Mangel- und Unterernährung in Entwicklungsländern

Mangelernährung umfassend bekämpfen

Von Sybille Mooser, Jonas Vollmer

Das vom Netzwerk Medicus Mundi Schweiz organisierte Symposium beleuchtete Unter- und Mangelernährung von verschiedenen Seiten: Es lieferte Lösungsvorschläge, warf aber auch weitere Fragen auf; es hob die Bedeutung internationaler Richtlinien hervor und vermittelte gleichzeitig einen Einblick in die lokale Arbeit mehrerer Nichtregierungsorganisationen. Nicht zuletzt liess es Raum für den persönlichen Erfahrungs- und Meinungsaustausch unter den Teilnehmenden.

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Residents of a slum in the heart of Manila enjoys free rice porridge from Non Governmental agencies during a feeding program in the area May 2008. © VJ Villafranca/IRIN

Der erste Teil des Symposiums vermittelte den Anwesenden einen Überblick über die Ursachen der Mangel- und Unterernährung. Schnell wurde klar, dass Mangelernährung ein multidimensionales Problem ist: Es umfasst nicht nur den generellen Nahrungsmangel, sondern auch das Fehlen von Mikronährstoffen, d.h. Vitaminen und Spurenelementen (vor allem Vitamin A, Zink, Eisen, Iod) aufgrund einseitiger Ernährung.

Lokale Produktion und Handel

Zu den genannten Hauptursachen für den allgemeinen Nahrungsmittelmangel und die einseitigen Ernährungsgewohnheiten in Entwicklungsländern gehört zum einen das Fehlen von Infrastruktur und Handel, wodurch in abgelegenen Gebieten oft nur lokale Produkte erhältlich sind. Zugleich können Ernteüberschüsse aufgrund fehlender Konservierungsmethoden nicht genutzt werden und verfaulen. Zum anderen unterliegt die lokale Nahrungsmittelproduktion starken saisonalen Schwankungen bis hin zu völligen Ernteausfällen. Aber auch politische Instabilität und Konflikte können zu Nahrungsmittelmangel führen, wenn grosse Bevölkerungsteile gezwungen sind zu flüchten und ihre Gärten und Äcker zurücklassen.

Als weitere Ursache für Mangel- und Unterernährung müssen gewisse kulturelle Gepflogenheiten angesehen werden. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Rolle der Muttermilch. Für Säuglinge wäre ausschliessliches Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten am besten. Da viele Frauen in Entwicklungsländern unter einer Doppelbelastung leiden und selbst für den Unterhalt der Familie kämpfen müssen, ist es ihnen oft nicht möglich ihre Kinder über mehrere Monate zu stillen. Stattdessen gibt man den Kindern mit Zitronensaft angereichertes Wasser (meist zweifelhafter Qualität). Ferner leiden oftmals bereits die Mütter unter Mangelernährung, was zu einem tiefen Geburtsgewicht und weiteren damit verbundenen gesundheitlichen und sozialen Problemen der Kinder führt.

Die Ideen: von Kochkursen und Biofortification

Aufgrund der Komplexität dieser Problematik waren sich die Referierenden einig, dass es keine allgemein gültige Strategie in der Bekämpfung von Mangel- und Unterernährung gibt. So wurden in den Referaten zahlreiche verschiedene Lösungsansätze präsentiert und in der anschliessenden Podiumsdiskussion eingehend diskutiert.

Erste Schwerpunkte wurden beim Einsatz von Zusatznahrung und der Anreicherung von Lebensmitteln gesetzt. Dabei sind die Zusatzstoffe (z.B. oben genannte Mikronährstoffe) entweder schon im Produkt enthalten oder aber sie werden in Form einer Pulvermischung vom Konsumenten selber der Nahrung beigemischt. Eine weitere Methode der Anreicherung ist die Biofortification: Anbaufrüchte werden ohne gentechnische Veränderung mit Zusatzstoffen versetzt. Der Vorteil dieser angeregt diskutierten Bioanreicherung liegt insbesondere in deren Nachhaltigkeit und Kosteneffizienz.

Als weiterer wichtiger Ansatz wurden Ernährungs- und Kochschulungen für Mütter genannt. Diese Kurse zielen darauf ab, aus den lokal zur Verfügung stehenden Produkten möglichst nahrhaftes Essen herzustellen – jedoch stets unter Berücksichtigung der kulturellen Essgewohnheiten.

