Venezuelanische Flüchtlinge als grosse Herausforderung für Akteure der humanitären Hilfe

Flüchtlinge in Bogota. Foto: John Orlando

6‘000 Personen überschreiten täglich die Grenze nach Kolumbien, auf der Suche nach Schutz, Nahrung und Gesundheit

Die 3 Länder, die den grössten Anteil an Migrant*innen verzeichnen sind Kolumbien (1.4 Moi), Peru (853‘429) und Ecuador (303‘414). Die Migration nach Kolumbien lässt sich in vier Kategorien einteilen. Die reguläre Migration, die über kontrollierte Grenzposten aufgrund der Vorlage eines gültigen Identitätsdokumentes, eines Visums oder einer temporären Aufenthaltsbewilligung (PEP[1]) geschieht. Die irreguläre Migration zeichnet sich dadurch aus, dass die Einreise über eine illegale Grenze erfolgt, indem Migrant*innen Grenzgewässer durchqueren oder auf Trampelpfaden Grenzen überqueren.[2] Die Pendelmigration bezieht sich auf Personen, welche die Grenze für kürzere Perioden auf der Suche nach Gebrauchsgütern für den Eigenbedarf oder zum Weiterverkauf überqueren und dann wieder in ihre Heimatländer zurückkehren.[3] Von Transitmigration spricht man, unabhängig davon, ob die Einreise nun legal oder irregulär erfolgt ist, wenn Einreisende nach Kolumbien, das Ziel haben, hauptsächlich nach Peru oder Ecuador weiterzureisen. Gerade unter diesen Migrant*innen befinden sich besonders verletzliche Gruppen wie die sogenannten caminantes, die Marschierenden, die zu Fuss während Monaten Tausende von Kilometern zurücklegen. Gerade sie sind bezüglich Gesundheit und Schutz besonderen Risiken ausgesetzt. Sie erhalten unterwegs Nahrungsmittelhilfe, gesundheitliche Unterstützung und Kleidung durch internationale NGOs und das kolumbianische Rote Kreuz. Aufgrund ihrer Wanderungsbewegungen ist diese Unterstützung sehr komplex. [4]

Beratung für schwangere Frauen, Grenze von Cúcuta. Foto: John Orlando

Für alle Migrationsformen und unabhängig davon, ob die Menschen legal oder irregulär migrieren, gilt, dass eine Rückkehr nach Venezuela so lange unwahrscheinlich ist, wie sich die interne Situation im Herkunftsland nicht verbessert hat. Auch wenn es dazu keine Zahlen gibt, befinden sich unter den Migrant*innen Bürger*innen mit doppelter Staatsbürgerschaft, die sowohl einen kolumbianischen wie auch einen venezolanischen Ausweis besitzen, was ihnen den Zugang zum Gesundheitssystem, zu den Schulen und theoretisch auch zum Arbeitsmarkt erlaubt – dies in einem Land, indem sich die offizielle Arbeitslosigkeit 10% annähert und die Unterbeschäftigung und der informelle Sektor sehr ausgeprägt sind.

Vergrösserung des Armutsgürtels und des informellen Sektors

Im Vergleich zu den Tausenden von Personen, die Venezuela vor rund 8-10 Jahren, während der ersten Migrationsphase verlassen haben und die über Ressourcen und Kapazitäten verfügten, um sich als Ausländer*innen einigermassen geordnet niederzulassen, handelt es sich bei den Migrant*innen der letzten Jahre um besonders verletzliche Menschen. Diese Migrant*innen folgen ihren Eltern, die als Vorhut gekommen sind und die ihren Kindern aber zum grossen Teil keine würdigen Lebensbedingungen bieten können. In der Folge kommen täglich Tausende von Migrant*innen in die Banlieus und Slums der Grenzstädte oder der grossen Städte wie Bogota, Medellin oder Calli, wo sie sich in Parkanlagen oder unter Brücken niederlassen, unsaubere Zimmer mieten oder, mit etwas Glück, für einige Nächte eine Unterkunft in karitativen Einrichtungen erhalten.

Es lässt sich ein Anstieg des Phänomens des Strassenverkaufs feststellen, der informellen Arbeit par excellence. Es gibt kaum ein Lichtsignal, wo nicht Migrant*innen arbeiten, die, begleitet von Kindern, Süssigkeiten verkaufen und an das gute Herzen der Autofahrer*innen appellieren. Die Konkurrenz zu den schon vorhanden kolumbianischen Strassenverkäufer*innen birgt Risiken und einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit. Zur hohen Verletzlichkeit der Migrant*innen kommt die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern hinzu sowie die Rekrutierung durch das organisierte Verbrechen oder durch Guerillagruppen, die sich nicht dem Friedensprozess angeschlossen haben.

