Gesundheitszusammenarbeit in Haiti nach den Naturkatastrophen

Geben und Nehmen im Gleichgewicht halten

Von Rolf Maibach

Wie kann man als relativ kleines 120-Bettenspital mit einem Einzugsgebiet von gut 300'000 Einwohnern einen plötzlichen Ansturm von über 1300 Verletzten, zumeist mit offenen Frakturen, bewältigen? Wie reagiert man auf eine Choleraepidemie mit täglich bis zu 250 Schwerkranken, zusätzlich zu den „normalen“ Patienten in einem vorher Cholera freien Land? Gibt es Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Katastrophenbewältigung einigermassen gelingt?

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Solche Fragen stellt man sich nicht im Laufe einer wirklichen Katastrophe. Da funktioniert man einfach, ein Spital funktioniert einfach, man trifft Entscheidungen aus dem hohlen Bauch heraus und leitet pragmatisch, könnte man sagen. Das stimmt zwar zum Teil, aber so einfach ist es dann doch nicht! Damit man in einer Katastrophensituation effizient und erfolgreich arbeiten kann, muss für ein Drittweltspital eine ganze Menge von Voraussetzungen erfüllt sein.

Von einem amerikanischen zu einem haitianischen Spital

Das Hôpital Albert Schweitzer Haiti (HAS) wurde 1956 vom amerikanischen Ehepaar Larimer und Gwen Mellon im Artibonite Tal Zentral-Haitis nach dem Vorbild des Lambarene Spitals von Albert Schweitzer gegründet. Es war in den ersten Jahrzehnten ein vorwiegend amerikanisch-europäisches Spital; das heisst, fast alle qualifizierten Angestellten – Ärzte und Pflegepersonal – waren Ausländer. Sukzessive wurden zuerst die Krankenschwestern und später auch die Ärzte durch einheimische haitianische Kräfte ersetzt. Aber die leitenden Angestellten blieben häufig Nicht-Haitianer. Die spitalinterne Fachsprache war englisch. Das Hôpital Albert Schweitzer war zwar weit herum als ausgezeichnete Institution bekannt und wurde durch das System von Dispensaires in den umgebenden Bergen als Modell der Grundversorgung in der Dritten Welt sogar weltberühmt (Berggren et al, New England Journal of Medicine 1981 u.a.m.). Aber in Haiti wurde das Spital als ausländisches Spital und sogar als Fremdkörper wahrgenommen. Haitianische Ärzte blieben an den täglichen Rapporten und Fortbildungen schon aus sprachlich-kulturellen Gründen häufig im Hintergrund.

Geändert wurde die Situation durch verschiedene Massnahmen. Die bessere Ausbildung der haitianischen Fachkräfte und die Attraktivität des HAS als interessante und verlässliche Arbeitsstelle machten es möglich, dass vermehrt gut qualifizierte haitianische Pflegefachleute und Ärzte am Spital angestellt werden konnten. Weiter wurde Englisch als Fachsprache durch Französisch ersetzt und am Krankenbett das Kreolische gefördert. Simultanübersetzungen in Englisch bei Konferenzen, Fortbildungen und Visiten machen die wichtige internationale Anbindung des Spitals für notwendige ausländische Spezialisten, meist Kurzzeit-Volontäre in Chirurgie, Pädiatrie und Geburtshilfe, aber weiterhin möglich.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe: Entschlossenheit, Respekt, Bescheidenheit und Liebe!

In der Vergangenheit wurde das Spital wiederholt durch lokale Unruhen erschüttert. Auch geringfügige Restrukturierungen konnten Streiks der Belegschaft und auch gewaltsame Aufstände provozieren, unterstützt durch Teile der lokalen Bevölkerung. Das sogenannte „Dechoukaj“ (Ausreissen mit Stumpf und Stiel) ist eine aus der Baby Doc (Jean-Claude Duvalier) Zeit und dem Voudou stammende Praxis von unterdrückten Untergebenen, mit welcher gegen verhasste Diktatoren und Vorgesetzte gewaltsam vorgegangen wurde. Einen solchen gewaltsamen Aufstand oder eben „Dechoukaj“ gab es im Januar 2008, als mehrere ausländische leitende Angestellte das Spital und die Region innert weniger Stunden verlassen mussten. Das Hôpital Albert Schweitzer wurde dadurch in eine tiefe Krise gerissen, Führungskräfte fehlten, die Moral war auf dem Tiefpunkt und sogar der Fortbestand des Spitals war gefährdet.

