Noch nicht einmal über die Definition, was überhaupt eine Medikamentenfälschung ist, herrscht international Einigkeit. In einem Papier der Weltgesundheitsorganisation WHO wird angemahnt, dass ein „breiterer Konsens über die Definition eines gefälschten Medikaments notwendig“ sei. (1) Selbst das Sammeln von Daten sei sonst schwierig – und erst recht Massnahmen zum Kampf gegen Fälschungen.

Was auf den ersten Blick banal klingen mag, ist so einfach nicht. Je nach Interessenlage werden Fälschungen sehr unterschiedlich definiert. So zählt das neoliberal ausgerichtete private Center for Medicines in the Public Interest CMPI (2) auch den in der Europäischen Union legalen und gut kontrollierten Parallelimport von Arzneimitteln zu den Fälschungen. (3) Hinter solchen Behauptungen stecken Umsatzinteressen grosser Pharmakonzerne, die ihre Markenprodukte je nach Land zu verschieden hohen Preisen - was der lokale Markt jeweils hergibt - verkaufen. Die Hersteller mögen es überhaupt nicht, wenn diese Preisunterschiede ausgenutzt werden und Produkte aus dem billigsten EU-Land in einen Staat importiert werden, wo der Hersteller dasselbe Mittel teurer verkauft. Bedenklich ist allerdings, dass sich die WHO immer noch auf die Zahlen des CMPI beruft. (4) An anderer Stelle warnt die WHO neuerdings davor „eine Gesamtzahl für den globalen Anteil gefälschter Produkte zu verwenden“, weil das nicht nur „ungenau“ sei, sondern auch „die Wirklichkeit verzerren und die Öffentlichkeit in die Irre führen kann.“ (5)

Was ist eine Fälschung?

Da es keine befriedigende internationale Definition einer Arzneimittelfälschung gibt, muss man sich der Frage aus verschiedenen Perspektiven nähern. Für PatientInnen zählt, ob das Arzneimittel wirklich den Wirkstoff enthält, der auf der Packung steht und dieser nicht verdorben ist. Damit werden Fälschungen nicht erfasst, bei denen das Medikament nicht vom auf der Packung angegebenen Hersteller stammt, aber qualitätsmässig in Ordnung ist.

Die provisorische Definition der WHO lautet „Ein gefälschtes Medikament ist ein Arzneimittel, bei dem vorsätzlich und arglistig falsche Angaben über die Identität und/oder den Lieferanten gemacht werden. Fälschungen können Markenmedikamente und Generika betreffen, es kann sich um Produkte mit den richtigen Wirkstoffen, mit falschen Wirkstoffen, mit gar keinen Wirkstoffen, zu wenig Wirkstoffen oder gefälschter Verpackung handeln.“ (1)

Die Definition der WHO schliesst damit Arzneimittel mit unbeabsichtigten Qualitätsmängeln wie Fehlern bei der Produktion aus. Diese können für die PatientInnen aber ebenso gravierende gesundheitliche Folgen haben wie absichtliche Fälschungen. Trotzdem ist eine Abgrenzung von Fälschungen von Qualitätsmängeln wichtig, auch wenn die Grenzen mitunter fliessend sein mögen. Denn mangelnde Qualität kann am besten durch bessere Überwachung des Herstellers beseitigt werden, das ist bei beabsichtigten Fälschungen hingegen schwierig, weil die wahre Quelle bewusst verschleiert wird.

Die multinationale Pharmaindustrie nutzt die Debatte um Fälschungen nicht nur um den Absatz ihrer teuren Produkte zu sichern, sondern auch um die ungeliebte Konkurrenz durch preiswerte Generika schlecht zu machen. Auch wird der Begriff Fälschung von der Industrie nicht selten in Verbindung mit der Verletzung von geistigen Eigentumsrechten – also dem Patentschutz – gebracht. Das ist natürlich eine völlig unangemessene Konnotation, die nichts mit einer patientenorientierten Definition von Fälschungen zu tun hat.

Wo gibt es Fälschungen?