Messung der Grösse eines Kindes, Grenze von Cúcuta. Foto: John Orlando

Ein Flüchtlingslager

Im März 2018 wurde unter der Verantwortung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge und unter der Führung des dänischen Rats für Flüchtlinge (DRC) ein Flüchtlingsauffangzentrum, das Centro de Atención Integral Maicao (CAS) eröffnet. Es liegt sieben Kilometer vom Grenzposten Paraguachón im Departement La Guajira, das nach Bogota (23%) und Norte Santander (13%) den 3. Rang (11%) bezüglich der Aufnahme von Migrant*innen belegt. Es ist das einzige Lager des Landes, das sich in Nachbarschaft zu einem Transitzentrum befindet. Die Menschen, die hier Aufnahme finden, werden aufgrund präziser Kriterien (grosse Familien mit kleinen Kindern, schwangere Frauen, Kinder mit Behinderungen, ältere Personen) ausgewählt. Das CAI bietet spezifische Dienstleistungen, welche Behörden, UN-Agenturen und internationale Nichtregierungsorganisationen wie der norwegische Rat für Flüchtlinge (NRC), Handicap International (HI), der Action contre la Faim (ACF) und das Rote Kreuz Kolumbiens erbringen. Leider ist die Kapazität des CAI auf 350 Personen beschränkt, die maximal 30 Tage dort bleiben können. Die Warteliste erreichte Ende Juli 2019 2‘000 Personen. Eine Erweiterung um 750 Personen steht bevor, was wichtig ist, jedoch nicht den Bedarf der Tausenden von Migrant*innen deckt, die täglich über die Grenze in die Region kommen.

Aus dem Ruder gelaufenes Gesundheitssystem und die Komplementarität der humanitären Hilfe

Die Bemühungen Kolumbiens, Flüchtlinge aus Venezuela aufzunehmen, sind zu begrüssen. Sowohl der Ex-Präsident Juan Manuel Santos (Friedensnobelpreisträger 2016), der von 2010 bis 2018 regierte, wie auch der aktuelle Präsident, Ivan Duque, sind politisch offene und solidarische Persönlichkeiten, was die humanitären Konsequenzen des Exodus‘ aus Venezuela betrifft. Mit Nachdruck ist aber auch darauf hinzuweisen, dass die staatlichen Dienste nicht nachkommen, die sozialen und gesundheitlichen Bedürfnisse der Migrant*innen aufzufangen. Auf dem ganzen Territorium verfügen die medizinischen Notfalldienste nicht über die entsprechenden Kapazitäten, um den Bedürfnissen der Tausenden von Personen gerecht zu werden, auf den diese egal ob sie nun legal oder irregulär eingereist sind, eigentlich einen Anspruch hätten. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, wo Hilfe abgelehnt oder nur in reduziertem Umfang gewährleistet worden ist. So erhalten etwa nur diejenigen Flüchtlinge Zugang, die bereits im Besitz einer vorläufigen Aufenthaltsbewilligung sind. Aus diesem Grunde ist die humänitäre Hilfe als Ergänzung von zentraler Bedeutung, auch wenn diese „nur“ 30 Prozent der Abdeckung gewährleistet.

Kindererärztliche Beratung, Norte Santander. Foto: John Orlando

Mehrere Nichtregierungsorganisationen wie Action contre la Faim (ACF) oder Médecins du Monde, die über eine Expertise im Bereich Gesundheit und Ernährung verfügen, engagieren sich für Migrant*innen in den Grenz- und ländlichen Gebieten, sowie in den Vororten und Städten. Ihre Mitarbeiter*innen vor Ort zeigen sich beunruhigt über die Situation von schwangeren und stillenden Müttern sowie von Kindern, die mit Mangelernährung diagnostiziert werden. Allein im Grenzgebiet von Cúcuta haben die Teams von ACF zwischen Januar und Juli 2019, von 1‘128 Kindern 73 Fälle mit erhöhtem Risiko für Mangelernährung, 25 mit hoher und 9 mit schwerwiegender Mangelernährung festgestellt. Weiter wurden 63 schwangere Frauen und 162 stillende Mütter gezählt. In Bogota haben die mobilen ACF-Equippen monatlich 80 Schwangere begleitet, darunter sehr junge Frauen, und 65 Kinder unter fünf Jahren. Die schwerwiegendsten Fälle sind an die öffentliche Gesundheitsversorgung überwiesen worden. Ganz allgemein berichtet das Gesundheitspersonal Beunruhigendes über Menschen mit nicht-übertragbaren Krankheiten, die eine kontinuierliche Behandlung benötigten. Berücksichtigt man, dass es sich bei den Migrant*innen, die jetzt ins Land kommen, mehr und mehr um besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen handelt, muss mit fatalen Folgen gerechnet werden, wenn es nicht gelingt, dringend erforderliche Massnahmen in die Wege zu leiten.

