Abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz – eine verzweifelte Situation
Notunterkunft Glattbrugg, neben dem Ausschaffungsgefängnis in der roten Lärmzone. Foto: © Ursula Markus


Im Jahr 2020 lebten rund 6500 abgewiesene Asylsuchende, darunter 1061 Kinder, in der Schweiz im Nothilfesystem. Im letzten Quartal waren 2372 der Betroffenen Langzeitbeziehende (Staatssekretariat für Migration - SEM).

Die meisten Abgewiesenen leben oft jahrelang unter Bedingungen extremer Armut (Tagesbudget von 8-12 CHF), in provisorischen Unterkünften (Container, baufällige Häuser, Bunker) und unterstehen einem Beschäftigungs-, Arbeits- und generellen Integrationsverbot. Betroffene mit einer Rayoneinschränkung, einem faktischen Kontaktverbot, sind aufgrund ihres Status als Illegale dem ständigen Risiko willkürlicher Verhaftungen und wiederkehrender Haftstrafen ausgesetzt. Durch soziale Isolation und die Reduktion aller Verwirklichungschancen auf praktisch Null sollen die abgewiesenen Geflüchteten zermürbt und zur Ausreise bewogen werden.

Lebensbedingungen, die krank machen

Die Nothilfe wurde als vorübergehende Lösung über einige Monate für die Deckung der
Grundbedürfnisse nach Art. 12 BV konzipiert. Als Langzeitmassnahme führt sie zu Lebensbedingungen, die sich als inhuman, menschenrechtswidrig und krankmachend erweisen (humanrights.ch, 2017; Amnesty International, 2022).

Ein umfassender Bericht einer Autor:innengruppe (Ruckstuhl et al., 2020) zeigt die Zusammenhänge zwischen den aufreibenden sozialstrukturellen Lebensbedingungen im Nothilfesystem und den entwicklungs-, sozial- und gesundheitspsychologischen Fehlentwicklungen auf, die aus diesen Verhältnissen resultieren. Diese Verhältnisse widersprechen komplett dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geforderten Grundrecht auf Gesundheit. Das Menschenrecht auf den "höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit" gehört zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten ("WSK-Rechte"), wie sie von der UN im Sozialpakt 1966 (Art. 12) formuliert und von der großen Mehrheit der Staaten auch verabschiedet wurden» (Wulf, 2016). Das Menschrecht auf Gesundheit legt mit den sozialen Determinanten der Gesundheit minimale Standards wie ausreichende Ernährung, gesunde Wohn-, Arbeits- und Umweltbedingungen, gesundheitsbezogene Informationen und Bildung sowie Geschlechtergerechtigkeit fest. Für die Kinder wird dieses Grundrecht in der UN-Kinderrechtskonvention spezifiziert.

Eine Studie von Davallou (2018) fand denn auch bei abgewiesenen Geflüchteten in der Nothilfe deutlich höhere Krankheitswerte im Vergleich zu anderen Geflüchteten. Zwei Drittel der Befragten zeigten eine vollständig ausgebildete posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): 66-80 % leiden unter Angststörungen, 84-92% an Depressionen unterschiedlicher Ausprägung, 30% unter Selbstmordgedanken und 80% unter psychosomatischen und körperlichen Beschwerden.

Die Nothilfe wurde als vorübergehende Lösung über einige Monate für die Deckung der Grundbedürfnisse nach Art. 12 BV konzipiert. Als Langzeitmassnahme führt sie zu Lebensbedingungen, die sich als inhuman, menschenrechtswidrig und krankmachend erweisen.
Zehn Menschen zusammengequetscht auf engstem Raum. Wohnzimmer in einer Zürcher Notunterkunft. Foto: © Ursula Markus<br>
Zehn Menschen zusammengequetscht auf engstem Raum. Wohnzimmer in einer Zürcher Notunterkunft. Foto: © Ursula Markus

