Von Karolin Pfeiffer, Jochen Ehmer und Michael A. Hobbins
Der medizinische Fortschritt der vergangenen Jahre ist eindrücklich - die meisten Krankheitsfälle in armen Ländern können mit bestehenden biomedizinischen Interventionen verhindert oder behandelt werden. Doch wie diese Interventionen die Menschen erreichen können, stellt eine der grossen Herausforderungen dar. Genau hier muss umsetzungsorientierte Forschung der internationalen Gesundheitszusammenarbeit ansetzen.
Der Schlüssel zur effektiven Umsetzungsforschung liegt an der Nähe zum geschehen / SolidarMed © Marten Bril
Brandender Applaus für Myron Cohen. Im Juli 2015 stellt der Professor aus North Carolina im Kongresszentrum Vancouver die Folgeresultate einer Studie zum Übertragungsrisiko von HIV vor - ein Meilenstein biomedizinischer HIV Forschung. Was bis vor kurzem nicht für möglich gehalten wurde, es ist nun wahr: Zum ersten Mal kann HIV nicht nur behandelt, sondern als weltweite Epidemie auch gestoppt werden (HPTN 52 Network: A Randomized Trial to Evaluate the Effectiveness of Antiretroviral Therapy). Die Erfolge bei HIV stehen beispielhaft für die Fortschritte, die auch in anderen Gebieten erzielt wurden. Denn was für HIV gilt, gilt auch für Malaria, Durchfall, Lungenentzündung oder Masern. Sie alle kann man heute nicht nur effektiv verhindern und behandeln - man kann sie auch global eindämmen.
Dass dies in krassem Widerspruch zur Welt steht, so wie wir sie jeden Tag erleben, das weiss jeder. Warum also wächst die Zahl der HIV–Infizierten weiter an? Warum sterben zehn Kinder pro Minute an vermeidbaren Ursachen? Und 290‘000 Frauen pro Jahr bei Schwangerschaft und Geburt? Die Antwort ist einfach: Es fehlt nicht an Know-How. Es fehlt an politischem Willen, leistungsfähigen Gesundheitssystemen und Geld.
Die meisten Krankheitsfälle in armen Ländern können mit bestehenden biomedizinischen Interventionen verhindert und behandelt werden. Wie diese Interventionen die Menschen, die sie benötigen, am besten erreichen, das jedoch ist offen. Der Artikel „Maternal and perinatal health research priorities beyond 2015: a prioritization exercise” bestätigt dies: 89% der wichtigsten Forschungsfragen beziehen sich auf die verbesserte Umsetzung bekannter Interventionen und nur 11% auf die Entwicklung neuer Medikamente (Maternal and perinatal health research priorities beyond 2015: an international survey and prioritization exercise; Joao Paulo Souza et al, Reproductive Health 2014) Biomedizin benötigt Umsetzungsforschung, um ihr Potential voll zu entfalten. Dies ist auch in der Schweiz so, wo der Bundesrat am 24. Juni 2015 ein Nationales Forschungsprogramm “Gesundheitsversorgung“ lanciert hat. Für das Erreichen nachhaltiger Entwicklungsziele ist Umsetzungsforschung deshalb von grosser Bedeutung und relevant.
Das beste Medikament ist nutzlos, wenn es nicht eingenommen wird, von den entstandenen Fehlinvestitionen einmal zu schweigen. Umsetzungsforschung beschäftigt sich deshalb weniger mit Fragen nach neuen Wirkstoffen, Diagnostika oder Impfstoffen („was“ wirkt), sondern mit Fragen nach dem besseren Einsatz der Wirkstoffe. Die optimale Anwendung von Malaria-Schnelltests oder Gestaltung des Managements chronischer Erkrankungen sind Beispiele dafür. Umsetzungsforschung kümmert sich also weniger darum, was wirkt, sondern darum, wie etwas wirkt und wie man die Anwendung vor Ort verbessern kann (Operational research in low-income countries: what, why, and how? Rony Zachariah et al.; The Lancet Infectious Diseases; Volume 9, No. 11, p711–717, November 2009).
Auf viele wirkt der Begriff „Forschung“ erst einmal abschreckend. Doch Umsetzungsforschung umfasst eine breite Palette qualitativer und quantitativer Methoden. Deren Einsatz ist nicht immer gleich anspruchsvoll. Randomisierte Studien, qualitative Analysen, deskriptive Kohorten und Fallbeschreibungen sind nur einige Beispiele. Gemeinsam ist ihnen das Zugrundeliegen wissenschaftlicher Methodik und Merkmale wie Reliabilität, Objektivität, Validität, statistische Genauigkeit oder Zielrichtung ( Implementation research in health, a practical guide. Peters et al. WHO Alliance for healh policy and systems research). Die Beschäftigung mit solchen Methoden zwingt Entwicklungsakteure zum kritischen Hinterfragen ihrer Arbeit. Und zum Aneignen von Kompetenzen, die auch für die Programmarbeit hilfreich sind. Denn Fragen nach Wirkung und Kausalität stehen immer auch im Fokus von Entwicklungsprogrammen.
