Kampf gegen HIV: Der Wissenschaft folgen
#AIDS2022: Proteste von Aktivist:innen an der diesjährigen Aids-Konferenz. Quelle: Screenshot AIDS 2022, Virtual


Die Aids-Pandemie könnte heute schon längst überwunden sein, wenn jede Person, sobald sie sich infiziert hat, Zugang zu antiretroviralen Medikamenten (ART) erhalten würde, wie sie bereits seit den 1990er Jahren zur Verfügung stehen. Dass dem vor allem in den Ländern des globalen Südens nicht so ist, liegt an Handelsbeschränkungen und schwindelerregenden Preisen für neue Medikamente, die für viele Infizierte eine Behandlung schlicht unmöglich machen. Bis heute kann die Pharmaindustrie über Menschenleben entscheiden – ohne, dass die Regierungen der Länder, die diese Industrie beheimaten, etwas dagegen unternehmen. Das war der Fall bei der HIV/Aids-Pandemie und dies hat sich auf eklatante Weise während der COVID-19 Pandemie wiederholt.

Wir haben alles, was wir zur Beendigung der Aids-Pandemie benötigen, alles bis auf den politischen Willen. Dies war eine Botschaft, die an der #AIDS2022 immer wieder zu hören war. Die diesjährige Aids-Konferenz zum Thema «Follow the Science» hat einmal mehr aufgezeigt, dass auch wenn eine Impfung noch aussteht (warum eigentlich fragen wir uns natürlich zurecht, nach den Erfahrungen mit der jüngsten Pandemie…), ist das Wissen und der medizinische Fortschritt so weit fortgeschritten, dass sich kein Mensch mehr mit HIV infizieren, geschweige denn an Aids sterben müsste. Was jedoch nach wie vor fehlt, ist eine verlässliche internationale Solidarität und der notwendige Anstieg der Finanzierungsmittel. Im Jahr 2021 waren die für HIV verfügbaren internationalen Mittel um 6 Prozent niedriger als 2010. Diese schwindende Unterstützung, mit entsprechenden Konsequenzen für seine Programme, beklagt UNAIDS schon seit langem und kämpft jedes Jahr erneut um in Frage gestellte Beiträge, vor allem seitens der ODA (Overseas Development Assistance).

Die diesjährige Aids-Konferenz zum Thema «Follow the Science» hat einmal mehr aufgezeigt, dass auch wenn eine Impfung noch aussteht (...), ist das Wissen und der medizinische Fortschritt so weit fortgeschritten, dass sich kein Mensch mehr mit HIV infizieren, geschweige denn an Aids sterben müsste.

«Not on track»

Der Kampf gegen Aids ist eingebrochen und das Ziel Aids bis 2030 zu beenden, ist in Gefahr. Sowohl der an der Konferenz veröffentlichte neue UNAIDS Bericht «In Danger» als auch viele Stimmen an der #AIDS2022 klangen alarmiert und zeichneten ein düsteres Bild. Die COVID-19-Pandemie hat die Fortschritte zunichte gemacht, Ungleichheiten massiv verstärkt und den Kampf gegen Aids um Jahre zurückgeworfen. Die Zahlen sind ernüchternd: 1.5 Millionen Menschen haben sich 2021 neu mit HIV/Aids infiziert, ca. 1. Million mehr als das globale Ziel und die Infektionen stiegen vor allem dort, wo sie zuvor zurückgegangen waren. Alle zwei Minuten trat 2021 unter jungen Frauen und Mädchen vor allem in Subsahara Afrika eine Neuinfektion auf. 10 Millionen Menschen warten auf eine Behandlung und 650 000 Todesopfer sind 2021 zu beklagen (UNAIDS, 2022A).

#AIDS2022. Quelle: Screenshot AIDS 2022, Virtual
#AIDS2022. Quelle: Screenshot AIDS 2022, Virtual
Der Vagnialring birgt die Hoffnung, dass Frauen sich in Zukunft besser aktiv vor HIV schützen können und nicht mehr ihren Sexualpartnern ausgeliefert sind.

