Aus dem Blickwinkel einer Generalistin für Entwicklung und Zusammenarbeit

Unterwegs für Gesundheit

Von Vreni Wenger-Christen

Der Aufbruch des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) hin zu primärer Gesundheitsversorgung setzte fünf Jahre vor der Konferenz von Alma Ata ein, in der Nord- und Grenzprovinz Luang Prabang von Laos, einem Nebenschauplatz des Indochina-Krieges.

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Der Berg Phoukasath war 1973 Ausbildungsort für zwölf junge Laoten, die von einer der ersten in der Schweiz ausgebildeten SRK-Gesundheitsschwestern Anleitung in Erster Hilfe und Behandlung der häufigsten Krankheiten erhielten. Mit dem erworbenen Wissen wurden diese “Samariter” in die Lage versetzt, der Meo-Bevölkerung in den abgelegenen Dörfern beizustehen. Mit wenigen einheimischen Gesundheitsverantwortlichen gelang es, über zwei Drittel der Bevölkerung der Provinz Luang Prabang durch Impfungen vor Krankheit zu schützen. Und am Distrikt-Dispensarium von Muong Nane wurden Patienten und werdende Mütter von einem laotischen Pfleger und einer Hebamme, unter Anleitung von SRK-Fachleuten, versorgt. In wenig spektakulären Schritten, vom methodischen Ansatz her aber bemerkenswert, haben sich die kurativen Dienste auf vorbeugende Massnahmen und die Arbeit aus dem Spital von Luang Prabang in die Peripherie verlagert.

Praktisch zeitgleich mit der Erklärung von Alma Ata hat das Schweizerische Rote Kreuz 1977/78 Zugang gefunden zum Lebensraum indigener Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika. Der Gesundheitsweg mit indianischen Minderheiten nahm seinen Anfang in Ost-Paraguay, führte über das bolivianische Tiefland, den Andenabhang hinauf auf das Altiplano Boliviens und wieder in die Tiefebene des ecuatorianischen Amazonasgebietes. Zu erwähnen sind dabei der Abstecher in die Produktion natürlicher Heilmittel und das Stichwort Förderung der traditionellen, beziehungsweise der Volksmedizin. Eine Alternative zur absoluten Verknappung von Medikamenten in Bolivien zu schaffen, war ein Gebot der Stunde, hatte doch der unvorstellbare Wirtschaftszerfall innert vier Jahren, bis 1989, eine Abwertung der Währung von 24'000 Prozent bewirkt.

Die von der WHO und UNICEF einberufene Konferenz von Alma Ata hat 1978 mit dem Konzept der primären Gesundheitsversorgung eine zukunftsweisende Wegmarke gesetzt. Es war seit Schaffung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach dem Zweiten Weltkrieg das Anliegen dieser UNO-Fachinstanz gewesen, das Gesundheitsniveau von Millionen von Menschen in wenig entwickelten Gebieten zu verbessern. Jedoch musste nach 30 Jahren erkannt werden, dass das Vorbild der Gesundheitsdienste der industrialisierten Welt, die sich laufend modernisierten, zur Zielerreichung im Weltsüden und -osten nicht länger diente.

Aus den Empfehlungen von Alma Ata zuhanden von Regierungen und der Weltgemeinschaft entstand ein vorbildlicher Rahmen, um das immer dringender werdende Entwicklungsthema Gesundheit neu zu gewichten und entsprechend zu handeln. Manche Kriterien, die den klassischen Entwicklungssektoren zugrunde liegen, fanden auch in den Postulaten von Alma Ata ihren Niederschlag: die Verantwortung der Staaten für eine wirksame und flächendeckende öffentliche Gesundheit, der politische Wille und die Mittel zur Umsetzung nationaler Strategien, der Einbezug der betroffenen Bevölkerung und ein ganzheitlicher Ansatz im Gesundheitsbereich. Allerdings bestehen bis auf den heutigen Tag zwischen Deklaration und Realität hohe Hürden; Gesundheit als Menschenrecht erweist sich als eine nur sehr mangelhaft durchzusetzende Vision. Das globale Ziel der “Gesundheit für alle im 2000” ist zwar in der Substanz weiterhin gültig, muss aber im 21. Jahrhundert unter neuen Herausforderungen fortgeschrieben werden.

Im Rückblick auf das internationale Engagement des SRK für die Gesundheit fällt auf, dass die Wegbereitung in mancher Hinsicht empirisch geschah. Es ist dennoch oder gerade deswegen mehrfach gelungen, unscheinbare Initiativen aufzunehmen und in flächendeckende, von den Zielgruppen getragene Gesundheitsdienste überzuführen. Regional unterschiedliche Programm-Erfahrungen haben sich schliesslich zur Gewissheit verdichtet, dass Gesundheit unverzichtbarer Teil gesamtgesellschaftlicher Entwicklung darstellt. Gesundheit und Entwicklung sind denn auch Hauptinhalte der SRK-Auslandarbeit; dabei stärkt es bevölkerungsnahe Organisationen und fördert Selbstinitiative bei Partnern und Zielgruppen. So ist zum Beispiel sein Engagement in Lateinamerika und Südasien konkreter Ausdruck dieser Strategie.

Die Konturen des SRK im Prozess “Gesundheit für alle” aufzuzeichnen oder gar vorauszudenken, wäre ohne bestimmte Orientierungspunkte unvollständig. Es lohnt sich, zum Beispiel den Buchautor von “Where there is no doctor”, David Werner, zu zitieren. In seinem Vortrag von 1988 am Johns Hopkins Institut für öffentliche Gesundheit sagt er zum Thema “Public Health, Poverty and Empowerment – A Challenge” folgendes:

The underlying obstacles to primary health care are not really economic, but rather political … In today’s world, the biggest obstacles to `’health for all‘ are not technical, but rather social and political … What is needed is radical change of governments and social structures …The changes can only come about through organized action of the people themselves … Health for all can only be achieved through a struggle for social equity – a struggle led, not by those on the top, but by those on the bottom, by the people themselves … Health work is never apolitical.

Die Grundannahme, dass Gesundheitsarbeit von den betroffenen Gemeinschaften her wirksam und breit zu entwickeln ist, wird auch in der Rotkreuzbewegung geteilt. Die Stärke dieser weltumspannenden Organisation liegt im Zugang zu den “most vulnerables” und im Angehen globaler Bedrohungen wie HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria. Gleichzeitig aber ist das Rote Kreuz in vielen Ländern noch stark auf Katastrophenereignisse und Erste Hilfe ausgerichtet und nimmt wenig Einfluss auf Strukturreformen und das gesundheitspolitische Umfeld.

Obschon Teil der Rotkreuzbewegung hat sich das SRK früher als andere Mitglieder auf den Weg der langfristigen Gesundheitsarbeit begeben. Es hat die Partner- und Programmpalette bewusst breiter gehalten, um Innovation und Nachhaltigkeit Raum zu geben. Gerade das Lernfeld mit Basis- und Selbsthilfeorganisationen ermutigt, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Wenn es gelingt, alle vorwärtsgerichteten Kräfte des Roten Kreuzes zu vereinen, kann den bedeutenden Zukunftsfragen wirksam begegnet werden, allen voran der verstärkten Anwaltschaft für Gesundheit für alle.

*Vreni Wenger-Christen ist Departements-Co-Leiterin Internationale Zusammenarbeit und Mitglied der Geschäftsleitung beim Schweizerischen Roten Kreuz SRK, ausserdem Vorstandsmitglied von Medicus Mundi Schweiz. vreni.wenger@redcross.ch.