Pflege im Kontext des Gesundheitssystem

Systemdenken in Global Health Nursing – Luxus oder Notwendigkeit?

Von Katri Eskola und Christine Vetter

Das Gesundheitswesen wird immer komplexer, nicht nur in der Schweiz. Die Probleme im System sind in der Regel sehr ähnlich, egal ob es um ein ungenügendes Befolgen der Bevölkerung bezüglich dem Impfen in Indien oder um die schleppende Implementation von Advanced Nursing Practice (ANP)- Nurses in der Schweiz geht. Die Pflege ist ein Subsystem im Gesundheitswesen, und sollte deswegen immer im gesamten Kontext betrachtet werden. Systemdenken ist eine Methode mit dem Ansatz das System zu beschreiben, zu analysieren, kausale Zusammenhänge zu entdecken, und somit das System zu stärken.

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Systemdenken in Global Health Nursing – Luxus oder Notwendigkeit?

Doctors at Juba Teaching Hospital(© Elizabeth Deacon/IRIN)

 

In der Schweiz existiert grundsätzlich ein gut ausgebautes Gesundheitssystem. Der finanzielle Einsatz ist hoch und es ist fraglich, wie lange das Niveau gehalten werden kann. Es zeichnet sich bereits ein Personal- und Fachkräftemangel ab, um dem entgegenzuwirken wurde unter anderem die Berufsgruppe ANP in der Schweiz eingeführt. Sie sollen vor allem in der Betreuung chronisch kranker Menschen eingesetzt werden. Allerdings ist der Titel der ANP in der Schweiz noch immer nicht geschützt. Ausbildung, Praxiseinsatz und Weiterbildung von ANP‘s sind nicht gesetzlich reglementiert. Ebenso arbeiten die Hochschulen noch daran die Weiterbildung aufeinander abzustimmen und die Fachbereiche, in denen ANP‘s eingesetzt werden, zu definieren. Des Weiteren ist die Weiterbildung mit einem Zertifikat abzuschliessen und eine einheitliche Stellenbeschreibung zu schaffen. Letztlich sind ebenso die Finanzierung und  Abrechnung der Leistungen einer ANP mit den Krankenkassen nicht geregelt.

In Bezug auf den Fachkräftemangel unterscheidet sich die Schweiz als high income country nicht vom Personalmangel in einem low- und middle income country (LMIC). Die Gesundheitsversorgung in den LIMC leiden nicht nur unter medizinischem Fachkräftemangel, sondern auch unter weiteren systemischen Faktoren, wie z. B. einem schwachen Führungs- und Verwaltungsapparat, fehlender Infrastruktur, Informationen zu Krankheiten und Prävention und Gesundheitsangeboten. Ausserdem können Schwierigkeiten auf der Ebene der Versorgungsempfänger im Gesundheitssystem entstehen, wie z. B. die fehlende Teilnahme an Gesundheitsprojekten oder Wissen und Verhalten bezüglich Prävention. Systemdenken als Methode wäre eine Möglichkeit zur Analyse, um Faktoren für diesen Fachkräftemangel herauszufinden und ihm entgegenzuwirken.

Systemdenken               

Systemdenken betrachtet die Gesundheitssysteme ganzheitlich, schliesst alle Akteure und ihre Interaktionen ein und betrachtet sie sowohl im regionalen als auch im nationalen Kontext. Die systematische Betrachtung  des Gesundheitssektors führt zu einem verbesserten Verständnis des Systems, verstärkt bestehende Synergien, reduziert negative Einflüsse. Systemdenken ist ein Denkansatz, der die zugrundeliegenden Merkmale und Zusammenhänge in einem System aufdeckt. Es eignet sich besonders in Systemen, die sich stetig im Wandel befinden, so wie das Gesundheitssystem. Die Methode beruht auf der Annahme, dass ein System aus mehreren Subsystemen mit diversen Akteuren besteht, welche miteinander in komplexer Weise interagieren. Dabei müssen alle Akteure, Zusammenhänge und Interaktionen innerhalb des Systems bekannt sein, sowie der soziale, kulturelle, legale und wirtschaftliche Kontext in dem das System eingebettet ist.

