Reden ist Silber, zuhören ist Gold

Psychosoziale Faktoren der Unterernährung: Wie ein Team in Nepal lernte, damit umzugehen

Von Barbara Weyermann

Von den psychosozialen Faktoren, die die Ernährung eines Kindes beeinflussen,

Lesezeit 7 min.

In der Arbeit gegen die Unterernährung geht es immer wieder um die Vermittlung von Gesundheitswissen und um den Versuch, das Care-Verhalten von Familien zu verändern. In Nepal haben wir oft beobachtet, dass Gesundheitspersonal diese Aufgabe zu lösen versucht, indem es den KlientInnen nach einer kurzen Befragung Anweisungen erteilt. “Das Kind ist untergewichtig, geben sie ihm eine Mahlzeit mehr pro Tag”, heisst es dann oder: “Der Durchfall Ihres Kindes hat damit zu tun, dass das Trinkwasser nicht sauber ist. Kochen Sie das Wasser ab.” – Die AdressatInnen nicken dazu und machen weiter wie zuvor, denn ihr Verhalten hat meistens viele Gründe. Das fehlende Wissen ist nur einer davon.

Wenn wir wirklich daran interessiert sind, dass Familien die Versorgung ihrer Kinder verbessern, müssen wir uns stärker auf sie einlassen. Aus der Community Education wissen wir, dass Menschen neues Wissen dann integrieren können, wenn es für ihre ganz individuelle Situation relevant ist und ihnen hilft, mehr Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Dieser Lernprozess hat eine inhaltliche Ebene und eine Beziehungsebene: Nur wenn die Mitarbeiterin eines Projektes die unterschiedlichen Faktoren versteht, die Gesundheit und Ernährungszustand eines Kindes beeinflussen, kann sie die Situation richtig analysieren. Und nur wenn die Mutter eines untergewichtigen Kindes der Besucherin aus dem Ernährungsprojekt vertraut, wird sie ihr erzählen, was sie beunruhigt. Wenn die Beziehung gelingt, entsteht ein Raum in dem sie über Veränderungen reflektieren und neues Wissen aufnehmen kann.

Komplexe Faktoren ergründen – Schlüsselthemen benennen

Die Stiftung Terre des hommes wollte wissen, wie Projektmitarbeiterinnen so ausgebildet werden können, dass sie den Familien besser zuhören und Veränderungsprozesse fördern können. Im Rahmen einer Aktionsforschung in dem von der nepalesischen NGO Sagun durchgeführten Ernährungsprojekt für Kinder und schwangere Frauen in Kathmandu besuchten 22 Mitarbeiterinnen und Volontärinnen während vier Monaten regelmässig je eine Familie und berichteten der Projektleiterin und mir anschliessend über ihre Interaktion. Aufgrund dieser detaillierten Beschreibungen war es uns möglich, besser zu verstehen, weshalb über 30 Prozent der Kinder in Kathmandu unterernährt sind, und gleichzeitig Schlüsselthemen zu identifizieren, die die Beziehung zwischen den Hausbesucherinnen und den Familien definierten.

Dieses Vorgehen ermöglichte, die komplexe Verschränkung sozialer, ökonomischer und psychologischer Faktoren in den Familien unterernährter Kinder zu beobachten und zu analysieren. Eine Projektmitarbeiterin erkannte zum Beispiel, wie die ungenügende Versorgung des von ihr besuchten Kindes mit der Armut der Familie zu tun hatte, und dass die Armut wiederum in einem dialektischen Verhältnis stand zur sozialen Isolation und Depression der Mutter. In einem andern Fall begriff die Volontärin, dass die schwangere Nachbarin nicht nur nicht zur Vorsorgeuntersuchung ging, weil sie die arrogante Haltung der Krankenschwestern in der Klinik scheute, sondern auch weil sie ihre Schwangerschaft im Grunde ablehnte. Saguns Mitarbeiterinnen hatten bisher vor allem Kenntnisse über technische Ursachen von Mangel- und Unterernährung, so etwa über die erforderliche Quantität und Qualität der Nahrung, die Bedeutung von Hygiene und vieles mehr. Wie aber psychosoziale Faktoren den Ernährungszustand eines Kindes mit beeinflussen, hatten sie in ihrer Ausbildung zur Krankenschwester oder Ernährungsspezialistin nicht gelernt.

In vielen Familien, die wir im Verlauf unserer Aktionsforschung kennenlernten, fanden wir schwierige Familiendynamiken, manchmal depressive Mütter und öfters Mütter mit emotionalen Vorbehalten gegenüber ihrem Kind. Eine nepalesische Frau hat wenige Optionen, wenn sie von ihrem Ehemann oder den Schwiegereltern unter Druck gesetzt wird. Sich offen zu wehren, ist für eine Frau gesellschaftlich tabu.

