Ein Essay zur politischen Relevanz der UN-Agenda 2030

Komplexität nivellieren

Von Martin Leschhorn Strebel

Ob die UN-Agenda 2030 dereinst als Erfolg in die Geschichte eingehen wird, wird ganz wesentlich auf der politischen Bühne entschieden. Sie könnte an ihrer Komplexität und an den Realitäten nationaler Interessenpolitiken scheitern. Um dies zu verhindern, spielt die Zivilgesellschaft eine Schlüsselrolle.

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Komplexität nivellieren

 

Auf den ersten Blick scheint es mit der UN-Agenda 2030 eine einfache Sache zu sein. Nach einem längeren, umfassenden und eindrücklichen Konsultationsprozess hat die Maschinerie der Vereinten Nationen 17 Ziele für eine nachhaltige Welt produziert. Ziele und Unterziele, von welchen wir unterdessen wissen, dass sie nicht nur umfassend die Probleme unserer Gegenwart ansprechen, sondern, dass diese in sich ein multipolares Gebilde darstellen, die erst in ihrer totalen Interdependenz zur vollen Geltung gelangen können. Diese Komplexität wird einer Welt gerecht, die sich in den letzten dreissig Jahren im Zuge der Globalisierung derart entwickelt hat, dass sich die verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren in einer immer stärkeren funktionalen Abhängigkeit zu einander befinden.

Die UN-Agenda 2030 ist in diesem Sinne die richtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Doch wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, reicht es oft nicht, die richtigen Antworten zu haben, um Probleme zu lösen. Die UN-Nachhaltigkeitsziele oder der nun vorliegende grosse Plan, um die Herausforderungen dieser Welt zu lösen, kann nur erfolgreich sein, wenn er auch wirkungsmächtig ist. Damit ist die zentrale politische Frage angesprochen – die Machtfrage: Können die Nachhaltigkeitsziele real Veränderungsprozesse anstossen, welche die Strukturen positiv verändern, die weltweite Ungleichheit, Armut oder Umweltzerstörung auslösen oder festschreiben?

UN-Agenda ermächtigen

Wie so oft in der internationalen Politik sind globale Aktionspläne zunächst mal Papier und damit vor allem eines: geduldig. Das Geschehen beeinflussen sie erst dann, wenn einzelne Regierungen damit beginnen, sie mit eigenen Interessen zu verbinden und eine Möglichkeit darin erkennen, diese strategisch zur Durchsetzung dieser Interessen zu nutzen. Es geht um die Interessenpolitik einzelner Nationalstaaten, die Veränderungen vorantreiben oder behindern. Betrachten wir die Ziele des UN-Aktionsplanes, ist allerdings nicht absehbar, welche Regierung oder welche Staatengruppe die Sustainable Development Goals (SDGs) über nette Worte hinaus zu ihrer Sache machen könnte.

Expert Group Meeting on Gender-Responsive Implementation of Agenda 2030 - June 2017. Photo: UN Women/flickr, CC BY-NC-ND 2.0


Wenn die Regierungen die Ziele der UN-Agenda 2030 nicht per se zu ihrem politikleitenden Plan machen, kommt die Zivilgesellschaft ins Spiel. Sie muss die Regierungen dafür verantwortlich machen, die von der Staatengemeinschaft ausgehandelten Ziele ernst zu nehmen und alles Notwendige tun, um diese zu erreichen. Die Regierungen, die am Entstehungsprozess der SDGs beteiligt gewesen sind, sind ja unterdessen nicht mehr unbedingt dieselben – und noch manche Regierung wird kommen und gehen, bis das Jahr 2030 erreicht ist. Das ist der Vorteil und der Nachteil der Zivilgesellschaft: Ihr Vorteil ist es, weil aus diesem Umstand ein Teil ihrer Legitimität erwächst; sie kann sich als Motor der Ziele definieren, weil sie eben nicht Teil des ewigen Spiels um Regierungsmacht ist, sondern langfristig übergeordnete Ziele erreichen will. Es ist ihr Nachteil, weil sie ihre Arbeit immer wieder neu auf die in ihrem Land vorhandene Machtrealität einstellen muss.

Legitimität der Zivilgesellschaft

Regierungen verantwortlich zu machen für die Umsetzung der UN-Agenda 2030 kann die Zivilgesellschaft allerdings nur, wenn sie zwei wichtige Voraussetzung erfüllt: Legitimität für diese Aufgabe und Glaubwürdigkeit.

