Editorial

Kraft der Erinnerung

Von Helena Zweifel

Lesezeit 2 min.

„Memory Work hat mich stark gemacht“, erklärt Bulelwa Nokwe, selber HIV-positiv, im Film „Kraft der Erinnerung“ mit Stolz und Würde. „Ich habe vom Memory Projekt profitiert. Ich bin stark geworden und nach dem Tod meiner Mutter bin ich jetzt das Familienoberhaupt und sorge für meine Geschwister“, schrieb ein junges Mädchen aus Uganda.

Solche Aussagen widerhallen lange im Ohr. Sie wecken Hoffnung und Zuversicht, dass wir auch angesichts der drastischen Auswirkungen von HIV/Aids etwas verändern können.

Memory Work (Erinnerungsarbeit) ist ein psychosozialer Ansatz, der in der Arbeit mit Menschen, die mit HIV/Aids leben oder die davon betroffen sind, entstanden ist. In der Praxis wird Memory Work stetig angereichert und weiterentwickelt. Die bekanntesten Formen oder Behälter von Memory Work sind Memory Books, Memory Boxes, Body Maps und Hero Books. Es ist jedoch weniger das Produkt, das zählt, sondern „der Raum, in dem man reden kann und es wagen kann, zu hoffen und sich zu erinnern“, so der südafrikanische Psychologe Jonathan Morgan. Dieser Raum ermöglicht Erwachsenen und Kindern, ihre Gefühle, Erfahrungen, Zweifel und Hoffnungen in Bildern und Worten auszudrücken. Über das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte und das (Mit-)Teilen entwickeln sie neue Lebensperspektiven. Memory Work kann Menschen ihre Würde (zurück-)geben: den Menschen, die mit dem Virus leben und mit gesellschaftlicher Ächtung konfrontiert werden, sowie den Menschen, die den Kampf gegen Aids verloren haben mangels Zugang zu modernen Medikamenten.

Die aidsfocus-Tagung vom 12. April 2005, “… and one can dare to hope and dare to remember. Memory Work: Coping Strategies in the Face of AIDS“, war dem Thema Memory Work gewidmet. Sie knüpfte am Bild der „Blume“ an, dem Symbol für die ganzheitliche Behandlung und Pflege von Menschen mit HIV/Aids. Im Zentrum der Blume stehen die Menschen. Psychosoziale Unterstützung, medizinische Behandlung, klinische Pflege, Home based care, wirtschaftliche Unterstützung, Kampf dem Stigma, Einsatz für Menschenrechte, Information und Prävention sind die Blätter - Elemente einer umfassenden Strategie, die sich gegenseitig ergänzen und stärken.

So zum Beispiel Memory Work und Prävention: Stark geworden durch Memory Work wagt Bulelwa jetzt, das Stigma zu brechen und öffentlich über ihren Status zu reden. Auf ihrer Body Map hat sie den Slogan festgehalten: „Sei weise – benutze Kondome“. Sie erläutert dazu: „Ich wende mich an jene, die immer noch HIV-negativ sind oder ihren Status nicht kennen. Denn wenn ich Kondome benutzt hätte, wäre ich jetzt nicht positiv.“ Auch psychosoziale Betreuung und medikamentöse Behandlung unterstützen sich gegenseitig, helfen neuen Lebensmut zu finden.

Ein gutes Beispiel für den ganzheitlichen Ansatz ist NACWOLA, die National Community of Women living with HIV and AIDS in Uganda. International bekannt geworden sind die Memory Books, in denen aidskranke Mütter ihren Kindern von den wichtigen Dingen im Leben erzählen. Annet Biryetega schilderte sehr eindrücklich, wie das Schreiben des Memory Books stets eingebettet ist in ein grösseres Paket von Massnahmen, insbes. der Förderung von kommunikativen und sozialen Fähigkeiten, psychosoziale Beratung, Organisation von Kinder-Clubs und der Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten.

Memory Work ist kein neues Wundermittel. Doch die Berner Tagung vom 12. April 2005 hat mich inspiriert und vom Potential und der Kraft der Erinnerungsarbeit überzeugt. Wie einige Beispiel zeigen, kann Memory Work Wunder bewirken. Dennoch, Memory Work ist eher ein „Erste Hilfe-Koffer“, wie Noreen Huni es ausdrückt. Psychosoziale Unterstützung geht über einmalige Eingriffe hinaus, ist umfassender und prozessorientiert. Zur Unterstützung des Heilungsprozesses braucht es engagierte und qualifizierte Menschen mit Einfühlungsvermögen und einem langem Atem.

Helena Zweifel, Co-Geschäftsführerin von Medicus Mundi Schweiz und Koordinatorin von aidsfocus.ch