Selbstorganisation von Quichua-Migrant/innen im bolivianischen Tiefland

Das harte Leben nach dem "Marcha hacia el Oriente"...

Von Verena Wieland

1983 packten 20 Bauern aus Otuyo Alta ihre wenige Habe und zogen nach San Julian im Departement Santa Cruz. In ihren ohnehin schon kargen Heimatgemeinden blieb ihnen infolge einer aussergewöhnlich harten Dürre zu wenig und zu schlechtes Land, um den Familien noch eine Existenzgrundlage bieten zu können. Santa Cruz, im Tiefland gelegen, bedeutete genügend und fruchtbares Ackerland und somit die Hoffnung auf ein besseres Leben für sie und ihre Kinder. Dieser verständliche Wunsch ging aber nur teilweise in Erfüllung...

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Das Bolivianische Tiefland war bis in die 30er-Jahre eine weitgehend abgeschlossene Region, in der autochthone Völker und in einigen alten Kolonialstädten eine kleine mestizische Bevölkerung lebten. Erst in der Folge des Chaco-Krieges, als ehemalige Soldaten aus dem Hochland rund um Santa Cruz kleine Siedlungen aufbauten, fand ein erster Zuzug von Neusiedlern statt. Der Eisenbahnbau im Departement Santa Cruz öffnete den grossen Holzunternehmen und nachfolgenden billigen Arbeitskräften die Region. In den Machtzentren des fernen Hochlandes erwachte das Interesse am unerschlossenen Tiefland. Ab 1953 förderte die bolivianische Regierung die gezielte Kolonisierung des "Oriente Boliviano" mit Landvergabe und finanzieller Hilfe an die "Colonos". Die Erschliessung wurde mit Infrastrukturmassnahmen wie z.B. Strassenbau unterstützt. Dem von der Regierung propagierten "Marcha hacia el Oriente" folgten Tausende Familien aus dem kargen Hochland.

Unter der Regierung Banzer kam in den 70er-Jahren im Departement Santa Cruz rund 40 Prozent der Fläche in die Hände einiger weniger Familien und Unternehmen, die Viehzucht und eine Agroindustrie aufbauten. Gleichzeitig unterstützte die Regierung aber weiterhin die Zuwanderung aus dem Hochland, und durch spontane Neuansiedlung wuchs die rurale Bevölkerung des Municipio um ein Vielfaches auf rund 35'000 Menschen an.

Schwierige ökonomische Situation

Die Produktion der Bauernfamilien ist hauptsächlich auf den Markt ausgerichtet. Unter günstigen Umständen sind 70 Prozent für den Verkauf ("cash crops": Soja, Baumwolle und Weizen), 14 Prozent für den Eigenkonsum (Mais, Yuca, Gemüse) und 3 Prozent für Saatgut und Tierfutter bestimmt. Die restlichen 13 Prozent gehen wegen schlechter Lagerungsmöglichkeiten verloren. Unter dem Druck, mehr zu produzieren und somit die Anbaufläche zu erweitern, ist der Anbau von Produkten für den Eigenkonsum drastisch gesunken. Viele Familien müssen ihre Grundnahrungsmittel kaufen und selbst dafür Kredite mit Zinsen bis zu 40 Prozent aufnehmen.

Doch trotz der fruchtbaren Erde und dem Einsatz der ganzen Familie für eine höhere Produktion sinkt auch das Einkommen der Kleinbauern: Denn mit der von der Regierung geförderten und stetig wachsenden agroindustriellen Produktion sind die Preise für landwirtschaftliche Produkte soweit gesunken, dass die Kleinbauern mit dem Ernteerlös nicht einmal mehr die Kredite zurückzahlen können.

Selbsthilfe: keine Selbstverständlichkeit

Während die Neusiedler/innen der früheren Jahre durch Landzuteilung und Startkredite noch weitgehend von staatlicher Seite unterstützt worden waren, fand die Migrationswelle der 70er- und 80er-Jahre zunehmend selbst organisiert und mit geringer staatlicher Hilfeleistung statt. Zudem stiessen die Ausgewanderten auf Widerstand der ansässigen Grossgrundbesitzer und mussten sich ihre Landstücke durch Besetzungen und langwierige Verhandlungen erstreiten. Diese unterschiedlichen Bedingungen prägten auch die Gemeinschaftsentwicklung und Organisationsstrukturen in den Siedlungen: In staatlich geplanten und mit externer Unterstützung aufgebauten "Colonias" sind auch heute noch schwache, wenig aktive Bauernorganisationen zu finden, ganz im Gegensatz zu den gut organisierten und aktiv am Gemeinschaftsprozess beteiligten Migrationsgruppen, die sich ihr Land erkämpfen mussten.

