Grüne und traditionelle Medizin in Kuba

Revitalisierung einer alten Tradition

Von Daniela Mancarelli Hofmann

Kuba erlebt seit einigen Jahren eine beeindruckende Entwicklung der grünen und traditionellen Medizin (Medicina Natural y Tradicional, MNT): 2009 wurden in der Stadt Havanna rund fünf Millionen Beratungen und Behandlungen geleistet. mediCuba-Suisse engagiert sich beim Aufbau von MNT-Zentren in der Provinz Granma

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Die MNT wird in Kuba komplementär zur Schulmedizin in allen Bereichen des Gesundheitssystems gefördert. Die Integration von Methoden der traditionellen Medizin und der Homöopathie, die Erforschung von Medizinalpflanzen und die Herstellung von Medikamenten aus pflanzlichen Wirkstoffen – Tinkturen, Salben und Tabletten – erfolgt seit den frühen 1990er Jahren. Das ist die Zeit des sogenannten „periodo especial“, einer schweren Wirtschaftskrise, welche aus dem Verlust des für Kuba wichtigsten Zuckerimporteures – der Sowjetunion – entsteht und aus welcher Knappheit und schmerzhafte Sparmassnahmen folgen. Unter diesen Umständen wird die Revitalisierung der MNT als wichtige Strategie in Betracht gezogen, um der Bevölkerung günstige Medikamente und Therapien zu gewährleisten. Tatsächlich verliert Kuba mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks nicht nur den wichtigsten Handelspartner, sondern auch die wichtigste Quelle von Inputs und Rohstoffen für die Pharmaindustrie.

Die MNT ist in der kubanischen Kultur fest verankert

Es ist von Revitalisierung die Rede, weil MNT seit Jahrhunderten in der kubanischen Kultur fest verankert ist. Vor der Entdeckung Kubas im Jahr 1492 wusste schon die Urbevölkerung – Tainos und Siboneyos –, sich mit Medizinalpflanzen gesund zu pflegen. Das Wissen und die Anwendung von MNT verstärkte sich durch den Sklavenhandel von Afrika nach Kuba. Die Mehrheit der Sklaven kamen aus dem äquatorialen Guinea, eine Region mit einer starken MNT-Tradition und mit einer ähnlichen Vegetation wie auf der karibischen Insel. Dazu kam die unter der kubanischen Bevölkerung beliebte chinesische Medizin durch die chinesische Migration des 19. Jahrhunderts. Nach der Revolution hat MNT – wegen der Einführung von neuen Technologien sowie der Reform des Gesundheitswesens, die allen KubanerInnen eine gratis zugängliche Gesundheitsversorgung garantiert – allmählich an Bedeutung verloren. Bis in den 80er Jahre wurden in den medizinischen und pharmazeutischen Fakultäten alle Kurse in MNT aus den Lernplänen gestrichen. Die MNT-Methoden wurden teilweise sogar als Praktiken des Obskurantismus oder des Empirismus bezeichnet (Futuros, 2004; Cochetti, 2009).

Das kubanische MNT-Programm

Die Revitalisierung und Weiterentwicklung von MNT erfolgt auf sämtlichen Ebenen der staatlichen Gesundheitsversorgung und in Zusammenarbeit mit den Universitäten (Bildung, Wissenschaft und Forschung), der Industrie (Produktion von Medikamenten) und der Landwirtschaft (Anbau von Medizinalpflanzen).

Zwei Etappen bestimmen diesen Prozess wesentlich: Die Verabschiedung des Programmes für die Entwicklung der MNT im Jahr 1996 und das Gesetz 4282/2002, welche eine Gesamtheit von Massnahmen zur Verbreitung der MNT vorsehen und Richtung sowie Grenzen der MNT-Forschung bestimmen.

Das Programm erfordert die gemeinsame Teilnahme von mehreren Institutionen. Zwei sind für die Implementierung des MNT-Programms verantwortlich: Die Nationaldirektion für MNT (Dirección Nacional de Medicina y Tradicional Natural), welche für die methodologische Grundlage von Entwicklung, Anwendung und Evaluation des ganzen MNT-Programms im Gesundheitssystem verantwortlich ist. In jeder Provinz und Gemeinde gibt es ein Departement. Die zweite wichtige Institution ist das Zentrum für die Entwicklung von MNT (Centro Para el Desarrollo Integral de la Medicina y Tradicional Natural), welches ebenfalls über Einheiten auf der Provinz- und Gemeinde Ebene verfügt. Seine Hauptfunktion besteht in der Förderung, Prävention, Diagnose, Behandlung und Rehabilitation von PatientInnen, die mit MNT-Therapien behandelt werden. Diese von der Regierung akkreditierten Zentren arbeiten mit dem MNT-Department des Gesundheitsministerium (Ministerio de Salud Publica, MINSAP) zusammen sowie mit den in MNT spezialisierten Forschungsinstituten.