Die Erkenntnisse aus der Umsetzungsforschung helfen also bei der Skalierung von Pilotinterventionen und der Verbesserung von Gesundheitssystemen. Das durch Umsetzungsforschung generierte Wissen bezieht sich jedoch auf einen spezifischen, lokalen Kontext. Und dieses Wissen kann, ganz im Sinne traditioneller „Plan-Do-Check-Act“–Zyklen, unmittelbar in lokale Programme zurückfliessen und diese verbessern (Operational Research to Improve Health Services - A Guide for Proposal Development; International Union against Tb and Lung Disease). Zur Legimitation von Umsetzungsforschung trägt diese direkte, lokale Verbesserung von Entwicklungsprogrammen massgeblich bei.
Forschung ist kein Kernbereich der internationalen Zusammenarbeit, das Implementieren von Entwicklungsprogrammen kein Schwerpunkt von Universitäten. Umsetzungsforschung aber braucht beides, und deshalb Zusammenarbeit (Letting HIV Transform Academia — embracing Implementation Science; Wafaa El Sadr et al; New England Journal of Medicine 2014; 370:1679-1681). Die unterschiedlichen Akteure können dabei voneinander lernen. Über die Relevanz von Forschungsfragen zum Beispiel, über Methoden oder Fachentwicklungen. Aber auch über unterschiedliche „Welten, Sprachen und Motivationsfaktoren“ im akademischen, politischen oder Entwicklungsumfeld. Die Formen der Zusammenarbeit sind vielfältig: Studien mandatieren, aktiv Forschung betreiben, lokale Forschung finanzieren, Daten in Netzwerke einspeisen; das sind nur einige Beispiele. Es gilt: Wachsen durch Öffnen.
Wer glaubt, dass politische Entscheidungen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden, der irrt.
Wer glaubt, dass politische Entscheidungen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden, der irrt. Wissenschaft, Politik und Implementierung finden selten zueinander -und oft in fragmentierten Welten statt. Umsetzungsforschung muss deshalb den Dialog mit anderen Akteuren suchen, und zwar aktiv und verständlich (Evidence-based policymaking in global health – the payoffs and pitfalls; Gavin Yamey, Richard Feachem, Evidence-Based Medicine (2011). Wenn Wissenschaftler prioritäre Fragestellungen verstehen, Politiker auf Basis wissenschaftlicher Grundlagen agieren und politische Prozesse lokal verstanden werden, dann ist Entwicklung möglich. Klaus Töpfer sagte einmal: Wir müssen vom Wissen zum Handeln kommen, und vom Handeln zum Wissen. Dialog ist die Voraussetzung für vernetztes Handeln - dies gilt auch für Umsetzungsforschung.
Ein wichtiges Ziel von Umsetzungsforschung ist immer auch das Schaffen lokaler Kapazitäten und die Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort. Dies kann manchmal lohnenswerter sein, als die wissenschaftliche Arbeit selbst, denn die Kollegen vor Ort profitieren nicht nur methodisch oder finanziell: Sie erleichtern die Aufnahme von Forschungsresultaten in die Gestaltung von Politik und fördern auf vielfältige Weise die Entwicklung von Gesundheitssystemen. Der Begriff „Partnerschaft“ ist für Umsetzungsforschung deshalb zentral.
Die Kombination von programmatischer Arbeit und Umsetzungsforschung ist zwar lohnenswert – sie muss aber auch finanziert werden. Für mittelgrosse Organisationen ist das schwierig, da viele Finanzierer lieber in neue Spitäler, Brunnen oder Moskitonetze investieren, als in die Ergebnisse einer Studie. Die Herausforderung, Umsetzungsforschung zu finanzieren ist nicht neu. Unter dem Motto „good research drives good programmes“ hat die Fachzeitschrift The Lancet schon 2007 gefordert, 10% programmatischer Finanzmittel in Umsetzungsforschung zu investieren. Kluge Kommunikation, strategische Führung und Durchhaltevermögen können hier zwar helfen, fehlende Finanzmittel können sie aber ersetzen. Ein Umdenken bei Finanzieren wäre hier sicherlich wünschenswert.
Ein klares Beispiel für die Bedeutung von Umsetzungsforschung lieferte erst kürzlich die WHO. Deren Expertenkomitee zu Immunisierungsfragen (SAGE) befand am 23. Oktober 2015 über einen möglichen Einsatz des weltweit ersten Malariaimpfstoffes RTS,S/AS01: Trotz positiver Bewertung durch die Europäische Medizinalagentur EMEA könne der Impfstoff deshalb noch nicht verteilt werden, weil seine Wirkung zwar unter Studienbedingungen, im realen Kontext armer Ländern jedoch noch nicht bewiesen sei - vor einer möglichen Anwendung stünde zunächst die Umsetzungsforschung (What next for the malaria RTS,S vaccine candidate? The Lancet, Vol 386 October 31, 2015). Gefragt sei nun die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Entwicklungsakteuren. Einmal mehr, könnte man denken.
What next for the malaria RTS,S vaccine candidate? The Lancet, Vol 386 October 31, 2015