre Wertung zu sexuellen und sozialen Fragen formulierbar gemacht und dann an deren Bedeutung gearbeitet.

Im Bezug auf psychische Belastungen kam ein “Auto-Diagnostico” Modell zum Einsatz. Konkret arbeitet das Team von Leticia Cufré mit einer überarbeiteten Serie von 30 Zeichnungen (2), welche typische Belastungssymptome zeigen. Nur wenn innere und äussere Belastungen formuliert, gedacht und damit objektiviert werden, sind sie einer bewussten Bearbeitung zugänglich. Im Reden und Austausch mit andern kann vermieden werden, dass die äusseren Belastungen verinnerlicht werden. So kann auch besser unterschieden werden, welcher Anteil eines Geschehen in wessen Kompetenz gehört.

Die Auseinandersetzung der Gesundheitsprofessionellen mit diesem Instrument brachte sie zunächst in Kontakt mit ihren eigenen Belastungen und dem aktuellen und potentiellen Umgang damit. Derselbe Zugang wurde dann auch auf der Ebene der PatientInnen angeboten. Diese sollten über ihre körperlichen Symptome hinaus auf ihr seelisches und soziales Wohlbefinden hin wahrgenommen und angesprochen werden.

Die wöchentlichen Kurse zur Weiterbildung des Personals der Gesundheitsdienste mit Wissensvermittlung über die Zusammenhänge zwischen körperlichen Leiden und psychischen und sozialen Belastungen wurden regelmässig besucht und geschätzt. Zudem konnten die MitarbeiterInnen in Balintgruppen (fallbezogene Arbeit unter Einbezug der eigenen Reaktionen auf Probleme der PatientInnen) erfahren, wie sich dieser erweiterte Zugang auf die PatientInnen und auf sie selbst auswirkte. Ziel für die Pflegenden wie für die PatientInnen ist es, den emotionalen Zuständen weniger hilflos ausgeliefert zu sein, sondern damit arbeiten zu können. Dies ergibt eine “win-win” Situation, eine realistischere und befriedigendere Kompetenz für die Pflegenden und ein Gewinn an Kohärenzgefühl für die PatientInnen. Die lebendige eigene Beteiligung am Geschehen verhindert bei den PatientInnen und den Betreuenden die selbstzerstörerische Entfremdung.

“Wer bin ich?” - ein Beispiel aus der Schweiz

Im Bezirksspital Affoltern am Albis arbeiten alle, vom Hilfspersonal bis zum Chefarzt, nach dem Prinzip der “Menschenmedizin” (3). Christian Hess (Chefarzt) und Annina Hess-Cabalzar (Psychotherapeutin) haben in diesem öffentlichen Spital einen eigenen Ansatz entwickelt, damit der Krankenhausaufenthalt nicht nur zur technischen Reparatur genutzt wird, sondern auch als “time out” zur Begegnung der PatientInnen mit sich selbst: Wer bin ich, und was begegnet mir jetzt im Moment meiner Krankheit, meines Unfalls, meines Sterbens?

Alle Mitarbeitenden sind diesem Zugang verpflichtet, und das setzt voraus, dass sie auch für sich die Erfahrung von Kompetenz, Grenze und Sinnfragen zulassen und daran arbeiten. Entsprechende Fallbesprechungen, mehrere angestellte PsychotherapeutInnen, Begleitung durch einen Philosophen und eine Ethikerin gehören zum Betrieb. Die Evaluation zeigt: Die MitarbeiterInnen dieses Spitals sind durch den näheren Kontakt mit den existenziellen Fragen der PatientInnen nicht noch zusätzlich gestresst und überfordert, sondern viel klarer und bewusster beteiligt und auch abgegrenzt. Es gibt im Vergleich weniger Personalfluktuation – langfristig wäre eine Gesundheitsstatistik der Mitarbeitenden wichtig und interessant.

Was macht krank, was erhält gesund?

Medizinische Berufsleute sind speziell bedroht von dem, was heute “burn out” heisst: ausgebrannt, leer, nicht mehr in der Lage und bereit zu geben, mit dem Wunsch, endlich mal selbst was zu bekommen und voller Wut, dass der gewählte Weg nicht befriedigend ist. Im Gesundheitsbereich entstehen von der Rollenverteilung her leicht zwei Kategorien von Menschen: Bedürftige und Versorgende. Pflegende haben gewählt, zu den Versorgenden zu gehören. Nicht selten unbewusst auch, um eigene Bedürftigkeit im andern unterzubringen und dort zu pflegen oder zu bekämpfen. Schaffen sie das nicht, fühlen sie sich unzufrieden und schuldig. Sie selbst kommen auf die Dauer zu kurz, und auch ihre PatientInnen werden ungenügend in ihren je eigenen Situationen wahrgenommen und begleitet.