Mina, Gita, Manju

Wohl ist Mutterschaft in Nepal zentral für Status und Identität einer Frau, aber oft sind die Umstände so schwierig, dass es ihr nicht gelingt, die Kinder positiv zu besetzen. Dies zu erkennen und zu akzeptieren, fiel den Besucherinnen nicht immer leicht. Die Ablehnung des Kindes verstösst gegen die Ideale der Mutterschaft und kann deshalb nur mit Mühe überhaupt ins Bewusstsein dringen. Zudem sind die Besucherinnen den gleichen sozialen Bedingungen ausgesetzt und ins gleiche Wertesystem eingebunden wie die Mütter, die sie beraten. Die Geschichten, die ihnen erzählt werden, können bei ihnen daher Betroffenheit und Angst auslösen. Die folgende Fallgeschichte illustriert diese komplexe Dynamik:

Mina Lama, die Frau eines Fahrers, lebte mit ihrer 18monatigen Tochter Gita sehr zurückgezogen und wich dem Kontakt mit ihren Nachbarinnen aus. Als Manju, eine Krankenschwester von Sagun, sie zum ersten Mal besuchte, schien Mina Lama erleichtert. Sie erzählte, wie hilflos sie sich fühlte, weil ihre Tochter seit ihrem dritten Monat fast ununterbrochen an Durchfall litt und oft das Essen, das sie ihr zubereitete, zurückwies. Eine medizinische Untersuchung hatte nur Hinweise auf eine unbedeutende Infektion ergeben. Danach hatte Mina das Kind nicht mehr zum Arzt gebracht, sondern mit Medikamenten aus der Apotheke selbst behandelt. Oft brachte sie Gita auch zum traditionellen Heiler. Doch keine dieser Behandlungen hatte das Kind gesund gemacht.

Beim ersten Besuch hörte Manju einfach zu und ermunterte die Mutter, Gita weiterhin regelmässig zu füttern und nicht aufzugeben. Als Manju eine Woche später wieder kam, berichtete die Mutter ganz glücklich, dass Gita kein einziges Mal Durchfall gehabt hatte. Doch der Erfolg hielt nicht an. In den folgenden Wochen hatte Gita erneut Durchfall, obwohl die Mutter alles richtig zu machen schien. Die Aufforderung, die Tochter noch einmal medizinisch abzuklären, befolgte Mina jedoch nicht. Manju war ratlos, aber setzte ihre Besuche fort, und Mina redete viel über sich und ihre Angst um das Kind. Dann besuchte sie zum ersten Mal, seit sie ihr Dorf vor vielen Jahren verlassen hatte, ihre Familie im Süden des Landes. Gita war während dieser Zeit gesund, doch sobald sie nach Kathmandu zurückkehrte, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand wieder.

Während dem sechsten Besuch erzählte Mina, dass sie vom Vater des Kindes vergewaltigt worden war und darauf keinen andern Weg gesehen hatte, ihre Ehre zu verteidigen, als ihn zu heiraten. Nachdem Manju uns davon berichtet hatte, erklärte sie, dass sie nun Mina nicht mehr besuchen wolle. Es gebe nichts mehr zu bereden. Wir halfen ihr zu verstehen, dass das, was Mina ihr erzählte, bei ihr verständlicherweise Angst und Scham ausgelöst hatte. Manju realisierte nun auch, dass die Mutter gegenüber ihrem Kind hochambivalente Gefühle haben musste, was den Gesundheitszustand des Kindes beeinflusste.

In der Folge war es Manju möglich, ihre Besuche fortzusetzen. Im Verlauf der nächsten Wochen wagte Mina erste Schritte aus ihrer Isolation. Sie entschloss sich, wieder Arbeit zu suchen und ihre Tochter in Saguns Krippe zu geben. Und sie brachte Gita zur medizinischen Abklärung, wo auch diesmal nur eine kleine Infektion festgestellt wurde. Doch zum ersten Mal fand sich Mina nunmehr bereit, die verschriebenen Antibiotika auch richtig zu verabreichen. - Weil ihr der Prozess mit Manju erlaubt hatte, die gemischten Gefühle gegenüber ihrer Tochter auszusprechen, musste Mina ihre Ambivalenz nicht mehr aushaltenn, sondern konnte das Kind besser versorgen. Gita hat seither an Gewicht zugelegt.

Dieser Prozess löste auch bei der Besucherin viel aus. Sie entdeckte die ihr aus ihrer Ausbildung zur Krankenschwester bisher nicht bekannte enge Verbindung zwischen der emotionalen Verfasstheit der Mutter und der Gesundheit des Kindes, und sie erlebte, dass eindrucksvolle Veränderungen möglich werden, wenn es gelingt, sich auf die Mutter wirklich einzulassen. Dies war ihr auch deshalb möglich, weil sie ihre Arbeit mit uns reflektieren konnte. Sonst hätte sie womöglich den Kontakt abgebrochen, als ihre Angst zu gross wurde.