Medizinischer Fortschritt

Zu den Highlights der Konferenz gehörten das sich ständig erweiternde Spektrum an medizinischen Möglichkeiten. ART ist nach wie vor ein unglaublich wirksames Mittel zur Vorbeugung und Behandlung von Infektionen und U=U (Undetectable=Untransmittible) hat sich in vielen Studien bestätigt. Die Entwicklung von lang wirkenden injizierbaren antiretroviralen Medikamenten ist ein enormer und revolutionärer Schritt nach vorn und hat das Potenzial, die Epidemie zu verändern. Eingesetzt zur Prävention kann die 2-monatige PrEP-Spritze (Prä-Expositions-Prophylaxe) eine Infektion bis zu 99% verhindern. Vor allem für Frauen in Afrika wird diese Möglichkeit als Game-Changer gehandelt und die WHO verkündete bereits bahnbrechende Leitlinien zum Umgang mit diesem Medikament (Cabotegravir - CAB-LA).

Für internationale Aufmerksamkeit sorgte die Ankündigung von ViiV Healthcare, dem Hersteller von Cabotegravir (CAB-LA), den Preis in einer Reihe von Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu senken sowie die Technologie dem Medicines Patent Pool zur Verfügung zu stellen, damit in ca. 90 Ländern entsprechende Generika produziert werden können. Wie jüngst in einer Pressekonferenz von UNAIDS kritisiert, ist diesbezüglich allerdings noch wenig passiert und man forderte ViiV auf, dieses Versprechen einzulösen und darüber hinaus, allen Ländern mit hohen HIV-Infektionsraten diese Möglichkeit zur Herstellung von Generika, zur Verfügung zu stellen (UNAIDS, 2022B).

Eine lautstark von Aktivist:innen an der Konferenz verkündete Forderung, ist die Aufstockung der Mittel für den Dapivirin-Vaginalring (DPV-VR). Da nur von Frauen kontrollierbar, ohne Nebenwirkungen und als sicher und praktikabel eingestuft, ist der Ring eine von Frauen gewünschte Option zur Verringerung des Risikos einer HIV-Infektion. Der Ring birgt die Hoffnung, dass Frauen sich in Zukunft besser aktiv vor HIV schützen können und nicht mehr ihren Sexualpartnern ausgeliefert sind. Um den Ring ordnungsgemäß zu verwenden, muss er 28 Tage lang in der Vagina getragen werden; danach sollte er durch einen neuen Ring ersetzt werden. Im Jahr 2021 gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) grünes Licht dafür, dass der Ring als zusätzliche Präventionsmöglichkeit für Frauen mit hohem HIV-Infektionsrisiko im Rahmen von Kombinationspräventionskonzepten angeboten werden sollte (WHO, 2021).

Eingesetzt zur Prävention kann die 2-monatige PrEP-Spritze (Prä-Expositions-Prophylaxe) eine Infektion bis zu 99% verhindern.

«Gefährliche Ungleichheiten» – Motto des Welt-Aids-Tages 2022

«Menschen sterben aufgrund von Ungleichheit!». Ein Appell von Linda-Gail Bekker, Professorin und Direktorin am Desmond Tutu Health Centre in Kapstadt an der #AIDS2022.

Diese gefährliche Ungleichheit – «Dangerous Inequalities» -, das Motto des heutigen Welt-Aids-Tages 2022 (UNAIDS, 2022C), zeigte sich auch in eklatanter Weise am Visa-Desaster, welches die Konferenz überschattete, da vielen Aktivist:innen weltweit die Einreise nach Kanada verweigert wurde. Eine Session musste komplett abgesagt werden, da alle Referent:innen aus dem globalen Süden nicht einreisen konnten – ein Eklat! (siehe Foto).

