Editorial

Vernachlässigte Krankheiten?

Von Christian Burri

Lesezeit 2 min.

Die vorliegende Ausgabe des Bulletins von Medicus Mundi Schweiz beleuchtet das Thema der vernachlässigten Krankheiten (”neglected diseases”) von verschiedenen Seiten. Dies macht durchaus Sinn, denn unter dem Begriff wird – je nach Blickwinkel - Unterschiedliches verstanden: Infektionskrankheiten, die vor allem arme Länder und Leute betreffen und zu deren Bekämpfung keine geeigneten Medikamente vorhanden sind, da sich deren Entwicklung nicht rentiert. Aber auch Krankheiten, gegen die weniger getan wird, als aufgrund der weltweiten Krankheitslast eigentlich nötig wäre, seltene Krankheiten und verheimlichte, unsichtbare Leiden, die mit einem Stigma verbunden sind.

Nicht jede Krankheit ist heilbar – daran erinnern uns zur Zeit die Werbeplakate eines grossen Pharmaunternehmens. Die implizite Botschaft dieser Werbung: Das Unternehmen investiert grosse Beträge in die Forschung und schenkt so auch PatientInnen, die an seltenen oder noch nicht behandelbaren Krankheiten leiden, neue Hoffnung. – Die Frage bleibt, ob die Chancen, von einer zukünftigen Therapie profitieren zu können, gleich verteilt sind. Falls nicht – wie liesse sich das ändern?
Es gibt Beispiele erfolgreicher Mechanismen, welche die Interessen von profitorientierten Unternehmen auf seltene Krankheiten umlenken helfen: Die “Orphan Drug” Gesetzgebung in den USA gewährt Unternehmen, die Medikamente für Krankheiten entwickeln, die jährlich weniger als 200'000 PatientInnen betreffen, Steuererleichterungen und verlängerten Patentschutz. Unter dieser Gesetzgebung kamen in den USA seit der Einführung 1983 über 200 Behandlungen gegen seltene Krankheiten auf den Markt – in den zehn Jahren zuvor waren es noch weniger als zehn. Eine ähnliche gesetzliche Regelung wurde kürzlich durch die europäische Medikamentenzulassungsbehörde EMEA eingeführt.

Natürlich wird das Interesse der Pharmaindustrie durch finanzielle Anreize bestimmt. Dies lässt sich wohl nicht so rasch ändern, was aus einem Statement von Fred Hassan, dem CEO von Pharmacia, aus dem Jahr 2000 ziemlich deutlich hervorgeht: Die Pharmaindustrie wurde von ihm gescholten, sie sei in zu vielen therapeutischen Bereichen, welche zudem die ganze Welt beträfen, tätig. Jetzt müsste ein Paradigmenwechsel stattfinden, hin zur strategischen Konzentration auf einige wenige Schlüsselprodukte und hin zum Erfolg in den USA sowie in sechs oder sieben weiteren Schlüsselmärkten. Nur so sei Erfolg möglich...

In der Zwischenzeit gibt es zwar Pharmacia nicht mehr; das Unternehmen wurde in einem Mega-Merger von Pfizer, dem nunmehr weltweit grössten Pharmaunternehmen, geschluckt. Doch zeigt das Beispiel, weshalb kaum mehr Medikamente gegen seltene Tropenkrankheiten entwickelt werden – und dies trotz Anreizprogrammen: Es gibt dafür schlicht keinen Markt, der die Pharmaindustrie interessieren könnte.

Um die vernachlässigten Krankheiten der Armut wirkungsvoll zu bekämpfen, müssen deshalb kreative Lösungen gefunden werden, die sich die Marktmechanismen zu Nutzen machen. Dazu muss nicht nur die Diskussion um fairere Patentrechte weitergeführt, sondern sollten auch Mechanismen wie etwa Abnahmegarantien, eine übertragbarkeit von Patentrechten und schnellere Behandlung bei der Begutachtung andere Produkte derselben Firma in Betracht gezogen werden. Und immer noch nützt dies alles nichts, wenn die Verteilsysteme in den betroffenen Ländern ebenfalls “vernachlässigt” sind...

Nicht immer müssen wir in fremde Länder reisen, um vernachlässigte oder versteckte Krankheiten anzutreffen. Und vielleicht mag es Sie erstaunen, dass in dieser Bulletinausgabe neben Infektionskrankheiten wie Buruli-Ulkus, Schlafkrankheit, Dengue-Fieber und Flussblindheit, die bereits Gegenstand internationaler “neglected diseases” Kampagnen sind, auch Epilepsie, Fisteln, Alkoholmissbrauch und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie die Blindheit thematisiert werden. Doch gibt es eine klare Gemeinsamkeit zwischen all diesen vernachlässigten Krankheiten: Es braucht eine verstärkte und konzertierte internationale Anstrengung, um sie zu überwinden. Die übernahme dieser Verantwortung könnte im Norden einerseits im Rahmen einer angepassten Gesetzgebung zur Medikamentenprüfung und vermehrter öffentlichkeitsarbeit über verschwiegene Krankheiten geschehen, andererseits aber auch durch die weitere gezielte finanzielle und technische Unterstützung der Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern. Um diesen globalen Aufgaben für die Politik genügend Gewicht zu verleihen, muss allerdings in der Bevölkerung zuerst ein besseres Verständnis für die Thematik geschaffen werden.

*Christian Burri ist Leiter der Einheit pharmazeutische Medizin am Schweizerischen Tropeninstitut Basel