Was geht uns Dekolonisierung an?
Dekolonisierung in der Kommunikation heisst nicht, schwierige Situationen nicht zu zeigen. Die Frage ist, wie man das tut. Foto: Roshni Lodhia/SolidarMed/Fairpicture

Entwicklungsorganisationen debattieren über «decolonizing aid». Die Politik beschäftigt sich mit der Ausgestaltung ihrer Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden und denkt (endlich) über die koloniale Vergangenheit nach. Internationale Unternehmen werden immer stärker zur Verantwortung für ihr globales Verhalten gezogen. Das sind erste Schritte auf dem Weg in eine gerechte und inklusive Welt.

Doch der Weg ist noch weit und wir machen es uns zu leicht, wenn wir Dekolonisierung nur auf die Vergangenheit beziehen. «Dekolonisierung» fordert uns dazu auf, generell über Strukturen der Macht nachzudenken, mit denen Staaten, Unternehmen, aber auch charismatische religiöse Gemeinschaften oder Entwicklungsorganisationen ihre wirtschaftlichen, ideologischen und ideellen Interessen im Globalen Süden verfolgen. Denn koloniale Strukturen haben mit der Unabhängigkeit der Kolonien kein Ende genommen. Die von partikularen Eigeninteressen getriebenen Mechanismen von Kontrolle, Einflussnahme und Ausbeutung sind heute vielleicht nicht mehr so offensichtlich, wie sie es während der historischen Epoche des Kolonialismus waren - und die Akteure sind andere. Doch Machtstrukturen und Herrschaftsinteressen haben überdauert, genauso wie die Mittel ihrer Durchsetzung, mit dem ganzen Repertoire von Gewalt, Diskriminierung, Abhängigkeit, Erlösungsversprechen und Charity.

Koloniale Strukturen haben mit der Unabhängigkeit der Kolonien kein Ende genommen. (...) Machtstrukturen und Herrschaftsinteressen haben überdauert, genauso wie die Mittel ihrer Durchsetzung, mit dem ganzen Repertoire von Gewalt, Diskriminierung, Abhängigkeit, Erlösungsversprechen und Charity.
Mehr als 50 Frühgeborene werden in der 2019 eröffneten Frühgeborenen-Station am Spital in Lugala, Tansania, pro Monat behandelt. Es kann keine hochtechnisierte Spitzenmedizin angeboten werden und das Sterberisiko für die Kinder bleibt hoch. Darum tragen viele der Neugeborenen auf der Station noch keine Namen. Foto: Roshni Lodhia/SolidarMed/Fairpicture.
Mehr als 50 Frühgeborene werden in der 2019 eröffneten Frühgeborenen-Station am Spital in Lugala, Tansania, pro Monat behandelt. Es kann keine hochtechnisierte Spitzenmedizin angeboten werden und das Sterberisiko für die Kinder bleibt hoch. Darum tragen viele der Neugeborenen auf der Station noch keine Namen. Foto: Roshni Lodhia/SolidarMed/Fairpicture.


Unsere Diskurse widerspiegeln strukturelle Gewalt

Kolonialismus hat nicht nur mit der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen oder mit der erzwungenen Umstrukturierung von Wirtschaftssystemen zur Sicherung von Absatzmärkten zu tun. Neben dieser ökonomischen Dimension ist Kolonialismus auch verbunden mit kultureller Abwertung und dem Zwang zu kultureller Assimilation. Dass das gewalttätige Aufbegehren französischer Jugendlicher in Frankreichs Städten, wie jüngst in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen (Gujer, E. 2023), mit den «bildungsfernen Traditionen der Herkunftsländer» erklärt und im gleichen Atemzug der Ruf nach Durchsetzung «der Leitkultur» laut wird, bringt die Bedeutung der kulturellen Dimension andauernder kolonialer Denkmuster anekdotisch zum Ausdruck.

Kulturelle Enteignung ist ein auf Langfristigkeit angelegtes, effizientes Mittel zur Sicherung von Herrschaft. Wer im beruflichen und privaten Alltag, in Bildern oder in Texten wiederkehrend als bildungsfern, chaotisch, zurückgeblieben, ungläubig, gewaltbereit, promiskuitiv oder faul diffamiert wird, wessen Kultur als «Subkultur» eingeordnet oder einzig als Gegenstand ethnologischer Forschung relevant ist, erfährt als Mensch Herabsetzung und als Teil der Gesellschaft strukturelle Gewalt. Konkret bedeutet das geringere Lebenschancen für Einzelne und geringere Ressourcen für ganze Volkswirtschaften. Die visuelle Kommunikation ist dabei ein mächtiges Instrument der Perpetuierung ausgrenzender Stereotype (Arnold, J. 2023). Denn Bilder konkretisieren Ideen und lassen Anschauungen Wirklichkeit werden.

Kolonialismus hat nicht nur mit der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen oder mit der erzwungenen Umstrukturierung von Wirtschaftssystemen zur Sicherung von Absatzmärkten zu tun. Neben dieser ökonomischen Dimension ist Kolonialismus auch verbunden mit kultureller Abwertung und dem Zwang zu kultureller Assimilation.

