Kernkompetenzen des ausländischen Fachpersonals – was steht auf dem Spiel?

Schlüsselpersonen im Dauerspagat

Von Martine Verwey

Vertrauenspersonen, selbst zugewandert und dank ihrer spezifischen Erfahrung und Ausbildung im Herkunfts- oder Aufnahmeland sowohl mit der eigenen Bevölkerungsgruppe als auch mit der Mehrheitsbe-völkerung vertraut, gewährleisten oft gleichsam als Brücke die Beteiligung der Migrationsbevölkerung an Prävention und Gesundheitsförderung. Welche Rolle wird solchen Schlüsselpersonen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen zugedacht? Sind sie im konkreten Fall jeweils gleichwertige Partner, oder wird über sie verfügt?

Lesezeit 4 min.

Der Umgang mit zugewanderten Personen in der Gesundheitsversorgung ist nicht losgelöst von der Sicht auf MigrantInnen in der Gesellschaft allgemein. Dasselbe gilt, wenn über kulturelle Hintergründe in der Gesundheitsversorgung nachgedacht wird: Auch dies kann nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext und der öffentlichen Meinung gesehen werden. Zuschreibungen geschehen rasch, und der Verdacht, jemand sei befangen, schleicht sich schneller ein bei zugewanderten als bei einheimischen Fachpersonen. Wie werden nun qualifizierte ausländische Vertrauenspersonen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen wahrgenommen? Welche Kernkompetenzen sind besonders wichtig, damit ihre Vorstellungen über Integration und Prävention im hiesigen Verständnis von „interkultureller“ Arbeit zur Geltung kommen? Welche Kompetenzen braucht es, damit Beispiele wie das Folgende sich nicht wiederholen?

Ernährung – ein Schlüssel zur Integration?

Eine Vertrauensperson, spezialisiert auf die muttersprachliche Unterrichtung lateinamerikanischer Schulkinder in der Schweiz, schlägt vor, im Rahmen einer Elternmitwirkungsveranstaltung einen Einblick in ein von ihr in Zusammenarbeit mit den Eltern der Schulkinder entwickeltes Unterrichtsprogramm zu geben. Es ist ein laufendes Programm, welches geschickt Integration und Gesundheitsförderung verbindet. Der Unterricht macht die Schüler vertraut mit der Benennung von Früchten, die in der Herkunftsregion der Kinder vorkommen. Rund um das Thema Früchte wird so über Ernährung die Beziehung zum Herkunftsland der Eltern bewusster gemacht und in einem zweiten Schritt eine Brücke zum Alltag in der Schweiz gebaut.

Die Präsentation stösst jedoch bei den Veranstaltern auf Ablehnung. Die Gründe: Man erwartete, dass Lehrkräfte und Eltern mit Tipps und Tricks ausgestattet werden, wie man auch andernorts ein solches Programm erfolgreich implementieren könnte. Zudem wollte man die Eltern frühzeitig in die Planung einbezogen wissen. Mit anderen Worten: Die Referentin stellt einen Inhalt zur Diskussion, erhofft sich wertvolles Feedback und Anregungen. Die Veranstalter dagegen erwarten quasi-technische Handlungsanweisungen; und noch schlimmer, sie wissen eigentlich, wie das Programm hätte aussehen müssen.

Vermeintliches Wissen über „die Anderen“

Das eben genannte Beispiel stammt aus dem Bildungsbereich; freilich sind auch der Gesundheits- und Sozialbereich keinesfalls frei von Paternalismus gegenüber zugewanderten Personen. Diese Haltung äussert sich etwa darin, wenn Fachpersonen darüber nachdenken, was ihre Klienten in ihren Augen empfinden – hier aus einem Gespräch über fremdsprachige Schmerzpatienten:

„Allerdings bestehen sehr wohl Unterschiede im Erleben. Hier sehe ich den kulturellen Hintergrund und die Erziehung als massgebend. Es ist klar so, dass Menschen aus südlichen Ländern von der Türkei über Ex-Jugoslawien bis Spanien sich mit dem Schmerz völlig anders präsentieren als Menschen aus dem Norden. Der Schmerz hat eine andere Bedeutung für sie, und es ist für uns viel schwieriger, hier den Zugang zu finden und ein Ändern des Verhaltens zu bewirken“.

Welche Hintergründe können wir für eine solche festschreibende Wahrnehmungsweise ausmachen?

Dynamischer versus statischer Kulturbegriff

Im Gesundheitsbereich wird noch oft von einem statischen Kulturbegriff ausgegangen. Kultur wird dann als ein Komplex überlieferter Erfahrungen, Vorstellungen und Werte sowie gesellschaftlicher Ordnungen und Verhaltensregeln gesehen, mit denen die Menschen ihre Welt interpretieren und wonach sie ihr Handeln ausrichten. In der Ethnologie hingegen benützt man schon seit längerem einen dynamischen Kulturbegriff. In Anlehnung an Clifford Geertz lässt sich Kultur verstehen als ein dem Wandel unterliegender, variantenreicher, sinngebender Referenz- und Interpretationsrahmen, oder einfacher gesagt als ein System von Bedeutungen, welches ständig in Bewegung ist. Rob van Dijk (1) weist darauf hin, dass der Übergang zu einem dynamischen Denken über Kultur parallel geht mit Dekolonisierung, globalem freiem Warenaustausch, zunehmender weltweiter Mobilität und Migration, und als Reaktion darauf mit einem Wiedererstarken von regionaler und ethnischer Identität.