Die Legitimität der Zivilgesellschaft, um als Akteur für die SDGs aufzutreten, entsteht dann, wenn sie sich in spezifischen gesellschaftlichen Milieus mit ihrem Anspruch verankern und als deren Repräsentant auftreten kann. Das Problem dabei ist nun, dass die UN-Agenda 2030 nach wie vor zu wenig in einer breiteren Bevölkerung bekannt ist. Dies ist die primäre Aufgabe der verschiedenen Nichtregierungsorganisationen: Sie müssen die notwendige Erklärungs- und Transformationsarbeit leisten, damit die UN-Agenda in denjenigen Bevölkerungskreisen verstanden und unterstützt werden, die sie vertreten. Diese Aufgabe ist zwar angesichts ihrer Komplexität aufwändig, doch unabdingbar, um die Ziele gesamthaft zu verankern. Oft erliegt  man der Illusion, dass es ausreicht, wenn immer mal wieder ein guter Zeitungsartikel erscheinen würde. Doch diese Anstösse verpuffen schnell; der regelmässige Dialog den Nichtregierungsorganisationen mit ihren TrägerInnen und deren gesellschaftlichen Milieus führen, ist effektiver und nachhaltiger. Von hier aus, kann die UN-Agenda auch in weitere gesellschaftliche Bereiche  getragen werden. Im Gegensatz zur Behandlung der einzelnen Themen der Agenda, dürfen Nichtregierungsorganisationen hier durchaus auch eigenständig auftreten und auf Partnerschaften mit anderen Organisationen verzichten: Denn jede Organisation kennt ihr eigenes Milieu am besten, spricht dessen Sprache und ist deshalb dort die glaubwürdige Vermittlerin der Philosophie und der Inhalte der Agenda 2030.

 

Goals were scored for gender equality across the river from the United Nations, as the Global Goals World Cup took place on 19 September in Brooklyn, New York, to raise awareness on the Sustainable Development Goals (SDGs). Photo: UN Women/flickr, CC BY-NC-ND 2.0

 

Institutionelle Logik und Glaubwürdigkeit

Glaubwürdigkeit – sie ist die zweite Voraussetzung, damit die Zivilgesellschaft die UN-Agenda 2030 zu einem mächtigen Dokument machen kann. Glaubwürdig vertreten kann sie sie nur, wenn sie die Agenda auch selbst lebt. Das ist schnell gesagt, doch wir Nichtregierungsorganisationen sind stark in unserer jeweiligen institutionellen Logik gefangen. Diese zwingt uns immer wieder dazu, von uns vertretene Themen in den Vordergrund zu stellen. Doch es reicht nicht, wenn wir ein Unterziel, für welches wir uns schon immer engagiert haben, in den Vordergrund zu stellen und dazu sagen: Wenn wir dieses Ziel angehen, ist das unser Beitrag zur Umsetzung der SDGs. Damit treiben wir genau das voran, was wir der globalen Gesundheitsgouvernanz immer wieder zu Recht vorwerfen: Das Denken und Handeln in Silos. Genau das aber widerspricht Sinn und Geist der Agenda 2030.

Mit der UN-Agenda 2030 müssen sich Nichtregierungsorganisationen zwingen, ihre Themen neu zu denken, multiperspektivisch zu hinterfragen und neu aufzustellen. Es braucht eine genaue Analyse dessen, welche Ziele sie direkt mit ihrer Arbeit beeinflussen und wo auch ihre Grenzen sind. Wo braucht es Partnerschaften, um eben jene Grenzen zu überwinden? Das Eingehen von sinnvollen Partnerschaften ist zentral, damit die Zivilgesesellschaft mit der notwendigen Glaubwürdigkeit die UN-Agenda 2030 gegenüber der eigenen Regierung vertritt.

Schweizer Nichtregierungsorganisationen stehen im Umgang mit der UN-Agenda 2030 zurzeit vor der Herausforderung, selbst SDGs tauglich zu werden, indem sie die Anfordernisse des neuen globalen Leitrahmens in ihre Strategien integrieren und wie oben beschrieben, glaubwürdig umsetzen. Gleichzeitig müssen sie die hiesige Öffentlichkeit mobilisieren, um die UN-Agenda 2030 zu verankern und diese politisch zu vertreten. Erst wenn dies gut gelingt, kann sie auch in der Schweiz zu einem mächtigen Instrument der Veränderung werden.

 

Martin Leschhorn Strebel
Martin Leschhorn Strebel ist Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz. Er vertritt MMS in der Zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030. Kontakt: