Menschenrechte sind unteilbar, aber…

Die Mühen der Schweiz im Umgang mit den Sozialrechten

Von Jon A. Fanzun

„Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält.“ - Die schweizerische Bundesverfassung kennt keine Sozialrechte, nur Sozialziele.

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Bürgerliche und politische Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind unteilbar und bedingen einander. Dieser Gedanke kam bereits in der Atlantik-Charta der Alliierten von 1941 zum Ausdruck, die vier zentrale Freiheiten proklamierte: Meinungsäusserungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht.

Die Idee der Unteilbarkeit der Freiheitsrechte und der Sozialrechte zerfiel in den Spannungen des Kalten Krieges. Während die Ostblockstaaten die Sozialrechte in den Vordergrund rückten, vertraten die westlichen Staaten die Meinung, dass nur die Freiheitsrechte echte Menschenrechte im Sinn von subjektiv und gerichtlich durchsetzbaren Rechten seien.

Das Postulat der Unteilbarkeit der Menschenrechte ist auch nach dem Ende des Kalten Krieges noch nicht umgesetzt. Obwohl die Wiener Menschenrechtserklärung von 1993 die Einheit aller Menschenrechte in aller Deutlichkeit unterstrich, gelten Sozialrechte weitum nicht als vollwertige Menschenrechte.

Dies trifft nicht zuletzt auf die Schweiz zu. Zwar betonen die Behörden bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass die Menschenrechte unteilbar sind und sich gegenseitig bedingen. Die Umsetzung dieses Postulats bereitet unserem Land aber etwelche Mühe. So kennt die neue Bundesverfassung nur Sozialziele, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Sozialrechte.

Mühe bereitet der Schweiz auch die Umsetzung des UNO-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. So verneinen sowohl Bundesrat als auch Bundesgericht die Justiziabilität der darin enthaltenen Rechte, was im Widerspruch zur Auffassung des Sozialrechtsausschusses steht, der von der grundsätzlichen gerichtlichen Einklagbarkeit der im Pakt garantierten Rechte ausgeht. Ausdruck der in der Schweiz weit verbreiteten Abneigung gegen soziale Grundrechte ist schliesslich auch die seit Jahrzehnten andauernde Diskussion um die Ratifikation der Europäischen Sozialcharta.
Es wäre an der Zeit anzuerkennen, dass die klassischen Freiheitsrechte und die Sozialrechte keine Gegensätze sind, sondern auf das gleiche Ziel – den Schutz der Menschenwürde – ausgerichtet sind. Denn ohne die Gewährung bürgerlicher und politischer Rechte gibt es letztlich keine wirtschaftliche Entwicklung und ohne die Befriedigung wirtschaftlicher Grundbedürfnisse sind auch die bürgerlichen und politischen Rechte in ihrer Substanz gefährdet.

*Editorial „Menschenrechte sind unteilbar“ von Jon A. Fanzun, Menschenrechte Schweiz MERS, im Newletter humanrights.ch, Nr. 2/3, vom Oktober 2004. Kontakt: jon.fanzun@humanrights.ch, www.mers.ch. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors. Titel, Lead und Zitate wurden durch die Bulletinredaktion eingefügt.

Keine Sozialrechte in der schweizerischen Bundesverfassung

„Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass:

a. jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat;
b. jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält;
c. Familien als Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern geschützt und gefördert werden;
d. Erwerbsfähige ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten können;
e. Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können;
f. Kinder und Jugendliche sowie Personen im erwerbsfähigen Alter sich nach ihren Fähigkeiten bilden, aus- und weiterbilden können;
g. Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu selbstständigen und sozial verantwortlichen Personen gefördert und in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Integration unterstützt werden.

Bund und Kantone setzen sich dafür ein, dass jede Person gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Verwaisung und Verwitwung gesichert ist.
Sie streben die Sozialziele im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten und ihrer verfügbaren Mittel an.
Aus den Sozialzielen können keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden.“

(Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele, Kapitel 3, Sozialziele, Art. 41, www.admin.ch/ch/d/sr/101/a41.html)

Eine einfache Antwort des Bundesrats auf eine einfache Anfrage

„Das Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist das Organ für die Überwachung der Umsetzung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ("Pakt I"). Die Schweiz hat den Pakt I am 18. Juni 1992 ratifiziert, am 18. September 1992 ist er in Kraft getreten. Das Komitee hat den Initialbericht zum Pakt I überprüft, welchen die Schweiz gemäss ihren Verpflichtungen am 20. und 23. November 1998 vorgelegt hat. Es hat die Schlussbemerkungen am 3. Dezember 1998 gutgeheissen.

In diesen Bemerkungen schlägt das Komitee der Schweiz vor, die gewünschten Massnahmen zu ergreifen, damit der Pakt I die volle rechtliche Wirkung erhält und die darin angestrebten Rechte vollständig in das Justizsystem integriert werden.
Gleichzeitig stellt das Komitee mit Befriedigung fest, dass der Pakt I als integraler Teil des Justizsystems der Schweiz langsam akzeptiert wird und dass die effektive Anwendung des Pakts I in der Schweiz nicht von Schwierigkeiten oder wesentlichen Faktoren behindert wird.

In seiner Botschaft vom 30. Januar 1991 über den Beitritt der Schweiz zu den beiden internationalen Pakten von 1966 stellt der Bundesrat - in Berücksichtigung der Vorbereitungsarbeiten und der Doktrin - fest, dass "die Vorschriften des Pakts I, abgesehen von eventuellen wenigen Ausnahmen, grundsätzlich keine subjektiven und justitiablen Rechte erzeugen". Der Pakt I sieht vor, dass die durch ihn geschützten Rechte schrittweise verwirklicht werden sollen.

Das Bundesgericht hat vor kurzem erneut bekräftigt, dass die Bestimmungen des Pakts I nicht direkt anwendbar sind. Damit hat es seine Rechtsprechung bestätigt, wonach die im Pakt I enthaltenen völkerrechtlichen Verpflichtungen grundsätzlich programmatischer Art sind und sich nicht an Einzelpersonen, sondern an den Gesetzgeber richten.“

Auszug aus: Einfache Anfrage von Andreas Gross, 5.10.2000, Antwort des Bundesrats vom 27.11.2000, www.parlament.ch, 00.1110. Zur Erleichterung der Lesbarkeit haben wir die im Text enthaltenen Referenzen vereinfacht oder weggelassen.