In dieser schwierigen Situation musste ich die medizinische Leitung des Spitals übernehmen und mit deutlich weniger leitenden Angestellten auskommen. Letztlich war das aber kein Nachteil: Die Straffung der Führungsstrukturen schuf eine klarere und direktere Kommunikation. Fast von selbst stellte sich eine neue Führungsstrategie ein: Entschlossene Zusammenarbeit auf Augenhöhe und nicht „top-down“ mit grossem gegenseitigem Respekt, Bescheidenheit und sogar mit Liebe füreinander: Man kann nicht effiziente Entwicklungs-Zusammenarbeit betreiben, ohne die Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, gern zu haben!

Die Lebensbewältigung der einfachen Menschen in unserem Artibonite Tal unter schwierigsten Verhältnissen war uns ein gutes Vorbild für eine entschlossene, aber respektvolle und bescheidene Haltung unseren Patienten und Mitarbeitern gegenüber. Wir hatten Glück, eine Gruppe von jungen haitianischen Ärzten und später auch Pflegefachfrauen am Spital zu haben, die sich sofort mitreissen liessen und einen neuen Teamgeist prägten. Neben der Zusammenarbeit auf Augenhöhe beinhaltete dieser neue Geist auch ein klares Identitätsbewusstsein, das sich auch auf die andern Angestellten und ihre Familien übertrug: „Das ist unser Spital und es ist das beste Spital in Haiti!“

Als kleinen Beitrag zur interkulturellen Kommunikation begann ich jeden Morgenrapport mit den Ärzten und dem leitenden Spitalpersonal mit einem der unzähligen haitianischen (kreolischen) Sprichwörter, die die Haitianer wegen ihrer Vielschichtigkeit heiss lieben und gerne diskutieren. Der Übergang zu rein medizinisch-organisatorischen Themen ergab sich dadurch von selbst. Sogar die vor der Dechoukaj begonnene Restrukturierung – der in einem Drittweltland besonders schwierige Abbau von überflüssigen Stellen – liess sich in dieser Atmosphäre von Respekt mit gradliniger Entschlossenheit ohne nennenswerte Zwischenfälle und erst noch effizient durchführen.

Praktische Katastrophenbewältigung

Die tägliche Beanspruchung durch eine grosse Anzahl schwer kranker Patienten würden wir in der Schweiz wohl bereits als Katastrophensituation bezeichnen (siehe Brigitte Hofer im MMS Bulletin Nr. 95, Januar 2005 „ Der ganz alltägliche Wahnsinn“), auch wenn sich die Pflegesituation am HAS in den letzten Jahren deutlich gebessert hatte. Die Überschwemmungen in Gonaive, dem Hauptort des Artibonite Tales, und bei uns nach vier Wirbelstürmen im Sommer 2008 waren dann die eigentliche erste Katastrophe. Unser Spital und auch Gonaive waren während vielen Wochen wegen Brückeneinstürzen auf beiden Zufahrtsstrassen vom restlichen Haiti und insbesondere von der Hauptstadt Port-au-Prince abgeschnitten, so dass wir zusätzlich zu unseren Patienten auch viele Patienten aus dem 150'000 Einwohner zählenden Gonaive aufnehmen mussten. Die Spitäler waren dort durch Überschwemmungen lahm gelegt. Zuerst wurden Verletzte gebracht, später Pneumonien und andere Infektionskrankheiten. Immer auch dabei waren Fälle von Mangelernährung. Wir lernten in dieser Situation aus beschränkten Möglichkeiten (eingeschränkter Medikamentennachschub, Mangel an Treibstoffen für Stromgeneratoren und Transporte etc.) unsere logistischen Abläufe vorausblickend zu optimieren. Unser einfaches medizinisches Katastrophenprotokoll (fortlaufende Nummerierung aller Patienten mit Klebern auf der Stirn, Checklist mit den bekannten Untersuchungen, Prioritäten, speditives Legen einer Leitung und gleichzeitige Blutentnahme für das Labor, Zusatzuntersuchungen wie Röntgen, Ultraschall) hatten wir zuvor bereits für grosse Verkehrsunfälle entwickelt. Bei Lastwagenunfällen kamen zuweilen mehr als 50 Verletzte gleichzeitig, und wir konnten erreichen, dass alle Patienten innert 20 Minuten eine erste Triageuntersuchung, Infusion und Blutentnahme für das Labor bekamen und die höchsten Prioritäten bereits im Operationssaal waren. Dieses Protokoll verwendeten wir dann, teilweise in abgeänderter Form bei den weiteren Katastrophen (Erdbeben, Cholera).

