Transkulturelle Kompetenz im Umgang mit MigrantInnen

Der Weg zur gesundheitlichen Chancengleichheit

Von Dagmar Domenig

MigrantInnen haben in der Schweiz einen erschwerten Zugang zu gewissen Gesundheitsdienstleistungen und erhalten oft eine nicht auf ihre Bedürfnisse angepasste Behandlung und Pflege. Die Erhöhung transkultureller Kompetenz von Fachpersonen sowie die Einleitung eines umfassenden transkulturellen Wandels in den Einrichtungen des Gesundheitswesens kann gesundheitliche Chancengleichheit nachhaltig verbessern.

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Frauen, Männer und Kinder mit Migrationshintergrund bilden einen festen Bestandteil der Bevölkerung in der Schweiz und somit auch in den Institutionen der Gesundheitsversorgung. Der Anteil der gesamten ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz betrug 2004 21,8 Prozent. Nahezu ein Fünftel aller AusländerInnen sind in der Schweiz geboren und gehören somit zur zweiten oder dritten AusländerInnengeneration. Beinahe jede dritte Eheschliessung war 2004 eine schweizerisch-ausländische Verbindung. In diesen Zahlen nicht enthalten sind all diejenigen MigrantInnen, die entweder einen Schweizer Pass oder aber keine Aufenthaltsbewilligung haben.

Der Zugang der Migrationsbevölkerung zum Gesundheitssystem und zu einer auf ihre Bedürfnisse und Sichtweisen angepassten Behandlung und Pflege ist - trotz einiger Massnahmen auch auf Seiten des Bundes (1) – nach wie vor eingeschränkt. MigrantInnen sind meist schlecht informiert über die bestehenden Angebote, aber auch über die an ihnen vorgenommenen Behandlungen. In den oft wenig vertrauensfördernd gestalteten Begegnungen können MigrantInnen ihre Bedürfnisse und Sichtweisen kaum so einbringen, dass diese gehört und verstanden werden. Dies führt immer wieder zu Fehlbeurteilungen und infolgedessen auch zu Fehlbehandlungen. Der gesundheitlichen Chancengleichheit für alle in der Schweiz lebenden Personen ist somit keineswegs Gewähr geleistet.

Mamma-Mia-Syndrom und Morbus Bosporus...

Bei MigrantInnen können die üblichen Herangehensweisen von Fachpersonen nicht nur auf Grund vorhandener Sprachbarrieren an Grenzen stossen. So kann auch ein eher familien- bzw. soziozentrierter Umgang mit Krankheiten und erkrankten Personen bei meist individuumszentriert sozialisierten Fachpersonen zu Verwirrung, Unsicherheit bis hin zu Ablehnung führen. Die "Verwöhnung" eines Patienten im familiären Kontext durch Zuwendung und Abnahme alltäglicher Verrichtungen beispielsweise oder die fürsorgliche Umsorgung einer Wöchnerin durch ihre Familienangehörigen, auch wenn dies gar nicht "nötig" wäre, widerspricht dem "professionellen" Anspruch von Fachpersonen, PatientInnen so rasch wie möglich zur individuellen Selbstständigkeit und Leistungsfähigkeit zurückzuführen.

Auch die körperliche Repräsentation von aus biomedizinischer Sicht psychischen Problemen, die so genannte "Somatisierung", stösst immer wieder auf Unverständnis bei Fachpersonen, obwohl in soziozentrierten Kontexten körperliche Beschwerden weit angemessener sein können als psychische. So werden Schmerzen bei MigrantInnen immer wieder in den psychischen Bereich abgeschoben, worüber die stigmatisierenden „Diagnosen“ wie das „Mamma-Mia-Syndrom“, „Morbus Bosporus“ oder „türkische Kopfschmerzen“ Zeugnis ablegen. Auch Erklärungsmodelle von MigrantInnen über Bezeichnung, Ursachen und Behandlung einer Erkrankung können von der biomedizinisch geprägten Sichtweise der Fachpersonen abweichen, denn Krankheit geschieht nicht ausserhalb, sondern innerhalb einer konkreten Lebensgeschichte, eines konkreten Umfeldes und einer konkreten Lebenswelt.