Arzneimittelfälschungen kommen wahrscheinlich häufiger in Ländern der Dritten Welt als in Industrieländern vor. Genaue Zahlen fehlen aber. Der German Pharma Health Fund, ein Wohltätigkeits-Verein der deutschen Pharmaindustrie, schreibt dazu: „Fehlende Kontrollen, die verständliche Zurückhaltung betroffener Hersteller und die Tatsache, dass Arzneimittelfälschungen letztlich ein Teilbereich der organisierten Kriminalität sind, legen die Vermutung nahe, dass das wahre Ausmass des Problems noch im Dunkeln liegt.“ (6)

Besondere Problembereiche sind aber offensichtlich: Unregulierte Märkte vor allem in armen Ländern sind ein offenes Einfallstor für gefälschte Medikamente. Die wenigen Untersuchungen, die bekannt sind, weisen vor allem auf Probleme im Strassenverkauf von Arzneimitteln hin. Wo es an ausgebildeten PharmazeutInnen mangelt, sind private Apotheken keine sichere Bezugsquelle. Im öffentlichen Gesundheitssektor wurde dagegen nur vereinzelt über Fälschungen oder Qualitätsmängel berichtet. In Ländern, wo das öffentliche Gesundheitssystem nur einen kleinen Teil der Bevölkerung versorgt oder die Arzneimittel nicht zur Verfügung stellt, bedeutet der unregulierte Markt ein erhebliches Gesundheitsrisiko für viele Menschen.

In Industrieländern sind Fälschungen bei apothekenpflichtigen Arzneimitteln offensichtlich extrem selten. Dem deutschen Bundeskriminalamt sind zwischen 1996 und Februar 2004 ganze 28 Verdachtsfälle bekannt geworden, überwiegend Packungsfälschungen. (7) Anders sieht das beim Internethandel aus, dort sind schon häufiger Fälschungen nachgewiesen worden, vor allem von teuren verschreibungspflichtigen Lifestyle-Präparaten.

Eine weitere Grauzone sind Beinahe-Arzneimittel, also Nahrungsergänzungsmittel und andere Wundermittel, denen heilende Wirkungen zuschrieben werden. Hier fallen vor allem angeblich rein pflanzliche Produkte auf, denen heimlich rezeptpflichtige Arzneimittel beigemischt wurden. Oftmals werden solche Mittel über das Internet angeboten. (8) Im Bereich des Bodybuildings werden illegal Präparate – vor allem Anabolika – gehandelt. Hier dürfte den Käufern aber überwiegend bewusst sein, dass sie sich auf riskantem Grund bewegen.

Besonders beliebt bei Fälschern sind teure Markenarzneimittel, die eine hohe Gewinnspanne versprechen. (9) Die Kosten für das Nachmachen eines Originalpräparats sind meist sehr gering, die erzielbaren Gewinnspannen dementsprechend hoch. So leicht lässt sich sonst nur im Rauschgifthandel Geld verdienen – doch Arzneimittel haben den entscheidenden „Vorteil“, dass sie als an sich legale Produkte leichter in den Handel eingeschleust werden können.

Aber auch etwas teurere Generika bleiben nicht von Fälschungen verschont, wenn sie häufig gebraucht werden. Eine Untersuchung des unentbehrlichen Malariamedikaments Artesunate in Südostasien ergab, dass 38% der Proben, die in Läden gekauft wurden, nicht vom angegebenen Hersteller Guilin Pharma (China) stammten und keinen Wirkstoff enthielten. (10) In Kambodscha kostet eine Packung Artesunate 1,50 US$, das mag uns wenig erscheinen, aber bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 300 US$ ist das eine Menge Geld. (11) Billige Generika sind hingegen kaum fälschungsgefährdet.

Einordnung in die Gesamtproblematik

Paradoxerweise können Fälschungen manchmal durchaus auch Vorteile haben. Eine ältere WHO-Datenbank über Fälschungen zeigt, dass das Schmerzmittel Novalgin® zu den bevorzugten Objekten der Fälscher zählte und die Tabletten meist keinen oder einen anderen Wirkstoff enthielten. Da das Original-Medikament den riskanten und in etlichen Industrieländern verbotenen Wirkstoff Metamizol enthält, schützten solche Fälschungen die PatientInnen sogar.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass das Thema Arzneimittelfälschungen in einem breiteren Kontext gesehen werden muss. Medikamente mit zu wenig oder falschen Inhaltsstoffen sind nur eines von vielen Problemen, die den vernünftigen Einsatz von Arzneimitteln verhindern. Unsinnige Medikamente, die multinationale Hersteller auf Märkten der Dritten Welt anbieten, stellen mit Sicherheit eine wesentlich grössere Gesundheitsgefährdung dar. Eine Studie der BUKO Pharma-Kampagne zeigt zum Beispiel, dass deutsche Hersteller in Ländern der Dritten Welt zu 39% irrationale, also schlecht wirksame oder zu gefährliche Medikamente anbieten. (12)

Aber auch das beste Medikament hilft nichts, wenn es nicht vernünftig eingesetzt wird. Beschränkte Listen unentbehrlicher Arzneimittel und eine kontinuierliche industrieunabhängige Fortbildung sind Vorrausetzungen für den rationalen Gebrauch von Arzneimitteln. Für etwa ein Drittel der Weltbevölkerung stellen hohe Preise noch immer ein meist unüberwindbares Hindernis dar, die Arzneimittel zu bekommen, die gebraucht werden.