Erkenntnisse aus der Migrationsforschung zeigen ausserdem, dass die negativen Folgen der
Erfahrungen aus der Zeit vor und während der Flucht im Aufnahmeland kumulieren können, wenn dieses weder Sicherheit noch einen minimalen Entwicklungsraum bietet. Als schützende und stabilisierende Bedingungen (post-migratorische Schutzfaktoren) wirken 1) sichere und vorhersagbare Lebensverhältnisse, 2) verlässliche soziale Beziehungen, 3) Teilhabe an allen wichtigen gesellschaftlichen Prozessen wie Beschäftigung, Bildung und Freizeit, 4) ein soziales Klima in der Aufnahmegesellschaft, in dem die abgewiesenen Asylsuchenden Anerkennung, Würde, Respekt und Ermutigung erfahren (Silove, 2013). Wir können unschwer erkennen, dass die Verhältnisse, in denen Abgewiesene ihr Leben in der Nothilfe fristen müssen, diesen präventiven und gesundheitsförderlichen Postulaten spotten. Wir sehen ferner, dass die Menschen im Nothilferegime dauerhaft, oft über Jahre hinweg einer Vielzahl von äusserst belastenden Risikofaktoren ausgesetzt sind.

Erkenntnisse aus der Migrationsforschung zeigen ausserdem, dass die negativen Folgen der Erfahrungen aus der Zeit vor und während der Flucht im Aufnahmeland kumulieren können, wenn dieses weder Sicherheit noch einen minimalen Entwicklungsraum bietet.

Über fünfhundert Fachleute aus der ganzen Schweiz unterschreiben den offenen Brief

Eine Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus Vertreter:innen von Solinetz Zürich, terre des hommes schweiz und NCBI Schweiz, verfasste aufgrund des eingangs erwähnten Berichts (Ruckstuhl et. al., 2022) einen offenen Brief an die verantwortlichen Behörden von Bund und Kantonen sowie an die Verantwortlichen aus dem Asylbereich. Der offene Brief wurde auf deutsch, französisch und italienisch an Ärzt:innen, Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen aus allen Landesteilen der Schweiz verschickt. 540 Fachpersonen stellten sich hinter die Forderungen des offenen Briefes. Im offenen Brief - Für eine humane Behandlung von abgewiesenen Asylsuchenden (Solinetz, 2022) - werden die desolaten Lebensbedingungen der Abgewiesenen umrissen und folgende Forderungen erhoben:

  • Deckung des Grundbedarfs statt Nothilfe.
  • Schliessung der lagerartigen Unterkünfte, Unterbringung der Betroffenen in Wohnungen und Wohngemeinschaften.
  • Sofortige Aufhebung aller Ein- und Ausgrenzungen, Verzicht auf willkürliche Verhaftungen und wiederkehrende Haft- und Geldstrafen für den Tatbestand des illegalen Aufenthaltes.
  • Recht auf eine angemessene, Wohlbefinden und psychische Gesundheit stabilisierende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie Bildungsmöglichkeiten, Beschäftigung und Tagesstruktur, kulturelle und Freizeitangebot.
  • Regularisierung des Aufenthaltes von abgewiesenen Geflüchteten, die seit Jahren im Nothilferegime gefangen sind.
  • Gewährleistung der medizinischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung, Zugang zu psychosozialen Dienstleistungen.
  • Kinderrechtskonforme Bedingungen für abgewiesene Familien und ihre Kinder. Die Rechte von Kindern sind laut der Kinderrechtskonvention prioritär und ohne Rücksicht auf den Aufenthaltsstatus zu gewähren.
Der offene Brief - Für eine humane Behandlung von abgewiesenen Asylsuchenden - wurde an Ärzt:innen, Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen aus allen Landesteilen der Schweiz verschickt. 540 Fachpersonen stellten sich hinter die Forderungen.
Besucher und Bewohner vor der Bunkeranlage in Urdorf. Foto: © Ursula Markus<br>
Besucher und Bewohner vor der Bunkeranlage in Urdorf. Foto: © Ursula Markus


Die Antworten der Behörden auf den offenen Brief

Die Auswertung der behördlichen Rückmeldungen auf den offenen Brief vom 22. Februar 2022 wurde im Dezember 2022 veröffentlicht (Solinetz, 2022a). Sie zeigt grosse kantonale Unterschiede in der Handhabung der Nothilfe und offenbart die vorhandenen Handlungsspielräume für eine Humanisierung der Lebensbedingungen der Abgewiesenen.