Für eine erfolgreiche Behandlung und Pflege ist es unverzichtbar, die Sichtweisen der PatientInnen und ihres Umfeldes mit einzubeziehen und das weitere Vorgehen gemeinsam auszuhandeln. Dabei geht es nicht darum, so genannte kulturspezifische Verhaltensweisen und Krankheiten zu konstruieren und MigrantInnen zuzuordnen. Vielmehr geht es darum, zuzuhören, was PatientInnen zu erzählen haben, innerhalb welcher Bedeutungssysteme sich ihre Geschichten strukturieren, und welche individuellen Erklärungsmodelle sie sich in Bezug auf ihr Leiden zurechtgelegt haben. Denn Krankheitsepisoden sind nichts anderes als wichtige Meilensteine in den inszenierten Lebensgeschichten von PatientInnen:

„In unseren Geschichten leben wir also nicht nur, sondern wir werden in ihnen auch krank, es geht uns besser oder schlechter, oder unser Zustand bleibt unverändert, und schliesslich sterben wir auch in unseren Geschichten – und nicht selten sind Ärzte oder Pflegende dabei unsere Zeugen.“(2)

Transkulturelle Kompetenz – Abschied von der Stigmatisierung

Die Kulturalisierung und Stereotypisierung dient meist als Strategie im Umgang mit so genannt schwierigen MigrantInnen. Die Verunsicherung, das Unbehagen und letztlich die Infragestellung der eigenen professionellen Kompetenz fördern den Rückzug auf klare Modelle und Kategorien. Um der Orientierungslosigkeit zu entkommen, eignen sich Modelle, die für sich in Anspruch nehmen, so genannt fremdes Verhalten beschreiben und erklären zu können. Scheitern Deutungsversuche und werden Fehleinschätzungen bewusst, indem beispielsweise therapeutische Ansätze nicht zu dem gewünschten Erfolg führen, beginnt die Suche nach neuen Ordnungsmustern und Kategorien, in welche Fremdes sich sinnvoll einfügen lässt.

Transkulturelle Kompetenz ist im Unterschied dazu die Fähigkeit, individuelle Lebenswelten in der besonderen Situation und in unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechende, angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten. Transkulturell kompetente Fachpersonen reflektieren eigene lebensweltliche Prägungen, haben die Fähigkeit, die Perspektive anderer zu erfassen und zu deuten und vermeiden Kulturalisierungen und Stereotypisierungen von bestimmten Zielgruppen. Sie nehmen eine respektvolle, vorurteilsfreie beziehungsweise Vorurteile reflektierende Haltung gegenüber MigrantInnen und anderen stigmatisierten Zielgruppen ein. Sie stellen die individuelle Biografie, die die Migrations- und Integrationsgeschichte mit einschliesst, ins Zentrum der Interaktion und suchen auch vermehrt wieder das Gemeinsame und somit Verbindende in der transkulturellen Begegnung.

In Bildungsveranstaltungen, welche nicht aus Distanz so genannte Kulturrezepte vermitteln, sondern die selbstreflexive Auseinandersetzung ins Zentrum stellen, können transkulturelles Denken und Handeln geübt und die eigene Praxis kritisch reflektiert werden. Doch es genügt nicht, wenn transkulturelle Kompetenz in einer Institution alleine durch Weiterbildungen des Personals gefördert wird. Bildungsangebote können durch die Vermittlung transkultureller Kompetenz zu einer Verhaltensänderung bei Fachpersonen beitragen. Doch ohne die Bereitstellung der dafür notwendigen Strukturen im Sinne einer teilweise auch tief greifenden Verhältnisänderung in den Institutionen des Gesundheitsbereiches wird die Gesundheitsversorgung nur punktuell Verbesserungen in der Behandlung von MigrantInnen erzielen können.

Transkultureller Wandel der Institution

Um in einer Einrichtung des Gesundheitswesens einen transkulturellen Wandel (3) einzuleiten, muss auf Leitungsebene ein Verantwortungsbereich Migration geschaffen werden, der mit den für eine Querschnittsaufgabe notwendigen Ressourcen und Entscheidungskompetenzen ausgestattet wird. Nur so kann verhindert werden, dass einzelne Massnahmen an der Basis ergriffen werden, die meist system- und planlos eine Institution von unten her durchdringen.