Davon nicht unabhängig, lässt sich in der Psychologie eine Auseinandersetzung um Ethnizität und Familientherapie verfolgen. Seit den 80er Jahren spricht man im angelsächsischen Bereich zunächst von „kultureller Sensibilisierung“ sowie „interkultureller Kommunikation“ und bald von „inter-“ oder „transkultureller Kompetenz“. War im Gesundheitsbereich vorerst der Fokus noch auf medizinische Fachpersonen und fehlendes „kulturelles Wissen“ gerichtet, wechselte der Schwerpunkt in den 90er Jahren auf „Management von Diversität“. Es sind, so Els van Dongen (2), nicht mehr die Migranten, welche sich anpassen sollen, sondern die Gesundheitsversorgung muss sich anpassen an die Bedürfnisse der Migrationsbevölkerung. Kernkonzepte einer in der Gesundheitspolitik seitdem propagierten interkulturellen Öffnung sind Flexibilität, Offenheit für Innovation und Dynamik, Aus- und Weiterbildung sowie Diversifikation.

Kernkompetenzen medizinischer Fachpersonen

Fähig- und Fertigkeiten, Haltungen (attitudes) und Wissen, so ist man sich in der Fachliteratur einig, sind Facetten transkultureller Kompetenz. Die erforderlichen Kernkompetenzen werden folgendermassen differenziert: Zum einen Vertrauen herstellen und lernen, mit Aggression oder dem eigenen Gefühl von Ohnmacht umzugehen. Zum anderen Haltungen erwerben, wie etwa Neugierde, Durchsetzungsvermögen, Respekt, Akzeptanz, Interesse und die Bereitschaft, Vorannahmen zu korrigieren sowie Kultursensitivität und zugleich die Fähigkeit, die eigene Kulturgebundenheit zu reflektieren. Ferner die Orientierung an vorhandenen immateriellen Ressourcen und Einbezug von DolmetscherInnen bzw. Sprachvermittlung. Im weiteren: sich Wissen aneignen über nonverbale Kommunikation und andere Kulturen, jedoch ohne dieses Hintergrundwissen zu stereotypisieren. Und schliesslich eine offene, flexible Berufshaltung praktizieren und die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Identifikation und Empathie entwickeln – Qualitäten, welche allesamt einhergehen mit der Erfahrung mit Vorgängen wie Übertragung und Gegenübertragung. Sensibilität gegenüber täglichem Rassismus ist genauso wichtig. Die Anwendung dieser Kernkompetenzen ist ein Wechselspiel zwischen Aktivität und Zurückhaltung, Nähe und Distanz, Flexibilität und Grenzziehungen.

Überzogene Forderungen?

Damit Schlüsselpersonen sich nicht im Dauerspagat zwischen Bedürfnissen der Migrationsbevölkerung und Anforderungen der medizinischen Einrichtungen befinden, oder, wie im oben beschriebenen Beispiel, Unmögliches möglich machen müssen, sind folgende Kernkompetenzen erforderlich: Sie müssen fähig sein, Missverständnisse zu antizipieren, sie sollen fachliche Bescheidenheit praktizieren und darauf bedacht sein, bei einheimischen Fachpersonen keinen Neid auszulösen, sie müssen über hohe Frustrationstoleranz, hohe Flexibilität und ausgeprägte Professionalität sowie über Mut verfügen, nachzufragen und klare Abmachungen einzufordern. Profunde Kenntnis des hiesigen Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen ist unabdingbar. Ebenso sind eine gehörige Portion List und Verhandlungsgeschick gefragt. Kurz: Schlüsselpersonen aus der Migrationsbevölkerung müssen fachlich etwa doppelt so gut sein wie Einheimische, um dieselbe Position erreichen zu können.

Learning communities

Neuerdings werden im Interkulturalisierungsprozess „Learning communities“ favorisiert, zusammengesetzt aus Vertrauenspersonen der zugewanderten Bevölkerung, aus medizinischen Fachpersonen und WissenschaftlerInnen. Solange es aber keine Kommunikation von gleich zu gleich gibt, werden Schlüsselpersonen ihr Potenzial nicht voll ausschöpfen können. Wirkliche interkulturelle Öffnung ist nur möglich, wenn sie als gleichwertige Partner akzeptiert werden und nicht nur als Lieferanten von Information über die Migrationsbevölkerung dienen sollen. Wissenszuwachs, die Aneignung von Haltungen, das Training von Fähig- und Fertigkeiten sind zwar unverzichtbar – nicht minder wichtig ist aber die Entwicklung von Leitlinien, und dafür braucht es Visionen.

*Martine Verwey, lic. phil. I, tätig als Medizinethnologin im Projekt-, Forschungs-, Evaluations-, Fort- und Weiterbildungsbereich, u.a. bei Caritas. Schwerpunkt: Resilienz und Gesundheitsförderung mit von organisierter Gewalt betroffenen Flüchtlingen. Kontakt: martine.verwey@caritas-thurgau.ch.

Anmerkungen:

  1. Dijk, Rob van. 1998 [1989]. Culture as excuse. The failures of health care to migrants in the Netherlands. In: Geest, Sjaak van der & Rienks, A. (Hg). The Art of Medical Anthropology. Amsterdam: 243-250.
    Dijk, Rob van. 2004. Cultuur: een Fremdkörper in de gezondheidszorg? CMG Cultuur Migratie Gezondheid 1(1): 2-15.
  2. Dongen, Els van. 2004. Repetition and repertoires: The creation of cultural differences in Dutch mental health care. Anthropology & Medicine 12(2): 179-97.