Das Programm hat vier Schwerpunkte: Bildung und Ausbildung, Dienstleistungen, Forschung und Produktion, Vermarktung und Verwendung von Naturprodukten (siehe Padron und Peres, 2003).

Medizinalpflanzen müssen in der Region verfügbar sein

Die Forschung arbeitet nach bestimmten Richtlinien. Beispielsweise müssen Medizinalpflanzen in der Region verfügbar und als ungefährlich validiert worden sein, bevor sie an PatientInnen getestet werden dürfen. Sobald die Validierung abgeschlossen ist, werden die Medizinalpflanzen in ein Arzneibuch eingetragen und klinische Studien durchgeführt. Insbesondere wird die Pflanzengiftigkeit untersucht. Jedes Arzneimittel, welches eine bestimmte Heilpflanze enthält, muss erforscht und validiert werden. Falls eine bestimmte Pflanze zu einem Arzneimittel verarbeitet wird, müssen Forschung und Pharmaindustrie sich damit befassen. Ein Informationssystem gewährleistet der Bevölkerung das Knowhow über die Medizinalpflanzen (siehe Cochetti, 2009).

Dieser multidisziplinäre Ansatz hat schnell effektive Resultate gebracht. Die Validierung der Medizinalpflanzen, die klinischen Studien – wie bei den chemischen Medikamenten – zeigen, dass die Revitalisierung und Weiterentwicklung von MNT eine erfolgreiche Strategie ist. Ziel der klinischen Studien ist, Grundlagen für Fachleute des Gesundheitsweisens (Infomed, 2004-2010) zu erstellen sowie die Bevölkerung über Wirkstoffe, Nebenwirkungen und wirksame Dosierungen zu informieren.

Die MNT ist heute integraler Bestandteil des Basisstudiums an allen medizinischen Fakultäten. Es handelt sich um einen Einführungskurs mit technischen und praktischen MNT-Kenntnissen. Dazu stehen eine Vielzahl von Kursen, Masters und Spezialisierungsstudien für Fachleute, Studierende sowie für die Bevölkerung im ganzen Lande zu Verfügung.

Das Programm begünstigt die kubanische Bevölkerung: Jede Apotheke hat heute eine MNT-Abteilung, FamilienärztInnen verfügen über Basiskenntnisse und in den Polikliniken sowie in den Spitälern gibt es MNT-SpezialistInnen.

Die Bevölkerung trägt diese Entwicklung mit: Alternative Therapiemethoden, Homöopathische Mittel und pflanzliche Medikamente sind gut bekannt (siehe zum Beispiel Toledo et. al., 2007). Die Akzeptanz ist auch eine Konsequenz des Embargos, der ungenügenden Verfügbarkeit von Medikamenten: Eigenständig entwickelte und produzierte Medikamente aus pflanzlichen Wirkstoffen können einen Ersatz für die fehlenden Medikamente sein – beispielsweise bei Schmerzmitteln. MNT ist kostengünstig, dezentral produzier- und reproduzierbar und entwicklungsfähig. Bereits zwischen 1995 und 2002 konnte Kuba durch die eigene Produktion von 342 Millionen Flaschen von Naturheilmitteln, das heisst mit der Substitution von importierten durch im Lande produzierte Rohstoffe, rund 17 Millionen USD einsparen. In der Chirurgie kostet im Durchschnitt die am häufigsten benützte endotracheale Narkose 215 USD pro PatientIn. Die chirurgische Akupunkturanalgesie ist zehn Mal günstiger: Sie kostet nur 20 USD (CUBAalamana, 2005).

Das MNT-Projekt von mediCuba-Suisse in der Provinz Granma

Granma ist eine der fünf Ostprovinzen Kubas. Ein landwirtschaftliches Gebiet mit einer flussreichen Ebene im Norden und mit einer ausgedehnten Küste am karibischen Meer sowie mit den hohen Bergen der Sierra Maestra im Süden. Laut der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2008 leben in Granma ca. 820‘000 EinwohnerInnen, über 40% in den Städten Bayamo und Manzanillo. Alle Distrikte sind administrativ entweder Bayamo oder Manzanillo zugeordnet. Granma verfügt über ca. 40 Spitäler und Polikliniken, die nach der Bevölkerungsdichte auf die 13 Distrikte verteilt sind, sowie über 4500 Familienarztpraxen und 160 Apotheken.

Granma war die einzige Provinz Kubas, die über kein MNT-Zentrum verfügte. 2004 entschied sich mediCuba-Suisse, die seit 1992 Projekte im kubanischen Gesundheitswesen durchführt, für ein Projekt zur Revitalisierung von MNT in der Region. Das Ziel war, einen Beitrag zur Verbesserung der MNT in der Provinz Granma zu leisten und zwar im Bereich des Therapieangebots, der Verfügbarkeit von Medikamenten, der Aus- und Weiterbildung, der Lehre und Forschung. Dazu waren die Stärkung der homöopathischen Therapie und Medikamentierung in den fünf Provinzen der östlichen Region sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Labor für Grüne Medizin in Media Luna (Granma) eingeplant.