Das “Burn out” hat einen Anteil an vernachlässigter Realität in sich. Die eigene Belastungsfähigkeit wird strapaziert, die Überforderung kommt von aussen und vom eigenen Innern, und es ist nicht mehr klar, wohin die notwendige Gegenreaktion sich richten soll: gegen aussen, oder gegen innen, gegen sich selbst? Wenn sich die Zeichen des Konflikts zwischen “ich will ja alles leisten, das ihr von mir verlangt” und “ich kann ja gar nicht mehr, bin leer und erschöpft” im aggressiven oder depressiven Zusammenbruch zeigen, ist eine Besinnung über die eigene Position dringend.

Die Lösung? Nun, als Psychoanalytikerin kann ich mich da nur Rosa Luxemburg anschliessen, die in einem Zeitpunkt äusserer Machtlosigkeit formulierte: “Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer laut zu sagen, was ist”. Revolutionär heisst in unserm Zusammenhang: befreiend vom inneren Druck; der äussere genügt und soll nicht auch noch entfremdet, unter Verlust der eigenen Lebendigkeit neurotisch selbst gemacht werden.

Aaron Antonowsky spricht von Salutogenese (4) und sucht nach den Faktoren, welche Menschen gesund erhalten. Als umfassenden Faktor nennt er das Kohärenzgefühl, das sich zusammensetzt aus der Erwartung, das Leben sei verständlich oder könne verständlich werden, aus dem Zutrauen, eine Situation meistern zu können, und aus der Überzeugung, die Herausforderung des Lebens sei lohnend.

Bei PatientInnen sind diese drei Komponenten oft stark strapaziert. Mitarbeitende in Pflegeberufen sind mit Menschen und mit Situationen konfrontiert, bei denen die Verständlichkeit, die Machbarkeit und die Sinnfrage in grossem Aufruhr sind. Solche Krisensituationen sind ansteckend und belastend, vor allem wenn sie nur passiv erlitten werden und wenn die unbewussten Fragen, die darin liegen könnten, nicht erkannt und aufgenommen werden. Wie wird Interesse wach: Wer bist du? Was bedeutet deine Krankheit für dich? In welchem Kontext lebst du? Was erlebst du jetzt, was möchtest du? Was ist realistischerweise dein Anteil an deinem Schicksal, was nicht? Wie übernimmst du deinen Anteil? Mit diesem Interesse wird die Verständlichkeit, die Machbarkeit und die Sinnfrage bewusster zum Thema. Das mag helfen, aus dem magischen Hoffen auf Allmacht und dem Versinken in Hilflosigkeit und Ohnmacht, Wut und Schuldgefühl auszubrechen und die vielen Zwischenstufen, welche das Leben und Zusammenleben lebendig machen, zuzulassen.

*Ursula Walter, lic. phil., Psychoanalytikerin und Psychologin in Basel, arbeitet selbständig als Psychotherapeutin. In Basel war sie beteiligt am staatlichen Reformprojekt “Psychiatrie-Konzept”. Sie vermittelt in unterschiedlichem Kontext den Erfahrungsaustausch mit KollegInnen aus dem Süden. Kontakt: u.walt@bluewin.ch.

Anmerkungen:

  1. Unterlagen (spanisch) und Berichte (französisch) zu diesem Projekt, das Leticia Cufré mit Hilfe der Kommission für Entwicklungszusammenarbeit des Kantons Basel-Stadt durchgeführt hat, kann die Autorin Interessierten in Kopie abgeben.

  2. Diese Serie ist zu Handen der WHO entwickelt worden im Zusammenhang mit der Umsetzung der Erklärung von Alma Ata 1978 (siehe auch Bulletin Nr. 89) zum Einbezug der psychischen Gesundheit in die Grundversorgung.

  3. Annina und Christian Hess-Cabalzar, Menschenmedizin. Von der Vernunft der Vernetzung, Bericht über Hintergrund, Erfahrungen und Evaluation im Bezirksspital Affoltern a. A., R&R Sachbuchverlag, Zürich 2001.

  4. Aaron Antonowsky, Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Hrsg. v. Alexa Franke, DGVT-Verlag, 1997.