Systeme, wie das Gesundheitssystem, weisen bestimmte Merkmale auf. So unterliegt  ein System einerseits einem ständigen Wandel  und reguliert sich aber in der Regel selbst. Ausserdem  befindet sich das Gesamtsystem in einer starken Abhängigkeit mit den existierenden Subsystemen. Alle Interventionen führen im System zu positiven oder negativen Feedback-Reaktionen. Die Zusammenhänge erfolgen nicht linear, sondern in Zyklen und Schleifen, sogenannten Causal Loops. Um die Interaktionen im System zu visualisieren benutzt Systemdenken häufig  Causal Loop Diagrams, welche die positiven und negativen Zusammenhänge zwischen den Akteuren und Systemen graphisch darstellen und erklären.  Des Weiteren sind die Interaktionen abhängig von Zeit, da sich kurzfristige Zusammenhänge von den langfristigen Folgen unterscheiden. Systeme neigen letztlich zur gewissen Änderungsresistenz, insbesondere wenn die Subsysteme verschiedenen Zielen folgen. Aus diesen Merkmalen werden die Kernelemente des Systemdenkens abgeleitet:

1. Führen und Fördern eines Systems. Erlassen der Regeln zur Steuerung und Leiten des Systems, Zielrichtung geben durch Visionen und Führung, Verbote ersetzen Regeln und Rahmen, Zustimmung durch Anerkennung und Angebot der Ressourcen;

2. Netzwerke eines Systems verstehen und fördern. Es ist bedeutsam die Stakeholder, Akteure und Institutionen im System zu erkennen, sie zu verstehen und einzubinden.

3. Dynamiken des Systems erfassen. Dient der konzeptuellen Modellbildung und verstehen der Dynamiken und deren Wandel und Einfluss;

4. Systemkenntnis.  Fördern des bestehenden Wissens und der Weg des Informationsflusses und die Feedbackprozessketten, bieten Informationen und Beweise für führende Entscheidungen.

 

Abbildung  1. Die sechs Building Blocks der WHO

 

In Bezug auf die einzelnen Kernelemente des Gesundheitssystems wird von der World Health Organization (WHO) ein Rahmenmodell in Gesundheitssystemen vorgegeben, die sechs „building blocks“, welches das Gesamtsystem beschreibt (Abbildung 1). Diese „building blocks“ dienen der Erfassung des Gesundheitssystems, sowie dem Verständnis der Auswirkungen von Interventionen darauf. Durch ausreichende Ressourcen ohne deren Verschwendung werden wirksame, sichere und personelle und nicht personelle Massnahmen angeboten, sobald diese benötigt werden (Service delivery). Vorhandenes Gesundheitspersonal als Ressource wird bedarfsorientiert, wirksam und fair dort eingesetzt, wo es benötigt wird (health workforce). Ausserdem werden Gesundheitsinformationen benötigt, um die Erzeugung, Analyse, Verbreitung und Nutzung von zuverlässigen und aktuellen Informationen zu Gesundheitsfaktoren, Gesundheitssystemen und Gesundheitsstatus zu generieren (health information). Es wird ein wirtschaftlicher Gebrauch von Medizinalprodukten, Impfstoffen und Technologien, die dem neusten wissenschaftlichen Standard entsprechen, angestrebt, um die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Gesundheit zu steigern (Medical technology). Erhebung adäquater Finanzierung für die Gesundheit ist gewährleistet, so dass Menschen die nötige Behandlung zuteilwird, ohne dass dadurch eine zu starke finanzielle Belastung erleben (health financing). Strategische und politische Rahmenbedingungen sichern in Kombination mit Aufsicht, Koalitionen, Verantwortung und Regulation den Fokus auf das System Design (leadership und governance). Die Anwendung des Systemdenkens in Praxisprojekten befolgt schliesslich klare Schritte zur Planung, Implementierung und Evaluation der Interventionen.