Leitbild und Transparenz: Durch eine Verankerung auf Leitungsebene können auch Synergien genutzt und abteilungs- oder klinikübergreifende Massnahmen angestrebt werden. Strategien, Leitbilder, Jahresziele, Richtlinien, Konzepte und andere zentrale Dokumente einer Einrichtung sollten migrationsspezifisch überprüft und entsprechend angepasst werden. Neben diesen übergeordneten Massnahmen, die den transkulturellen Wandel für alle sichtbar initiieren, bedarf es vor der Entwicklung weiterer Massnahmen einer konkreten IST-Analyse. Da im Gesundheitswesen sehr unterschiedliche Aufgabengebiete und Rahmenbedingungen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Einrichtungen anzutreffen sind, sollten die spezifischen Gegebenheiten vor Ort unbedingt mit einbezogen werden. Im Notfall herrschen beispielsweise andere Bedingungen als auf einer stationären medizinischen Abteilung und somit auch unterschiedliche Bedürfnisse und Möglichkeiten für einen transkulturellen Wandel. Auf dieser Grundlage können dann weitere, spezifische Massnahmen – von denen einige im Folgenden kurz vorgestellt werden – geplant und umgesetzt werden.

Ansprechperson: Trotz Sensibilisierung und Vermittlung von transkulturellem Wissen in Weiterbildungen entstehen immer wieder Unsicherheiten bei der Umsetzung im konkreten beruflichen Alltag. Daher sollte eine jederzeit abrufbare, fachkompetente Person oder Anlaufstelle innerhalb der Einrichtung zur Verfügung stehen. Eine solche Anlaufstelle könnte neben der Unterstützung in komplexen Situationen auch Grundlagen erarbeiten, Anpassungen planen und umsetzen sowie als Informations- und Vermittlungsstelle dienen.

Übersetzerdienste: Eine weitere zentrale Massnahme ist der Aufbau eines professionellen Übersetzungsdienstes, damit bei MigrantInnen eine Anamnese – die Basis jeder Behandlung und Pflege – überhaupt angemessen durchgeführt werden kann.

Informationsmaterial: Bebildertes Informationsmaterial sowie migrationsspezifisch angepasste Broschüren in mehreren Sprachen können nicht nur den Zugang zu Informationen und somit die Gesundheitskompetenz von MigrantInnen nachhaltig verbessern, sondern dienen auch als hilfreiche Grundlage für Informationsgespräche.

Mediatoren: Externe Stellen, ExpertInnen oder Schlüsselpersonen aus den Migrantengemeinschaften können wertvolle Unterstützung bei der Behandlung und Pflege von MigrantInnen bieten.

Aufbau eines Netzwerkes: Durch eine vermehrte Vernetzung wird die Gefahr der Weiterweisung beziehungsweise „Verschiebung“ von MigrantInnen aufgrund fehlender Kompetenzen und Unsicherheiten vermindert.

Anstellung von MigrantInnen: Die Anstellung und Förderung von Fachpersonen mit Migrationshintergrund, sowie die Aufwertung und Anerkennung ihrer spezifischen, transkulturellen Fähigkeiten in der Behandlung und Pflege von MigrantInnen tragen ebenso massgeblich zu einem transkulturellen Wandel bei. Transkulturelle Teams fördern zudem Prozesse, die dazu beitragen, dass sich die transkulturelle Kompetenz aller MitarbeiterInnen erhöht.