Im zweiten Teil des Symposiums verlagerte sich der Fokus von den Lebensmitteln zu Aspekten wie Entscheidungsmacht, Zugang und Handlungsspielräume unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rolle der Frau. Denn auch wenn in unmittelbarer Nähe Gesundheitseinrichtungen vorhanden sind und Kurse über ausgewogene Ernährung stattfinden, fehlt den Frauen oft die Entscheidungsmacht darüber, diese Institutionen tatsächlich zu nutzen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Selbstsicherheit der Frauen durch Empowerment-Programme, wie etwa zur selbständigen Einkommensgenerierung, zu stärken.

Muttermilch: Ein Wundermittel

Auf politische Herausforderungen gingen die Referierenden insbesondere bei einer Debatte über Milchersatznahrung ein. Rosemarijn de Jong, selbst Verantwortliche des Ernährungsprojekts der niederländischen Organisation wemos, übte dabei harte Kritik an der Geschäftspraxis bestimmter Hersteller, die beispielsweise im Vietnam entgegen bestehender Gesetze und internationaler Normen sogar in Arztpraxen werben und Provisionen vergeben. Ein anderes Beispiel stellt die Spende von Säuglingsnahrung in Notsituationen dar, die zwar gut gemeint ist, aber nicht selten nachteilige Nebeneffekte mit sich bringt. In einer zweiten Diskussion hoben die Gäste auf dem Podium hervor, welch eine wichtige Bedeutung Medien einnehmen: Mütter sehen zum Beispiel in Kinofilmen, wie Kinder im Norden per Fläschchen gefüttert werden und richten sich danach.

Haiti: Zuerst das Erdbeben, dann ein Tsunami

Besonders spannend war ausserdem die Geschichte eines Programms von Médecins du Monde zur Bekämpfung von Unterernährung, das in Haiti bereits vor der Erdbebenkatastrophe präsent war. An diesem Beispiel wurden auch die Auswirkungen der Flutwelle an Hilfsgeldern und -organisationen kritisch reflektiert. Xavier Onrubia von Médecins du Monde erläuterte, wie während der ersten zwei Wochen nach der Katastrophe zunächst gar nichts geschah, das betreffende Gebiet aber danach von einem regelrechten „humanitären Tsunami“ überrollt wurde: Plötzlich waren über 30 Nichtregierungsorganisationen aktiv. Médecins du Monde kam dabei eine zentrale Rolle bei der Koordination zu. Mit Kenntnissen über die lokalen Gegebenheiten konnten sie den anderen Organisationen wertvolle Unterstützung liefern. Die meisten dieser Organisationen haben das Land nach wenigen Wochen jedoch wieder verlassen. Die Probleme aber, darunter auch jenes der zunehmenden Unterernährung, sind bis heute noch nicht gelöst.

Kritische Kommentare aus dem Publikum

Während des gesamten Programms meldeten sich Teilnehmende mit kritischen Rückmeldungen zu Wort und sorgten damit für spannende Diskussionen. Zum Beispiel merkte ein Teilnehmer an, dass durch Bioanreicherung veränderte Lebensmittel teils gesellschaftlich schlecht akzeptiert werden: So musste durch Bioanreicherung gelb gewordener Mais letztlich als Futtermittel für Tiere verwendet werden. Um solche Probleme zu vermeiden, so wird betont, sei es notwenig, stets mit lokalen Organisationen und Bauern zusammenzuarbeiten. Auf diese Weise habe zum Beispiel die Bevölkerung in Mosambik die Einführung von angereicherten Süsskartoffeln akzeptiert.

Ein Teilnehmer machte darauf aufmerksam, dass Stillen die HIV-Ansteckungsgefahr für das Kind auf 20 Prozent erhöhen könne. De Jong hielt dagegen, dass Mangelernährung mit zahlreichen Komplikationen wie Durchfallerkrankungen verbunden und deshalb weitaus gefährlicher sei als eine HIV-Infektion. Zudem sei oft nicht bekannt, ob die Mutter tatsächlich HIV-positiv ist.

Die Fragerunde schloss mit einem einfachen und gleichzeitig spannenden Gedanken, der mehrere Ideen unter einen Hut brachte: „Mit der jetzigen Nahrungsproduktion kann man das Zwei- bis Dreifache der Weltbevölkerung ernähren. Ist es nicht naheliegend, die Lebensmittel besser zu verteilen?“

* Jonas Vollmer ist Präsident der Fachkommission und Mitglied der Geschäftsleitung beim Calcutta Project Basel. Kontakt: jonas.vollmer@gmail.com
Sybille Mooser ist Projektkoordinatorin des Konika-Programms (Konika Night Shelter und Kindergarten) und Mitglied der Geschäftsleitung beim Calcutta Project Basel. Kontakt: sybille_cp@hotmail.com