#AIDS2022: Sitzung zum Thema Stigmatisierung im Zusammenhang mit HIV im klinischen Umfeld. Allen Diskussionsteilnehmern wurde die Einreise nach Kanada verweigert. Quelle: Screenshot AIDS 2022 - Virtual
#AIDS2022: Sitzung zum Thema Stigmatisierung im Zusammenhang mit HIV im klinischen Umfeld. Allen Diskussionsteilnehmern wurde die Einreise nach Kanada verweigert. Quelle: Screenshot AIDS 2022 - Virtual

Symptomatisch für den jahrzehntelangen Kampf gegen Aids: Diejenigen, die den Grossteil der Krankheitslast sehen und tragen, konnten an der Konferenz nicht gehört werden.

Als unakzeptabel, als Rassismus und Kolonialismus in der globalen Gesundheit kritisiert Winnie Byanyima., die Direktorin von UNAIDS, diese Schieflage, wie sie ihr auch bei der Teilnahme an einem Anlass von US-amerikanischen Vertreter:innen von Global Health Institutionen, besonders bewusst wurde. Man wolle die Betroffenen in den Communities anhören, war das Credo des Anlasses, nur leider waren diese Stimmen nicht anwesend – keine HIV-Betroffenen, keine Aktivist:innen und auch keine Wissenschaftler:innen aus dem Globalen Süden waren zu diesem Treffen eingeladen. Dabei ist der globale Fortschritt im Kampf gegen HIV/Aids vor allem auf den beispiellosen Aktivismus der betroffenen Zivilgesellschaft zurückzuführen.

Das Problem, so die Direktorin von UNAIDS, ist, dass genau diese Attribute – Ungleichheit einschliesslich Rassismus – die HIV-Pandemie antreiben. Global gesehen, gehen die Infektionen zurück, doch in vielen Ländern steigen die Infektionen unter marginalisierten Bevölkerungsgruppen, den sog. Key Populations, einschliesslich schwarzen und indigenen Gruppen weiter an (AIDS, 2022: Anti-racism and decolonizing the AIDS response: Moving from rhetoric to reformation).

Symptomatisch für den jahrzehntelangen Kampf gegen Aids: Diejenigen, die den Grossteil der Krankheitslast sehen und tragen, konnten an der Konferenz nicht gehört werden.

Missachtung der Menschenrechte

Ein Hauptgrund, warum sich die Epidemie schon seit Jahren in den sog. Schlüsselgruppen («Key Populations») manifestiert und im Anstieg begriffen ist, ist die Missachtung ihrer Menschenrechte. Etwa 70% der Neuinfektionen im vergangenen Jahr betrafen diese Bevölkerungsgruppen, zu denen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), Sexarbeiter:innen, Transsexuelle, Menschen, die Drogen injizieren und Gefangene gezählt werden (WHO, 2022; AIDS, 2022: Launching new WHO guidelines for key populations: Focus for impact).

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Ein wachsender politischer Konservatismus führt dazu, dass viele Regierungen entgegen wissenschaftlichen Erkenntnissen, diese Bevölkerungsgruppen nicht anerkennen und ins Abseits drängen. Sie sind mit grossen rechtlichen Einschränkungen konfrontiert. Beispielsweise kriminalisieren achtundsechzig Länder homosexuelle Männer und gleichgeschlechtliche Beziehungen und fördern dadurch deren Diskriminierung und Stigmatisierung.


Die notwendige Adaption der «Fast-Track» Ziele

Zurückgehende Mittel, finanzielle Unterstützung nur noch für Länder mit niedrigem Einkommen haben dazu geführt, dass die von UNAIDS gesteckten «Fast-Track» Etappenziele 90-90-90 (90% getestet; 90% davon in Behandlung, 90% davon zeigen eine Virussuppression) bis zum Jahr 2020 nicht erreicht werden konnten. Die Regierungen haben es versäumt, gefährdete Bevölkerungsgruppen – wie oben beschrieben – - zu erreichen. Diese Gruppen symbolisieren die letzte Etappe der Ziele «10-10-10», die entscheidend sind, soll das Ende der Pandemie bis 2030 erreicht werden. Eine zu starre Fokussierung auf die 90-90-90 Ziele, die vor allem die Bekämpfung von HIV in der Gesamtbevölkerung in den Blick nahmen, hat die Schüsselgruppen weitgehend vernachlässigt. Man hatte sich zu sehr darauf verlassen, dass die Angebote auch auf gefährdete Bevölkerungsgruppen übergreifen würden (AIDS, 2022: The 2025 targets: Powerful mobitivators or will we miss the mark?).