Das Erdbeben vom 12. Januar 2010

Unser Spital blieb vom Erdbeben verschont. Da aber die meisten Spitäler in der Hauptstadt zerstört waren, wurden bereits wenige Stunden nach dem Beben schwer verletzte Menschen zu hunderten, zumeist auf Lastwagenbrücken zu uns gebracht. Unser Spital war sofort überfüllt und die Verletzten mussten draussen in den Höfen auf eilig zugekauften Matratzen gelagert werden. Unsere haitianischen Ärzte arbeiteten in den ersten Tagen rund um die Uhr, bis dann bald Verstärkung aus den USA, Kanada und der Schweiz kam. Obwohl die Telefonleitungen in Haiti unterbrochen waren, konnten wir dank unserem Satelliten-Internet, dessen Kapazität kurz nach dem Beben durch einen Sponsor erweitert werden konnte, und unseren guten früheren Kontakten in wenigen Tagen ca. 80 ausländische Volontäre (Chirurgen, Anästhesisten, Orthopäden und Pflegepersonal) rekrutieren. So konnte in unseren drei Operationssälen praktisch rund um die Uhr operiert werden. Etwa die Hälfte dieser Spezialisten kannten wir bereits von früheren Volontäreinsätzen zu „normalen“ Zeiten - ein entscheidender Vorteil! Initial wurden viele Thorax-, Bauch- Wirbelsäule- und Kopfverletzungen behandelt; aber bald ging es praktisch nur noch um die speditive Versorgung der offenen Extremitäten-Frakturen – bei jedem schweren Erdbeben die häufigsten (90%) Verletzungen, um Infektionen und dadurch Amputationen oder sogar Todesfällen vorzubeugen. So versorgten wir in den ersten 19 Tagen über 1300 Verletzte aus dem Erdbebengebiet zusätzlich zu den regulären Patienten im Spital.

In den ersten Tagen nach dem Beben war ich selbst gar nicht vor Ort, sondern erst in der Schweiz in den Ferien und dann mit dem Korps der Humanitären Hilfe der DEZA in der Hauptstadt Port-au-Prince beschäftigt. Als ich dann nach vier Tagen im HAS eintraf, waren alle wichtigen Vorkehrungen bereits getroffen worden. Die ausgezeichnete Moral der haitianischen Ärzte und des übrigen Personals sowie die Erfahrungen der letzten Katastrophe genügten vollkommen, um eine gute erste Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Ich war tief beeindruckt. Trotzdem arbeiteten wir die nächsten zwei Monate ohne Freizeit und nur mit kurzen nächtlichen Pausen, um nach den Akutbehandlungen auch die auswärtig unvollständig oder ungenügend behandelten Patienten versorgen zu können.

Der haushälterische Umgang mit den eigenen und befreundeten Kräften war ausserordentlich wichtig – Geben und Nehmen muss auch in einer Katastrophe in einem gleichwertigen Verhältnis bleiben: Wir sollen schlussendlich immer so viel gewinnen, wie wir geben können! Nur so können wir dem „Helfersyndrom“ vorbeugen und nachhaltig wirken. Mit dem Aufbau der ersten effizienten Prothesen-Werkstatt und Rehabilitationsklinik in Haiti, nur zwei Monate nach dem Beben – über viele Monate mit 40 neuen Prothesen pro Woche die grösste der westlichen Welt – ging mein langjähriger Traum in Erfüllung! Weit über 1000 verletzte Menschen, die wieder laufen, lachen und tanzen konnten, entschädigten uns mit ihrer Freude und Dankbarkeit für viele Frustrationen der vorausgehenden Wochen.