System Thinking

 Gängige Methoden

Dynamisches Denken

Betrachten des Problems im Kontext des Verhaltens über eine bestimmte Zeit

 Statisches Denken

 Fokus auf Details

System als Ursachen-Denken

Verantwortung für das Verhalten bei den Akteuren

 System als Effekt-Denken

 Verhalten wird von aussen verursacht

«Forest»-Denken

Verstehen der Zusammenhänge im System

 

 «Tree-by-Tree»-Denken

 Alle Details kennen um das Ganze zu kennen

 

Operationales Denken

Fokus auf Kausalität, Verständnis für das Verhalten im System

 Faktoren Denken

 Auflisten der Faktoren, die Resultate                               beeinflussen oder mit ihnen korrelieren

«Loop»-Denken

Kausalität als dynamischer Prozess

 «straight-line»-Denken

 Kausalität in eine Richtung

Schlussfolgerung

Noch nie war es so wichtig und nötig die Gesundheitssysteme zu stärken wie jetzt. Viele Akteure und Sponsoren der Gesundheitswesen haben erkannt, dass ganzheitliches Betrachten der aller Beteiligten im jeweiligen Kontext unerlässlich ist um erfolgreich und nachhaltig zu agieren. Die Problemlösung wird jedoch in der Regel nicht systematisch angegangen. Systemdenken als Methode stärkt die Gesundheitsversorgung, insbesondere bei der Planung und Evaluation der Interventionen. Einige Projekte im Gesundheitswesen haben Systemdenken in Teilbereichen der Gesundheitsversorgung (z.B. AIDS-Projekte, Management von Diabetes und Übergewicht) benutzt, um die Zusammenhänge innerhalb eines Systems zu untersuchen und zu verstehen und um lösungsorientiert die Projekte nachhaltig zu implementieren. Systemdenken als Methode ist komplex, aufwändig, zeitintensiv und braucht umfassendes Wissen. Trotzdem hat die Methode Potenzial, welches noch zu wenig wahrgenommen wird. Einerseits wird die Komplexität des ganzen Gesundheitssystems aufgedeckt und verstanden und anderseits wird dieses Wissen in die Entwicklung neuer Projekte und deren Evaluation investiert. Systemdenken bietet eine effektive, lösungsorientierte und erfolgreiche Herangehensweise für komplexe Settings wie das Gesundheitswesen in der Schweiz und in den LMIC und kann diese nachhaltig verstärken.

Die Gesundheitssysteme werden immer komplexer, und die Gesellschaft ist mit ihrer Steuerung überfordert. Wir brauchen Fachleute, die komplexe soziale Systeme verstehen und Erfahrung in ihrer Gestaltung haben. Ein System ist so stark wie sein schwächstes Glied.


Geneva Health Forum 2014:

Understanding the Growing Complexity of Governing Immunization Services in Kerala, India

 (Joe Varghese, Raman Kutty, Ligia Paina, Taghreed Adam)               

Mitte der 90iger wurde ein Impfprogramm für Indien eingeführt, welches 27 Mio Kinder und 30 Mio schwangere Frauen jährlich einschloss. Es war eines der grössten weltweit. In Kerala ging nach der Basisimmunisierung bereits in den späten 90igern die Impfungsrate in einigen Regionen Keralas zurück. Eine qualitative Untersuchung, dem Systemdenken,  fand statt, um dieses Phänomen zu untersuchen. Mit dem Ergebnis, dass es einen Phasenübergang der Akzeptanz bei der Implementierung gab. Die beeinflussenden Faktoren waren unterschiedlich. Ein Grund für den Rückgang war der mediale negative Einfluss auf die Männer, die ihre Frauen während der Resistenzphase dann daran hinderten, sich und die Kinder zu impfen. Denn in der Implementierung des Impfplanes entschieden waren es vor allem die Frauen, die die Entscheidung zur Impfung trafen. In der Akzeptanzphase des Projektes waren es aber dann die Männer, die die Entscheidung zur Impfung trafen. Diese waren durch die Medien stark beeinflusst. In den Medien wurden vor allem die negativen Folgen des Impfens thematisiert.  Es fiel ebenfalls auf, dass die Impfkampagnen nicht auf die Männer, sondern auf Frauen abzielten. Ausserdem wurde entdeckt, dass manche der Naturheilkunde treu blieben. Durch die Untersuchung wurde die Wichtigkeit der sozialen Netzwerke aufgedeckt.

Christine Vetter, Masterstudentin, Institut für Pflegewissenschaften, Universität Basel      Pflegeexpertin Chirurgie,  Stadtspital Triemli, Zürich. Katri Eskola, Masterstudentin, Institut für Pflegewissenschaften, Universität Basel
Wissenschaftliche Hilfsassistentin, Institut für Pflegewissenschaften, Universität Basel
Pflegeexpertin Pädiatrie, Stadtspital Triemli, Zürich