Die im April 2010 durchgeführte Evaluation zeigt, dass das Hauptziel des Projektes – die Revitalisierung der MNT in Granma – erreicht worden ist. 2009 haben 319‘680 PatientInnen in der ganzen Provinz eine MNT-Beratung oder Behandlung erhalten, das sind rund 880 Personen pro Tag. Der Prozentsatz von MNT-Behandlungen im Vergleich zur totalen Anzahl der medizinischen Behandlungen hat sich mehr als verdoppelt: von 14% auf 33%.

Das MNT-Referenzzentrum in Bayamo bietet heutzutage den PatientInnen Akupunktur und Akupressur, Fango-, Massage- und Entspannungstherapie, Hypnose, chinesische Gymnastik sowie Zahnextraktion mit Akupunktur an. Im Zentrum werden Daten gesammelt und analysiert und MNT-Studien durchgeführt. 60 Fachleute werden dieses Jahr ein MNT-Diplom oder -Master erhalten. Seit dem Projektbeginn wurden auf Masterniveau 125 Studierende und auf Diplomniveau 756 Studierende in MNT ausgebildet. Dafür wurde ein Forschungszentrum eingerichtet, in dem Fachleute interhalb von MNT-Diplomen, -Mastern und –Doktoraten geschult werden.

Aus dieser Entwicklung ist eine engere Zusammenarbeit mit den Spitälern, mit der Universität sowie mit der Pharmaindustrie und dem landwirtschaftlichen Sektor entstanden, welche gute Resultate ausweist. Beispielsweise wurde die ganze Bevölkerung gegen die Leptospirose mittels eines homöopathischen Arzneimittels (NOSOLEP) immunisiert. Oder die Wirksamkeit und Effektivität von homöopathischen Medikamenten zur Behandlung der hämorrhagischen Konjunktivitis konnte nachgewiesen werden.

Die Finanzierung von Einrichtung und Infrastruktur für das MNT-Produktionslabor in Media Luna (Granma) hat die Arbeitsbedingungen des Personals verbessert und die Produktion erhöht: Das erwartete Resultat – eine Zunahme der Produktion in der Provinz bis zu insgesamt 2‘200‘000 Tinkturen, Salben und Tabletten – wurde übertroffen: 2009 wurden über 4‘336‘100 MNT-Medikamente produziert. Media Luna stellt MNT-Medikamente aus Medizinalpflanzen und Bienenprodukten besonders für die ländlichen Gebiete her, unterstützt aber auch die Forschung.

Im Weiteren wurden ebenfalls in den fünf Provinzen der östlichen Region sechs homöopathische Apotheken gebaut oder umgebaut: Zwei in Santiago de Cuba, eine in Guantanamo, eine in Holguin und zwei in der Provinz Granma. Nur der Umbau der Referenzapotheke in Manzanillo konnte wegen einer Änderung der Stadtplanung noch nicht abgeschlossen werden. Die besseren Angebote in der Homöopathie begünstigen ca. 1.5 Millionen EinwohnerInnen der Ostprovinzen sowie rund 120 Fachpersonen, die heute in den homöopathischen Apotheken unter besseren Bedingungen arbeiten.

MNT trägt zum Ziel „Gesundheit für Alle“ bei

„Gesundheit für Alle bis zum Jahr 2000 war das Hauptziel der im September 1978 tagenden Konferenz in Alma Ata. Heute wissen wir, dass die Erfüllung dieses ehrenwerten Ziels in weite Ferne gerückt ist – falls es denn jemals erfüllt werden sollte. Vielmehr hat sich die Gesundheit zu einem wirtschaftlichen Gut entwickelt, das für immer weniger Menschen erschwinglich geworden ist“, schreibt Michael Hausmann. (Hausmann, 2008)

Dies nicht aber in Kuba: Trotz aller Schwierigkeiten – vom Embargo bis zur heutigen Wirtschaftskrise – weist das Land weiterhin beeindruckende Gesundheitsindikatoren aus, welche in der Nähe oder gleich sind, wie die der reichen Länder. Gemäss WHO gab es im Jahr 2008 sechs Todesfälle pro 1000 Kinder unter fünf Jahren. Inzwischen haben die KubanerInnen eine der weltweit höchsten Lebenserwartung von 77 Jahren (WHO, 2010). Die Revitalisierung und Weiterentwicklung von MNT trägt wesentlich zu dieser positiven Entwicklung bei, ein Beispiel für alle armen Länder des Südens.

*Daniela Mencarelli Hofmann ist Politologin, Entwicklungs- und Umweltökonomin. Sie ist als Geschäftsleiterin bei mediCuba-Suisse tätig und Präsidentin des Vereins Dazugehören, welcher Migrationsthemen analysiert und den Dialog zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen fördert. Kontakt: daniela.mencarelli@medicuba.ch, http://www.medicuba.ch/

Anmerkungen