Hier die wichtigsten Unterschiede und die damit verbundenen Handlungsspielräume:

  • Grundbedarf: Ansätze der Nothilfe können für Familien mit Kindern angehoben werden (Basel-Landschaft, Basel-Stadt); Genf sieht zusätzliche Mittel für Kinder in Ausbildung vor. Manche Kantone setzen die Tagesansätze für Essen, Mobilität, Kommunikation usw. wesentlich höher als andere, da der Bund keine genauen Vorgaben macht.
  • Unterkünfte insbesondere, aber nicht nur für Vulnerable: Der gesetzlich vorgeschriebenen besonderen Berücksichtigung individueller Bedürfnisse von vulnerablen Personen bei der Unterbringung tragen folgende Kantone mindestens teilweise Rechnung, indem sie Wohnungen und Wohngemeinschaften zur Verfügung stellen: Aargau, Fribourg, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Obwalden. Die meisten Kantone nutzen keine unterirdischen Bunker als Unterkünfte für abgewiesene Asylsuchende.
  • Aufhebung der Ein- und Ausgrenzungen, Verzicht auf Haft- und Geldstrafen: Hierzu gab es so gut wie keine Antworten der Kantone, ausser dem Hinweis von Basel-Landschaft, dass Rayonverbote zurückhaltend ausgesprochen würden. Laut Erfahrung der unterzeichnenden Organisationen ist die Praxis der Kantone hier jedoch sehr unterschiedlich: Manche verzichten mehr oder weniger auf polizeiliche Repression, Bussen und Inhaftierung wegen illegalen Aufenthalts.
  • Recht auf angemessene Teilhabe: Beschäftigungsprogramme für psychisch belastete Personen kennen der Kanton Aargau, die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen die Kantone Basel-Landschaft, Basel-Stadt; Beschäftigungsangebote gibt es in den Unterkünften des Kantons Fribourg, weiterführende Ausbildung inkl. Berufslehre für abgewiesene Jugendliche in Basel-Stadt, zusätzliche finanzielle Unterstützung für Jugendliche in Ausbildung in Genf, bessere Zugangsbedingungen für eine Beschäftigung für Eltern in Genf.
  • Medizinischpsychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung: Beschäftigungsmöglichkeiten für psychisch belastete Personen bietet der Kanton Aargau an. Der Kanton Fribourg hat ein Modell zur besseren Zusammenarbeit der Fachleute zwecks Erkennung, Zuweisung und Behandlung von psychisch besonders notleidenden Personen in der Nothilfe erarbeitet.
  • Kinderrechtskonforme Bedingungen für Kinder abgewiesener Familien: Ein akzeptables Umfeld für Kinder in der Nothilfe, d.h. Besuch der öffentlichen Schule, weiterführende Ausbildung wie Berufslehre oder andere Ausbildung auf Sekundarstufe II bietet Basel-Stadt, zusätzliche finanzielle Unterstützung für Kinder in Ausbildung Genf, die Garantie zur Beendigung der begonnenen Ausbildung Fribourg, allerdings im Tausch mit dem Einverständnis, nach der Ausbildung das Land zu verlassen.


Die Handlungsspielräume nutzen, die Rechte der Abgewiesenen weiterentwickeln

Die Arbeitsgruppe und die darin vertretenen Organisationen lehnen das inhumane Nothilfesystem für Abgewiesene weiterhin in aller Deutlichkeit ab, appellieren aber an die kantonalen Behörden, die grossen Handlungsspielräume, die sich aus den kantonalen Stellungnahmen zum offenen Brief ergeben haben, zu nutzen und weiterzuentwickeln. Die Nothilfeempfehlungen der Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK, 2012) müssen dringend angepasst werden. Daneben begrüssen wir alle Versuche auf nationaler Ebene (Motion «Ausserordentliche humanitäre Aktion für Nothilfe beziehende Personen aus altrechtlichem Verfahren» von Nationalrätin Streiff-Feller, 2021), gesetzliche Verbesserungen durchzusetzen und sich den humanitären und völkerrechtlichen Grundrechten anzunähern (vgl. Gmür, 2022). Eine Veränderung der inhumanen Nothilfepraxis erweist sich als dringend, gerade jetzt, da die Zahl der Geflüchteten wieder dramatisch anwächst und absehbar ist, dass auch die Zahl der abgewiesenen Geflüchteten wieder zunehmen wird.

Referenzen
Urs Ruckstuhl
Urs Ruckstuhl, Dr. Phil., Psychologe und Psychotherapeut, Vater dreier erwachsener Söhne. Er war vor seiner Pensionierung Berater und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, zuletzt verantwortlich für Projekte im Themenbereich Prävention und Gesundheitsförderung in Schulen. Im Herbst und Winter 2015 Einsätze an der Balkanroute. Er lebt in Zürich und ist in verschiedenen Flüchtlingsprojekten aktiv. Email