Werte wie Reziprozität und gegenseitige Hilfe, die im Ursprungsgebiet tragend waren, werden nur mehr in Siedlungen mit hoher Homogenität der Herkunft gelebt. Unter Familien aus unterschiedlichen Herkunftsorten ist der Individualismus stark ausgeprägt. Gemeinschaftliche soziale oder produktive Aktivitäten sind nur schwer realisierbar und meist von nur kurzer Dauer. Ist das unmittelbare Ziel erreicht, brechen Interessengemeinschaften wieder auseinander. Unter diesen Umständen ist der Aufbau einer stabilen Basisorganisation äusserst schwierig, was auch das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) während seiner langjährigen Arbeit in diesem Gebiet immer wieder erfahren musste.

Gesundheitsversorgung in den Neusiedlungen

Die Organisation PROSINPA (Projecto de Salud Integral Nuevo Palmar) wurde 1992 von jenen Bauernfamilien gegründet, die neun Jahre zuvor aus Otuyo Alta migriert waren und die Colonia Nuevo Palmar gegründet hatten. Fünf Nachbarsiedlungen schlossen sich ihnen an. Die Verbundenheit der Bewohner von Nuevo Palmar mit der Herkunftsregion blieb bestehen, so dass bis heute gegenseitig Wissen ausgetauscht wird und auch die fünf Nachbarsiedlungen aus den Erfahrungen von Otuyo Alta lernen können.

Das Schweizerische Rote Kreuz unterstützt seine Partnerorganisation PROSINPA beim Aufbau der Basisgesundheitsversorgung. Neben der Betreibung eines Gesundheitszentrums, das ins staatliche Referenzsystem integriert ist, wird Gesundheitsprävention geleistet. Dazu erhalten Gesundheitspromotorinnen und –promotoren eine Ausbildung in den Bereichen erste Hilfe, Schwangerschafts-/Säuglingskontrolle, Ernährung und Hygiene. Die Promotoren und Promotorinnen gehören PROSINPA an, die für die Planung aller Aktivitäten verantwortlich ist, und arbeiten eng mit dem vom Ministerium bezahlten Arzt des Zentrums zusammen. Das SRK unterstützt PROSINPA auch in der Frauenförderung, berät die Bauern bei der Zonenplanung, der Ausarbeitung von alternativen Produktionsformen und der verbesserten Erntelagerung.

Die grösste Herausforderung war die Entwicklung von PROSINPA zu einer Basisorganisation, welche die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung artikuliert und das Projekt als Hauptverantwortliche durchführt. Der stark ausgeprägte Individualismus und die zunehmend härtere wirtschaftliche Situation der Siedlerfamilien erforderten einen langen und schwierigen Prozess der Gemeinschafts- und Organisationsentwicklung. Von Anfang an legte das SRK Wert auf die Eigenverantwortung der Partnerorganisation in Planung, Durchführung und Evaluation des Projektes sowie auf die Koordination der Aktivitäten mit staatlichen Strukturen. PROSINPA verwaltet selbständig die Projektmittel und verhandelt mit Vertretern des Municipios die ihnen im gesetzlichen Rahmen zustehenden Beiträge für Gesundheit, Erziehung und Infrastruktur. PROSINPA ist mittlerweile ein von allen Seiten akzeptierter Partner in der Entwicklung der Region.

Nach 8-jähriger Zusammenarbeit mit dem SRK hat PROSINPA die gesteckten Ziele weitgehend erreicht. Doch trotz diesen erfolgreichen Resultaten ist die Zukunft der Neusiedler/innen ungewiss: In Bolivien liegt die Grenze der absoluten Armut bei einem jährlichen Einkommen von 2'600 US$ pro Familie. Das durchschnittliche Einkommen der Bauernfamilien in San Julian betrug 1998 jedoch lediglich 960 US$. Strukturelle Veränderungen im Produktionsbereich sind dringend nötig, damit die ansässigen Menschen auch zukünftig ein Auskommen finden und nicht ein weiteres Mal zur Migration gezwungen werden.

Verena Wieland ist Programmverantwortliche beim Schweizerischen Roten Kreuz SRK