Mit den neu verabschiedeten Zwischenzielen bis 2025 verstärkt UNAIDS die Anstrengungen Aids bis 2030 zu beenden und will stärker als zuvor soziale Ungleichheit als wesentliche Barriere bekämpfen. Die «2025 Targets» stellen erstmals die Schlüsselgruppen ins Zentrum der HIV-Prävention, einschliesslich der Bekämpfung ihrer Stigmatisierung und Diskriminierung. Auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und der Rückgang von Gewalt an Frauen und Mädchen ist ein zentraler Aspekt. Gleichzeitig soll die Führungsrolle der Communities, die als Schlüssel zum Erfolg gelten, einen neuen Stellenwert erhalten (UNAIDS, 2021).

Mit den neu verabschiedeten Zwischenzielen bis 2025 verstärkt UNAIDS die Anstrengungen Aids bis 2030 zu beenden und will stärker als zuvor soziale Ungleichheit als wesentliche Barriere bekämpfen.
#AIDS2022. Quelle: Screenshot AIDS 2022, Virtual
#AIDS2022. Quelle: Screenshot AIDS 2022, Virtual

Die neuen Ziele sind auch ein Aufruf an die Regierungen, die psychische Gesundheit der Betroffenen stärker in den Blick zu nehmen. In vielen Diskussionen an der #AIDS2022 war die mangelnde Berücksichtigung der mentalen Gesundheit ein Thema: Man weiss um die Bedeutung einer integrierten Versorgung, aber nur wenige Länder bieten psychosoziale Unterstützung als Teil ihrer HIV-Dienste an. Lucy Cluver, Professorin für Soziale Arbeit an der Universität von Oxford und an der Universität von Kapstadt, berichtet über sehr effektive, einfach zu adaptierende Programme, die besonders junge Menschen, für die eine HIV-Diagnose oft ein Trauma darstellt, auffangen können (The Lancet, 2022).

Auch Marijke Wijnroks vom Globalen Fonds (GF) räumte ein, dass diese Problematik in der Vergangenheit in den Programmen des GF noch eine untergeordnete Rolle eingenommen hätte, in der neuen Strategie mit dem Fokus auf eine personenzentrierte primäre Gesundheitsversorgung jedoch explizit einbezogen wurde. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass auch HIV+ Menschen, die unter Behandlung sind und sich physisch gesund fühlen, weiterhin unter der Stigmatisierung leiden und mit Depressionen und anderen psychischen Problemen zu kämpfen haben (AIDS, 2022: Mental health and HIV: the emerging and critical dimension in fighting HIV).

Die Beendigung der HIV-Pandemie liegt nicht länger in den Händen der Wissenschaft, sondern in denen der Politik.

Die Aids-Konferenz stellte klar: Die Beendigung von Aids ist weit weniger kostspielig als die Nichtbeendigung. Wenn es jetzt nicht gelingt, die Pandemie bis 2025 so weit einzudämmen, dass weniger als 370’000 HIV-Neuinfektionen pro Jahr zu verzeichnen sind, wird es immer schwieriger und teurer, die Pandemie bis 2030 zu beenden. Die Schweiz als Mitglied im Vorstand des Globalen Fonds und als Sitzstaat vieler UN-Organisationen, wie der WHO, sollte entschlossener dazu beitragen, die Gebermüdigkeit zu beenden und die notwendige Aufstockung der finanziellen Mittel voranzutreiben.

Die Beendigung der HIV-Pandemie liegt nicht länger in den Händen der Wissenschaft, sondern in denen der Politik.


Referenzen
Martina Staenke
Martina Staenke, Mitarbeiterin Kommunikation Medicus Mundi Schweiz.