Was darf ein Leben kosten?

Heikle Debatten im schweizerischen Gesundheitswesen: Nur Rationalisieren oder auch Rationieren?

Von Eva Nydegger

«Prioritäten» bei den Pflegeleistungen im Spital? Superteure Medikamente oder Untersuchungen für hochbetagte Patienten? Um die steigenden Kosten im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen, wird auch in der Schweiz über die Rationalisierung und sogar die Rationierung von medizinischen Leistungen nachgedacht. Und es besteht die Gefahr, dass dabei vor allem alte Menschen benachteiligt werden.

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Den Stein ins Rollen gebracht hatte eine Äusserung der Basler Gesundheitsdirektorin Veronica Schaller im Januar 1999 in der Fernsehsendung «10 vor 10». «Es wäre nicht richtig», einem hochbetagten, damals schwer kranken Patienten das sehr teure Blutgerinnungsmittel Novo Seven zu verabreichen, hatte die Regierungsrätin gesagt. Zwar wurde das 150 000 Franken teure Medikament aus medizinischen Gründen schliesslich nicht eingesetzt. Aber die öffentliche Diskussion um die Rationierung der Medizin war an diesem Extrembeispiel in Gang gekommen.

Rund viertausend Franken zahlt Herr oder Frau Schweizer im Jahr für die Gesundheit. Etwa zehn Prozent des Volkseinkommens fliessen ins Gesundheitswesen, was ungefähr im internationalen Rahmen liegt. Besorgniserregend ist die rasch fortschreitende Kostenentwicklung: Zwischen 1985 und 1997 haben sich die Ausgaben auf 38 Milliarden Franken verdoppelt. Noch mehr als wir bezahlen einzig die Amerikaner. Für viele Menschen in der Schweiz haben die Krankenkassenprämien die Schmerzgrenze erreicht.

Bundesrätin Ruth Dreifuss sieht trotzdem keinen Grund für eine Rationierung von medizinischen Leistungen. Sie befürwortet vielmehr weitere Schritte zur Rationalisierung: «Wir haben noch ein sehr grosses Sparpotenzial bei der Spitalplanung und der Beschränkung medizinischer Spitzenleistungen auf bestimmte Zentren», betonte sie kürzlich in einem Interview.

Rationalisieren und Rationieren

Rationalisieren ist nicht das Gleiche wie Rationieren: Rationalisierung ist die Erbringung einer medizinischen Leistung mit weniger Aufwand. Das Ziel der Rationalisierung ist es, Unnötiges abzuschaffen und die vorhandenen Mittel möglichst wirkungsvoll einzusetzen: Weniger unnötige Untersuchungen und wirkungslose Behandlungen, preisgünstigere Medikamente, effizientere Arbeitsabläufe in Spitälern. Rationalisierung wird heute vor allem mit der Arbeitsintensivierung betrieben, also durch Mehrleistungen des ärztlichen und des Pflegepersonals. Unter Rationierung versteht man den Verzicht auf an sich sinnvolle medizinische Leistungen aus finanziellen Gründen. Es geht hier nicht um überflüssige Behandlungen, sondern um die für eine bestimmte Person «zu teuren» oder «nicht mehr angemessenen» Leistungen – und letztlich um die Frage, was ein Leben kosten darf. Bei einer solchen Sichtweise besteht die Gefahr, dass gerade alte Menschen benachteiligt werden können – etwa mit der Rechtfertigung, dass sie eh schon hohe Kosten verursachen, da sie zum Beispiel öfters chronischkrank sind als jüngere.

Dass sich Bestrebungen zur Rationierung im Gesundheitsbereich rasch altersdiskriminierend auswirken können, wurde schon vielfach nachgewiesen. Deutsche und englische Untersuchungen über die Sterbekosten (das sind die Gesundheitsausgaben im letzten Lebensjahr) belegen, dass betagte Patienten weit weniger intensiv behandelt werden als jüngere. Für den Altersforscher Professor François Höpflinger ist das eine Diskriminierung aufgrund des Alters, die gemäss der geltenden Bundesverfassung in der Schweiz verboten wäre.

Im Bundesamt für Sozialversicherung, das die Leistungen in der Krankenkassen-Grundversicherung regelt, will man bisher von Rationierungsmassnahmen nichts wissen. Zwar wurde kürzlich zum ersten Mal bei einem medizinischen Eingriff eine Altersgrenze festgelegt, doch Pressesprecher Harald Sohns betont: «Das ist nur aus medizinischen Gründen geschehen.» Es geht dabei um operative Magenverkleinerungen bei Übergewichtigen, die bei über Sechzigjährigen nur noch wenig sinnvoll seien.