Entwicklungsorganisationen in der Verantwortung

Als zivilgesellschaftlichen Akteur:innen kommt den in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen NGOs in der Debatte über «Dekolonisierung» eine besonders wichtige Rolle und Verantwortung zu. Sie sind nicht nur Akteur:innen mit besonders hoher Glaubwürdigkeit und einigem Einfluss in Politik und Gesellschaft. Mit ihrer Kommunikation erreichen sie auch nicht zu unterschätzende Reichweiten. Weil sich der «Diskurs auf Augenhöhe» bei den meisten im Leitbild wiederfindet, können sie entscheidend dazu beitragen, koloniale Muster zu durchbrechen.

In der Programmarbeit haben viele Organisationen den Schritt von einseitig paternalistischen Hilfeleistungen hin zu Partnerschaften gemacht, bei denen die Bedürfnisse und Ressourcen der lokalen Partner und der Menschen in den Projekten im Mittelpunkt stehen. Lokales Wissen und Lösungsansätze fliessen in die Zusammenarbeit ein. Das hat nicht nur mit Wertschätzung zu tun, sondern ermöglicht auch eine nachhaltigere Verankerung von Veränderungsprozessen, die den Bedürfnissen und Prioritäten der lokalen Gemeinschaften dienen sollen. Eine Kultur der Kooperation und des gegenseitigen Lernens soll sich etablieren, anstatt einen hierarchischen Ansatz zu verfolgen, bei dem westliche Konzepte als überlegen betrachtet werden.

Getrieben von der Angst, auf dem Spendenmarkt an Anteilen zu verlieren, bekunden dagegen das Fundraising und das Marketing von Entwicklungsorganisationen vielfach Mühe, die in ihren eigenen Programmabteilungen entwickelten Konzepte in ihrer Arbeit umzusetzen.
Das Kind von Scholastica Fukla kam als Frühchen mit einem Geburtsgewicht von gerade mal 1.6 Kilogramm auf die Welt. Das Jüngste von vier Kindern verbrachte neun Tage in der Frühgeborenen-Station des Spitals von Lugala. Foto: Roshni Lodhia/SolidarMed/Fairpicture
Das Kind von Scholastica Fukla kam als Frühchen mit einem Geburtsgewicht von gerade mal 1.6 Kilogramm auf die Welt. Das Jüngste von vier Kindern verbrachte neun Tage in der Frühgeborenen-Station des Spitals von Lugala. Foto: Roshni Lodhia/SolidarMed/Fairpicture


Ein überholtes Narrativ

Getrieben von der Angst, auf dem Spendenmarkt an Anteilen zu verlieren, bekunden dagegen das Fundraising und das Marketing von Entwicklungsorganisationen vielfach Mühe, die in ihren eigenen Programmabteilungen entwickelten Konzepte in ihrer Arbeit umzusetzen. Muster, die sich mit dem Selbstverständnis des «white saviourism» bei den Spender:innen anbiedern und mit Stereotypen von Armut und Handlungsunfähigkeit Dringlichkeit generieren; Narrative, die abwechselnd mit Elend und dankbarem Glück von Begünstigten operieren: sie bilden nach wie vor das Standardrepertoire der Fundraiser:innen und ihrer Agenturen. Zwar wird viel geredet über ethisches Storytelling - doch es ist eine überschaubare Anzahl von Organisationen, die entsprechende Konzepte tatsächlich erarbeiten und in deren Umsetzung investieren (Caspari, D. 2023).

Narrative, die abwechselnd mit Elend und dankbarem Glück von Begünstigten operieren: sie bilden nach wie vor das Standardrepertoire der Fundraiser:innen und ihrer Agenturen.

Der Diskurs über «Dekolonisierung» ist im Zentrum der westlichen Gesellschaften angekommen. Machtstrukturen werden kritisch reflektiert, Machtbeziehungen in Frage gestellt. Die Legitimität westlicher Organisationen als Akteur:innen von «Entwicklung» steht in vielerlei Hinsicht zur Diskussion. Auf dem Stiftungsmarkt ist zu beobachten, dass immer mehr grosse und mittlere Stiftungen strategische Kooperationen mit Organisationen vor Ort suchen und auf die intermediären Dienste der klassischen Entwicklungsorganisationen verzichten. Spender:innen hinterfragen das ihnen in den Spendenmailings präsentierte Bild des Globalen Südens. Dekolonisierung ist präsent, die Entwicklungszusammenarbeit wird sich entlang dieses Diskurses verändern. Sich strategisch mit der Frage der Dekolonisierung auseinanderzusetzen und sich auf echte Partnerschaften mit dem Globalen Süden einzulassen, ist keine Frage mehr. Viele Programmabteilungen sind auf dem Weg. Es ist höchste Zeit, dass auch das Fundraising und das Marketing sich auf diesen Weg machen und ihre Praxis kritisch überprüfen.


Referenzen
Jörg Arnold
Jörg Arnold ist Soziologe und einer der Gründer von Fairpicture, der Plattform für lokal produzierte Fotos und Videos für eine faire und ethische Kommunikation (fairpicture.org). Er war zuvor während 16 Jahren verantwortlich für das Fundraising und das Marketing von Caritas Schweiz. Email