Steine wegräumen

Anfänglich waren die meisten Besucherinnen, die sich an der Aktionsforschung beteiligten, nicht fähig, eine Vertrauensbeziehung zu den Müttern herzustellen. Manchmal zog sich eine Besucherin zurück, weil sie mit den starken Emotionen ihrer Gesprächspartnerin nicht umgehen konnte. Aber ebenso häufig behinderten andere Gründe die erforderliche Nähe zwischen der Gesundheitsberaterin und der Klientin:

  • Soziale Interaktionen werden in Nepal stark von den komplexen und rigiden Regeln des Kastensystems geprägt. So fällt es einer Hochkastigen oftmals echt schwer, nicht automatisch von oben herab und autoritär auf eine Tieferkastige zu reagieren. Die Hierarchisierung von Beziehungen ist so sehr Teil des sozialen Verhaltens, dass sie sich auch unter Gleichkastigen herstellt, begründet durch ökonomische Unterschiede oder den unterschiedlichen Wissensstand etwa einer Volontärin, die 12 Trainingssessions hinter sich hat, und einer Mutter, die entsprechend weniger ausgebildet ist.

  • Familien lebten in oft ausweglos scheinenden sozialen und ökonomischen Verhältnissen. Das löste bei den Besucherinnen Ohnmachtsgefühle aus. Sie wehrten diese ab, indem sie die Mütter bezichtigten, faul oder ungebildet und damit selbst daran schuld zu sein.

  • Weder Gesundheitspersonal noch Volontärinnen verfügten über die erforderlichen Kommunikationstechniken, um einen wirklichen Dialog mit den Familien herzustellen.

Mit regelmässiger Reflexion über ihre Schwierigkeiten und mit sporadischen, aber gezielten Trainingsinputs gelang es, die 22 Besucherinnen, die sich an dieser Untersuchung beteiligten, in nur vier Monaten mit einer neuen Denkweise vertraut zu machen und zu einer andern Arbeitsweise zu motivieren. Bereits gegen Ende der Aktionsforschung integrierten Saguns Mitarbeiterinnen ihre Erfahrungen in die Ausbildung neuer Volontärinnen. Statt wie bisher vor allem auf die Vermittlung ernährungstechnischen Wissens zu fokussieren, diskutierten sie nun ebenso ausführlich über den Einfluss von Familiendynamiken auf die Gesundheit des Kindes. Ausserdem erfanden sie Rollenspiele, um mit den angehenden Gesundheitspromotorinnen einzuüben, wie sie besser kommunizieren können. Den Beziehungsverlauf zwischen den Besucherinnen und den Familienmitgliedern wollen sie in regelmässigen Fallbesprechungen thematisieren. Dabei wird es auch immer wieder darum gehen, diesen Raum zu nützen, um über das Kastendenken und über das Geschlechterverhältnis zu reflektieren. Und darüber, wie die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Volontärinnen die Reaktion auf die besuchten Familien beeinflussen.

Damit Saguns Mitarbeiterinnen dies leisten können, brauchen sie in regelmässigen Abständen selbst Supervision und Weiterbildung, denn der Lernprozess verläuft für sie gleich wie für Volontärinnen und Mütter: das Benennen von Schwierigkeiten eröffnet die Suche nach Lösungen und ermöglicht, sich das dafür notwendige Wissen anzueignen.

*Barbara Weyermann war Delegierte für Terre des hommes in Nepal von 1998 bis 2002. 2003 hat sie im Auftrag von Terre des hommes eine Untersuchung über den Umgang von Projektmitarbeiterinnen mit dem psychosozialen Ansatz in Ernährungsprojekten durchgeführt. Zurzeit arbeitet Barbara Weyermann als Konsulentin im "Büro für psychosoziale Prozesse" der Internationalen Akademie an der FU Berlin. Kontakt: bweyermann@opsiconsult.com

Literatur: Barbara Weyermann, Unravelling Malnutrition. Challenges for a psychological approach to nutrition. Sept. 2003, Kathmandu, 150 p. - Die in einem Ernährungsprojekt in Nepal durchgeführte Aktionsforschung analysiert die Schwierigkeiten und Überforderung der GesundheitspromotorInnen bei ihrer Arbeit, betont die Bedeutung psychologischer Faktoren und Kompetenzen und zeigt einen Prozess des HRD auf. Siehe Beitrag in dieser Nummer. (Zu bestellen bei: Terre des Hommes, Michael Sidmann, En Budron C8, 1052 Le Mont-sur-Lausanne, msi@tdh.ch, 021/654 66 45)