Und nun noch die Cholera….

Meine erfahrene Nachfolgerin vor Ort, Frau Dr. Silvia Ernst, war Mitte Oktober 2010, kurz nach ihrer Ankunft, mit dem Ausbruch der Cholera konfrontiert, die in den Reisfeldern des Artibonite Tals, praktisch vor unserer Haustüre ausbrach. Sie stellte rasch die Diagnose und konnte so sofort hunderte von schwer Kranken korrekt behandeln. Ausserdem galt es, die übrigen Patienten des Spitals zu schützen. Sie errichtete neben dem Spital ein Cholera Treatment Centre (CTC) für 220 Erwachsene und Kinder in einer nicht mehr benützten Werkstatt und mit zusätzlichen Zelten sowie sanitären Anlagen. Im Gegensatz zu den umliegenden, durch Cholera verseuchten Regierungsspitälern konnte so das Zentralspital vor Cholera abgeschirmt werden und weiterhin als Referenzspital funktionieren. Silvia Ernst konnte für die rasche Umsetzung ihrer Strategie auf die Katastrophenerfahrung, die Improvisationsfähigkeit und die gute Moral ihrer Mitarbeiter zählen. Bei der zweiten Epidemie im Juni dieses Jahres (Regenzeit) funktionierten die Regierungsspitäler praktisch nicht mehr, da die ausländischen Hilfsorganisationen Ende 2010 abgezogen wurden. Wieder war das HAS allein für einen grossen Teil der Cholerakranken des Tals zuständig.

Was können wir lernen?

Nach dem Erdbeben kamen tausende von Hilfsorganisationen mit sehr unterschiedlicher Kompetenz und Effizienz ins Land. Verletzte wurden häufig unzureichend und sogar falsch behandelt (zu aggressive Amputationen!). Rasch kam es zu einem Verkehrszusammenbruch der ohnehin schon verstopften Drei- Millionenstadt. Die Journalisten sprachen denn auch von einem eigentlichen „Tsunami der Hilfswerke“. Staatliche Führung und Koordination fehlten praktisch vollständig. Endlose tägliche Koordinationssitzungen der so unterschiedlich kompetenten Hilfswerke versuchten meist ohne grossen Erfolg, eine gewisse Koordination zu erreichen. So war das nächste Schlagwort der Journalisten „Republik der Hilfswerke – eine Horrorvision“ (Münger/Zucker im Tagesanzeiger vom 6. Nov. 2010)

Katastrophenhilfe sollte primär durch staatliche Führung koordiniert werden. Das entspricht auch den Prinzipien der OECD für Internationales Engagement in fragilen Staaten und Situationen (Juni 2007). Ist das, wie in Haiti, nicht möglich, so soll das Engagement nach initialer Nothilfe (wenige Tage) auf den vor Ort bestehenden Institutionen und Organisationen mit entsprechender Infrastruktur und Erfahrung basieren. Die auswärtigen Hilfsorganisationen sollten dabei eine bescheidene Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe und nicht Besserwisserei „top-down“ mit im Ausland vorgefertigten Plänen anstreben und mit kultureller Sensibilität, Respekt und Liebe zu den einheimischen Mitarbeitern und Patienten arbeiten. Gerade in Haiti waren wir immer wieder beeindruckt über die hohe Improvisationsfähigkeit unserer haitianischen Mitarbeiter und konnten viel von ihnen lernen. Die Grundlagen der Prinzipien der OECD (siehe oben) wie „Kontext als Ausgangspunkt nehmen“ und „Schaden vermeiden“ können wir gut übernehmen, ebenso die in den Prinzipien erwähnten praktischen Anwendungen, insbesondere „schnell handeln…aber lange genug engagiert bleiben, damit sich Erfolge einstellen können“. Wenn wir am Schluss eines Einsatzes ein Land mit dem Bewusstsein verlassen können, dass wir soviel erhalten haben, wie wir geben konnten, dann war unser Einsatz wahrscheinlich erfolgreich.

*Rolf Maibach, Hôpital Albert Schweitzer/Haiti und Ilanz/Schweiz Bündner Partnerschaft Hôpital Albert Schweitzer, Haiti. Kontakt: maibach@kns.ch