Erfahrungen eines Schweizers in Sambia, 2006-2008

Als Erinnerungsarbeiter im südlichen Afrika

Von Erich Friemel

Lesezeit 5 min.

Ein Zufall schafft Zugang

Nach einigen früheren Afrikaaufenthalten wollten meine Frau und ich im Jahr 2005 nochmals dorthin, um einige Jahre dort zu leben und zu arbeiten. Bekanntschaften aus meiner Studienzeit brachten uns nach Sambia. Dort führten uns Einsatzleistende der Bethlehem Mission Immensee (BMI) in der Hauptstadt Lusaka durch das Geschäftszentrum mit Hochhäusern und durch die viel ausgedehnteren Gebiete mit einfachsten Wohnverhältnissen. Der Besuch in einer Klinik für HIV-Prävention und Behandlung gab uns einen Eindruck zur Aidssituation. Eine Woche in der Landpfarrei Kaparu liess uns die Situation im abgelegenen „Busch“ erleben. Der Aufenthalt im Gästehaus der BMI machte uns mit dem Wohnen in Lusaka vertraut.

Ungefragt gab mir eine Kollegin einen Kongressbericht von Medicus Mundi Schweiz über „Memory Work“ („Erinnerungsarbeit“), erschienen im Bulletin Nr. 97 vom Juni 2005. Ich las die 70 Seiten in einem Zuge durch und wusste, das könnte mein Weg sein: Erinnerungsarbeit mit von HIV/Aids betroffenen Menschen.

Ein Jahr später in einem Kurs mit Betroffenen

Im Oktober 2006 sassen meine Frau und ich bereits als „teilnehmende Gäste“ von Angela Malik, einer Pionierin der Erinnerungsarbeit in Sambia, inmitten von zwölf von HIV betroffenen Frauen. Wir dienten als Testgruppe für die Kombination von detaillierten Basisinformationen zum Umgang mit HIV und Aids und dem „Tracing Book“ („Kopierbuch“), einem in Afrika entwickelten Instrument der Erinnerungsarbeit. Alle Teilnehmenden hatten ein Heft vor sich und die Aufgabe, pro Seite eine einfache Silhouette des eigenen Körpers zu zeichnen und darin mit Symbolen und Worten einzutragen, wo und wie es einem gut oder schlecht ging.

Vorbereitungen

Meine Einsatzorganisation „Community Home Based Care (CHBC) Program“, vergleichbar der schweizerischen „Spitex“ oder „Hilfe und Pflege zu Hause“ für HIV/Aidsbetroffene, gehörte zur katholischen Erzdiözese Lusaka.

Die CHBC der Diözese Lusaka war in einem Gebiet von 93‘000 km2 mit zwei Millionen Einwohnern in 60 „Plätzen“ (Gemeinden) tätig. Über 3’000 Freiwillige betreuten 16‘000 von HIV/Aids betroffene Waisen und gefährdete Kinder und noch etwas mehr Erwachsene, vor allem Aidskranke und Hinterbliebene.

Im März 2007 nahm ich – als einziger Weisser und mit 66 Jahren als mit Abstand Ältester – am ersten „Training für Leiter in Erinnerungsarbeit“ unserer Organisation teil.

Nach einer theoretischen Einführung konzentrierten wir uns auf das „HeldInnenbuch“: Nun ging es ans Lebendige! Zuerst hatten alle aus losen, leeren Blättern und zwei Kartonstücken ihr Buch zu binden, indem sie mit einem Nagel auf einer Seite am Rande Löcher bohrten, eine faserige Schnur durchzogen und verknüpften. Dann ging es nur noch darum, von sich selbst zu berichten. Vorgegeben wurden die Seitentitel, wie etwa: „Über mich selbst“, „Ein Held/eine Heldin in meinem Leben“, „Meine früheste Erinnerung“, „Der Weg meiner Familie“, „Meine Gemeinschaft“, „Ein Problem, das mich fast fertig machte“, „Ein Moment von Licht im Dunkel“ und andere mehr, bis hin zu einem Portraitgedicht der Gruppe über mich und mein (neues) Selbst-Bild und zu den Seiten „Ich bin ein Held/eine Heldin“ und „Meine Zukunft“.

Drei Tage zu acht Stunden sassen wir im Kreis, nahmen die Instruktionen auf, zeichneten uns selbst in den verschiedensten Situationen und schrieben ein paar erläuternde Worte dazu, tauschten sie miteinander aus, besprachen sie in der Gruppe, schwiegen betroffen und klatschten begeistert bei jedem Beitrag, sangen und tanzten, assen und tranken und redeten und lachten. Am Abend war ich jeweils fix und fertig – und glücklich: eine Fülle von Erlebnissen und Erfahrungen.

Leitung übernehmen!