Gerechte Steuerung als Ziel

In der Schweiz gibt es im Unterschied etwa zu England sonst keine Leistungseinschränkungen für ältere Menschen. Die medizinisch sehr viel sparsameren Briten hingegen müssen damit leben, dass über 65-Jährige beispielsweise kein Anrecht mehr auf Nierendialysen haben, was faktisch den Tod bedeuten kann. Gemäss kürzlich veröffentlichten Aussagen von britischen Ärzten werden sogar viele alte Patienten in den Kliniken des Nationalen Gesundheitsdienstes nicht ausreichend mit Essen und Trinken versorgt.

In der Schweiz wird nun eine grundsätzliche öffentliche Diskussion des heiklen Themas der Rationierung medizinischer Leistungen gefordert. Ruth Baumann-Hölzle, Theologin, Ethikerin und Initiantin des «Manifests für eine faire Mittelverteilung im Gesundheitswesen», sieht das Kostenproblem in der grossen «Begehrlichkeit» aller Beteiligten und meint damit neben den Patienten und Patientinnen auch die Ärzte und Spitäler und nicht zuletzt die medizintechnische und chemische Industrie. «Es braucht eine minimale Steuerung des Systems», ist ihre Überzeugung, auch «damit nicht weiterhin die prestigeträchtigen hochtechnologischen Bereiche der Spitäler ausgebaut werden, während in der geriatrischen Pflege schleichend weiter abgebaut wird.»

Umstrittenes Pflegekonzept

Bei der Diskussion um die Rationierung geht es auch um Pflegeleistungen. Als im vergangenen Herbst ein intern vorgeschlagenes Konzept des Universitätsspitals Zürich über das «Setzen von Prioritäten in der Pflege» in die Medien gelangte, löste dies heftigen öffentlichen Widerspruch aus. Das Pflegepersonal des Spitals und insbesondere die Mitglieder der «Aktion Gsundi Gsundheitspolitik» lehnten das Pflegekonzept als ethisch nicht vertretbar ab. Der Entwurf sah vor, bei gewissen Patientenkategorien medizinische, pflegerische oder soziale Leistungen, deren Nützlichkeit unbestritten ist, auf ein Minimum zu beschränken. Obwohl dank dem grossen Widerstand des Personals nun auf die Einführung dieses Konzepts vorerst verzichtet wird, bleiben die Probleme bestehen. Eine Krankenschwester umschreibt es so: «Wir arbeiten unter extremem Zeitdruck und fordern bessere Arbeitsbedingungen, sonst kann man die fünfzig offenen Pflegestellen an der Uniklinik nicht besetzen.» Nicht nur die Prämienzahlenden haben in den letzten Jahren grosse Opfer bringen müssen, sondern auch das Pflegepersonal.

Rationierung am Krankenbett

Eine Tagung des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen «Dialog Ethik» in Zürich ergab ein ernüchterndes Ergebnis: Heute schon werden am Krankenbett in Spitälern und Kliniken Massnahmen durchgeführt, die weit über eine notwendige und erwünschte Rationalisierung hinausgehen. In ihrem Bericht über die Tagung schrieb die Neue Zürcher Zeitung: «Welches sind die Einzelmassnahmen, die unter dem Druck fehlender finanzieller, vorab aber personeller Ressourcen in den Spitälern und Kliniken zur Anwendung kommen und die nicht mehr der Kategorie Rationalisierung zuzuordnen sind? Berichtet wurde von aufgeschobener oder vorübergehend aufgehobener Körperpflege am Patienten oder von Gesprächen am Krankenbett, von der Konzentration der Pflege auf wirklich schwerkranke Patienten, von zeitlicher Verkürzung der einzelnen Einsätze der Pflegenden, von stark reduzierten Therapieleistungen. Die Rede war auch von der Einteilung der Patienten bei der Heimaufnahme in verschiedene Pflegekategorien, von möglichst frühzeitiger Verlegung (Abschieben) von Patienten in andere Kliniken, von Differenzierung je nach Versicherungsklasse.»

*Eva Nydegger ist Redakteurin der Zeitschrift Zeitlupe, die von Pro Senectute Schweiz herausgegeben wird.