Die humanitären Prinzipien schützen und die Situation in Venezuela auf der internationalen Agenda stärken

Es ist wichtig, zwei potentielle Gefahren im Auge zu behalten, die im Kontext der humanitären Interventionen in der Region erwachsen können. Einerseits die Wichtigkeit, die humanitären Prinzipien als Fundament der humanitären Hilfe zu bewahren, indem daran erinnert wird, dass diese zum Ziel haben, eine Unterstützung zu gewährleisten, welche die Menschenrechte, die Neutralität, die Unteilbarkeit und die Unabhängigkeit garantieren. Jede Übertretung dieser Prinzipien wären höchst schädlich und gefährden die Bemühungen die Bevölkerung wirksam und effizient zu unterstützen. Die humanitären Akteur*innen müssen Garant*innen dieser Prinzipien sein und sich konsequent gegen jeden Versuch der Politisierung der Hilfe widersetzen. Auf der anderen Seite muss es für die internationale Zusammenarbeit und innerhalb der Politik der Geberstaaten Priorität sein, die Situation der Migrant*innen aus Venezuela und die Folgen für den Kontinent zu thematisieren. Die Finanzhilfe muss erhöht werden, um nicht nur auf die dringendsten Bedürfnisse zu reagieren, sondern auch um die soziale, ökonomische und kulturelle Inklusion als Prävention vor Fremdenfeindlichkeit zu garantieren.

Durch die Messung des Armumfanges mit einem Armband (MUAC - Mid-Upper Arm Circumference) kann die Unterernährung kontrolliert werden. Foto: John Orlando

Trotz der bekannten Folgen dieses massiven Exodus‘ auf dem Kontinent ist es beunruhigend festzustellen, dass in der politischen Debatte ein Rückzug oder eine Verringerung der Hilfe für Lateinamerika in gewissen Ländern Europas diskutiert wird. Auch wenn es erfreulich ist, dass verschiedene lateinamerikanische Länder bezüglich ihrer makrowirtschaftlichen Daten, der Politik und der Menschenrechte deutliche Fortschritte gemacht haben, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich die soziale Ungleichheit und die bestehende Armut, die Millionen von Menschen betrifft, weiter vertieft haben; dazu kommen hunderte von besonders verletzlichen indogenen Völkern, die nicht von der makroökonomischen Entwicklung profitieren. Die Entwicklungspolitik unserer europäischen Länder muss besonders wachsam bleiben und darf die populistische Haltung und die noch bestehende fragile demokratische Gouvernanz in der Region nicht ignorieren.

Referenzen:

  • [1] Diese Aufenthaltsbewilligung wird für maximal 2 Jahre vergeben. Zurzeit werden keine neuen Aufenthaltsbewilligungen ausgestellt.
  • [2] Das Grenzgebiet ist 2‘200 km lang. Es existieren Tausende von illegalen Grenzposten, die von Schleppern kontrolliert werden, welche die Migrant*innen bezahlen müssen.
  • [3] Es gibt viele indigene Völker, die sich historisch zwischen Venezuela und Kolumbien aufhalten und die Grenzen regelmässig überqueren. Seit der Verschlechterung der Situation in Venezuela haben sich diese Grenzüberschreitungen vermehrt.
  • [4] Ein zusätzliches Risiko für die caminantes (die Marschierenden) ergibt sich aufgrund der klimatischen Bedingungen, da sie für die Durchquerung des Landes Gebirgspässe passieren müssen, die eine Höhe von bis zu 4'000 Meter erreichen. Menschen, die aus warmen Regionen kommen, sind physisch und praktisch nicht auf solche Reisen vorbereitet, weshalb regelmäßig von Unterkühlungstoten besonders gebrechlicher Menschen und Kindern berichtet wird.
John Orlando
John Orlando arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der internationalen Zusammenarbeit und der humanitären Hilfe. Seit 1996 hat er für Ärzte ohne Grenzen, Médecins du Monde und Terre des hommes gearbeitet. Von 2012 bis 2014 unterrichtete er an der Hochschule für soziale Arbeit in Genf (HES/SO), zu Themen der internationalen Zusammenarbeit und den Menschenrechten. Ausserdem entwickelte er eine postgraduierten Ausbildung CAS/DAS zum Spezialisten, zur Spezialistin im Kinderschutz. 2016 hat er das CAS zum Jugendrecht mitgeleitet, das seit 2017 durch das interfakultäre Zentrum zum Kinderrecht von der Universität Genf angeboten wird. Seit 2018 arbeitet er für die internationale NGO Action contre la Faim als Chefdelegierter, um die humanitären Aktionen in Kolumbien zu leiten. Er ist Vorstandsmitglied von Médecins du Monde Schweiz.