Nach dem ersten Kurs wusste ich, dass ich wohl die Hauptsache verstanden hatte. Aber es war mir klar, dass ich mich nun weiter vorbereiten musste durch Besuche weiterer Kurse bei anderen Lehrmeistern, durch Studium sowie durch den Austausch mit erfahrenen Fachleuten. Doch meine Organisation hatte andere Pläne mit mir. Es hiess: „Du wirst im Juni den nächsten Kurs für Leiter in Erinnerungsarbeit und für das Machen eines HeldInnenbuches durchführen. Du weißt ja jetzt, wie es geht.“

Mit Zittern und Zagen sagte ich zu. Zum Glück konnte ich mich auf die fachlichen und methodischen Aspekte konzentrieren und wusste die organisatorischen Belange in einheimischen Händen. Den Kursanfang wollte ich anders gestalten: Nach der organisatorischen Einführung sollte eine Besinnung darauf erfolgen, wie die Teilnehmenden als Menschen in Sambia gewohnterweise Erinnerungsarbeit leisteten: in der Familie, im Dorf, als Nation, bei erfreulichen und traurigen Anlässen und in verschiedensten Formen.

Meine zwei sambischen Kolleginnen waren zuerst skeptisch, liessen mich aber gewähren. Und es funktionierte: Von Anfang an waren alle beteiligt. Sie erlebten, wann und wie ihre traditionellen Arten des Erinnerns sich mit unsern Kurszielen deckten und wo wirklich Neues vorgesehen war. Gemeinsam war, dass Erinnern häufig mit andern zusammen geschieht und dass es viele Gründe für das Erinnern gibt. Neu war, dass Gefühle als persönliche Empfindung ausgedrückt werden durften –und nicht nur, wie beim Weinen bei Todesfällen, wenn die Tradition es verlangte. Neu war auch, dass man darüber sprechen durfte und konnte und man gar nicht allein blieb mit seinen Problemen, und dass man bei den Lösungen voneinander lernen konnte.

Bei den fachlichen Teilen konnte ich mit meinen sambischen Kolleginnen abwechseln, die dann in mehreren einheimischen Sprachen mit ihren Beispielen glänzend ankamen und an denen ich meine helle Freude hatte, auch wenn ich den Inhalt nur andeutungsweise verstand. Der Kurs war ein voller Erfolg.

Im September 2007 wollte ich endlich die Kurse für die in der ersten Runde nicht berücksichtigten Gemeinden organisieren. Auf mein Gesuch hin erhielt ich von der Bethlehem Mission Immensee finanzielle Mittel aus einem Aidsfonds, und zwar nicht nur für die Leiterkurse, sondern auch für die Umsetzung des Gelernten an Ort. Die drei Kurse führten wir von September bis November mit Beteiligung von je zwei Vertretern der 30 Gemeinden erfolgreich durch. Auch die Umsetzung nahm bald respektable Dimensionen an: In den meisten der 60 Gemeinden wurden je ein Kurs mit 20 Kindern und ein Kurs mit 20 Erwachsenen, welche die Kinder betreuten, durchgeführt. Damit hatten innert weniger Monate insgesamt über 1‘000 Kinder und 1‘000 Erwachsene ihre HeldInnenbücher gemacht.

Abschlussarbeiten

Zuerst machte ich zuerst eine kleine Auswertung meiner Arbeit, indem ich sechs Gemeinden besuchte und mit Kindern und Erwachsenen sprechen und ihre Meinungen auch schriftlich einholen konnte. Die erhaltenen Aussagen waren erfreulich: für die meisten war das Machen des HeldInnenbuches wichtig und wertvoll gewesen.

Vor dem Abschluss meines Einsatzes hatte ich noch die Gelegenheit, am nächsten Fünfjahresplan für die CHBC der Diözese Lusaka mitzuarbeiten und darin der psychosozialen Unterstützung und ausdrücklich der Erinnerungsarbeit einen angemessenen Platz zu sichern. Auch empfahl ich den Verantwortlichen von BMI und der Diözese Lusaka, mich nicht durch einen neuen „Europäer“ zu ersetzen, sondern das entsprechende Geld für die Einarbeitung einer einheimischen psychologischen Fachperson und für die Betreuung und Weiterbildung der bereits ausgebildeten lokalen Leiter zu verwenden.

Zurück - und weiter

Nach der Rückkehr in die Schweiz Ende September 2008 nahm ich mir Zeit zu warten. Im Frühling 2009 leitete ich auf Anfrage von einigen Freunde und Bekannten, für mich erstmals in der Schweiz, in zwei kleinen Gruppen das Machen des HeldInnenbuches. Es war für mich äusserlich ganz anders, im Grunde aber das Gleiche: eine Heldin, ein Held ist eine Person, die (grosse) Schwierigkeiten hat(te) und gelernt hat, dank geschenkter oder erarbeiteter „Momente von Licht im Dunkeln“ mit Hindernissen oder, nach ihrer Überwindung, ohne diese Hindernisse zu leben. Das bestärkt mich und auch meine Frau, um an der Erinnerungsarbeit und vor allem am HeldInnenbuch dran zu bleiben, sei es in der Schweiz oder vielleicht nochmals andernorts in Afrika…

Kontaktadresse: friemel.brun@gmx.ch