Langer Atem gefragt

In den letzten Jahren sind sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene einige viel versprechende Schritte unternommen worden, um dem Ziel einer transkulturellen Gesundheitsversorgung näher zu kommen. So werden in der so genannten Amsterdamer Erklärung, die anlässlich der Schlusskonferenz des europäischen Projektes „migrant-friendly hospitals“ 2004 in Amsterdam verabschiedet wurde, 24 Empfehlungen für eine transkulturelle Organisationsentwicklung formuliert. Auch im Rahmen der vom Bundesamt für Gesundheit umgesetzten Bundesstrategie „Migration und Gesundheit“ läuft derzeit ein Projekt „migrant-friendly hospital“, das demnächst für Spitalleitungen Richtlinien in Form eines so genannten Spitalhandbuches herausgibt. Es bleibt zu hoffen, dass die erwähnten, aber auch alle anderen Initiativen dazu beitragen, Spitäler und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens zu überzeugen, dass die Umsetzung der gesundheitlichen Chancengleichheit für alle nur durch eine Transkulturalisierung aller Prozesse und Projekte innerhalb einer Institution nachhaltig erreicht werden kann. Punktuelle Massnahmen, wie beispielsweise der Zugang zu professionellen ÜbersetzerInnen, Weiterbildungsangebote für das Personal oder einzelne Projekte an der Basis, können für sich alleine stehend diesen transkulturellen Wandel nämlich kaum bewirken.

*Dagmar Domenig, Dr. phil. lic. iur., Ethnologin, dipl. Pflegefachfrau, Leiterin Fachbereich Bildung und Gesundheitsförderung, Zentrum für Migration und Gesundheit, Schweizerisches Rotes Kreuz. Kontakt: dagmar.domenig@redcross.ch

Anmerkungen

  1. Der Bund hat 2002 eine Strategie „Migration und Gesundheit 2002-2006“ verabschiedet, die mit verschiedenen Interventionen eine migrationsspezifische bzw. transkulturell angepasste Gesundheitsversorgung und somit die gesundheitliche Chancengleichheit fördern will (BAG 2002).
  2. Zitat aus: Greenhalgh/Hurrwitz (2005: 21)
  3. Für eine weitere Konkretisierung: siehe den ausführlichen Massnahmenkatalog in Domenig (2001a: 213).

Literatur und Quellen

  • Bundesamt für Gesundheit BAG: Migration und Gesundheit. Strategische Ausrichtung des Bundes 2002-2006, Bern: 2002, http://www.suchtundaids.bag.admin.ch/themen/migration
  • Bundesamt für Statistik BfS: Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz, Bericht 2005, Neuchâtel, 2005, http://www.bfs.admin.ch
  • Domenig, D.: Migration, Drogen, transkulturelle Kompetenz, Bern, Hans Huber Verlag 2001a.
  • Domenig, D.: Einführung in die transkulturelle Pflege. In: Domenig, D. (Hrsg.): Professionelle transkulturelle Pflege. Handbuch für Lehre und Praxis in Pflege und Geburtshilfe, Bern, Verlag Hans Huber: 2001b: 139-158.
  • Greenhalg, T.; Hurrwitz, B.: Was geht uns Narration an? In: Greenhalg, T.; Hurrwitz, B. (Hrsg.): Narrative-based Medicine – Sprechende Medizin, Bern, Verlag Hans Huber, 2005: 19-35.
  • Kleinman, A.: Patients and Healers in the Context of Culture, Berkely, University of California Press:1980.
  • Littlewood, R.: Von Kategorien zu Kontexten - Plädoyer für eine kulturumfassende Psychiatrie. In: Hegemann, T., Salman, R. (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen, Bonn, Psychiatrie-Verlag: 2001.
  • MFH, Migrant-friendly Hospitals: The Amsterdam declaration, a European initiative to promote health and health literacy for migrants and ethnic minorities, 2004, http://www.mfh-eu.net

Fachbuch über die Folgen von Folter und Krieg

Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) hat ein Fachbuch zu den Folgen von Folter und Krieg herausgegeben. Die Publikation geht auf theoretische, praktische und klinische Aspekte als Folge von Folter oder Krieg ein. Ein Schwerpunkt bildet die Lebenssituation bosnischer Kriegsflüchtlinge in der Schweiz und deren Bewältigung von Traumata. Das Buch richtet sich an Fachpersonen der Medizin, Psychiatrie, Ethnologie, Psychologie, Sozialarbeit und alle weiteren interessierten Kreise, die mit Flüchtlingen oder Migrantinnen und Migranten arbeiten.

Department of Migration, Swiss Red Cross (Ed.), In the Aftermath of War and Torture. Coping with Long-Term Traumatization, Suffering and Loss (Series «Migration – Contributions from Theory and Practice»), Seismo Verlag, Zürich 2005, ISBN: 3-0-777-036-8