Was tun?

An dieser Stelle nur einige wichtige Punkte ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ein zentrales Problem sind die hohen Preise für Arzneimittel und die Tatsache, dass in vielen Ländern PatientInnen Arzneimittel zum Teil selbst bezahlen müssen. Radikale Preissenkungen und die Förderung öffentlicher Gesundheitssysteme könnten grosse Teile des Fälschungs- und übrigens auch des Qualitätsproblems beseitigen. Niedrige Preise machen Fälschungen unattraktiv. Wenn die PatientInnen für die Arzneimittel nichts bezahlen müssen, werden sie auch nicht mehr versuchen, Medikamente so billig wie möglich aus unsicheren Quellen zu erwerben. Eine zentrale Beschaffung macht die Qualitätskontrolle wesentlich einfacher. Die Beschränkung auf eine gezielte Auswahl unentbehrlicher Arzneimittel erhöht die Übersichtlichkeit, macht Kontrollen, Lagerung und Verteilung einfacher und verbessert die Therapie.

Daneben sind Kontrollmassnahmen natürlich unabdingbar. Der Import, die Herstellung und der Vertrieb von Arzneimitteln muss überwacht und Verstösse effektiv geahndet werden. Wenn Fälschungen auftreten, muss die Öffentlichkeit ausserdem umgehend gewarnt werden.

Was ist mit Arzneimittelfälschungen eigentlich los? In letzter Zeit liest man immer mehr über gefälschte Arzneimittel. Warum ist das so? Welchen Gefahren sind VerbraucherInnen in Industrieländern und der Dritten Welt wirklich ausgesetzt? Und vor allem: Was kann man dagegen tun? Über all diese Fragen gibt der neue Pharma-Brief Spezial 1/2007 “Medikamentenfälschungen – Wo liegen die Probleme?“ der deutschen BUKO Pharma-Kampagne Auskunft. Der vorliegende Beitrag von Jörg Schaaber wurde diesem Dossier entnommen. Kontakt: info@bukopharma.de. Med in Switzerland wird vom Netzwerk Medicus Mundi Schweiz redigiert und in der Zeitschrift Soziale Medizin veröffentlicht.

Anmerkungen und Quellennachweise:

  1. WHO. Combating Counterfeit Drugs: A Concept Paper for Effective International Cooperation. 27 January 2006
  2. Das CMPI handelt keineswegs so im „öffentlichen Interesse“ wie es der Name „Public Interest“ nahe legt. Im Gegenteil finden sich im Beratungsgremium mehrheitlich hochrangige VertreterInnen von neoliberalen “Think tanks”, die auf Freiheit für die Wirtschaft und Deregulierung setzen, sowie ehemalige Mitarbeiter der Reagan und Bush-Administration.
  3. 21ST Century International Drug Terrorism. Testimony by CMPI Director, Peter J. Pitts, to the [US] Government Reform Committee Subcommittee on Criminal Justice, Drug Policy and Human Resources, November 1, 2005 www.pacificresearch.org/pub/sab/health/2005/21_Century_Counterfeiting_Testimony.pdf
  4. WHO. Counterfeit medicines. Fact sheet N° 275. Revised February 2006 www.who.int/mediacentre/factsheets/fs275/en/ Zugriff am 1.2.2007
  5. WHO IMPACT. Counterfeit Medicines: an update on estimates 15 November 2006 www.who.int/medicines/services/counterfeit/impact/TheNewEstimatesCounterfeit.pdf Zugriff am 16.1.2007
  6. GPHF. Arzneimittelfälschungen – Ein skrupelloses Geschäft. www.gphf.org/web/projekte/ minilab/hintergrund_arzneimittelfaelschungen.htm Zugriff 1.2.2007
  7. MSD. Mögliche Fälschungsformen. www.medikamentenqualitaet.de/gefahr/form_2200.html Zugriff 1.2.2007
  8. Nahrungsergänzungsmittel aus dem Internet. Gute Pillen – Schlechte Pillen 6/2006, S. 8-9
  9. SEARPharm Forum. A report on Database on Incidents of Counterfeit Medicines in the WHO-SEA Region. (South East Asian FIPWHO Forum of Pharmaceutical Associations) New Delhi 28 December 2004 p 2
  10. Paul Newton. Fake artesunate in southeast Asia The Lancet, Vol 357, 16 June 2001 p 1948-1950
  11. Peter Aldhous. Murder by Medicine. Nature 10 March 2005 p 132-136
  12. Karsten Velbinger et al. Daten und Fakten 2004: Deutsche Arzneimittel in der 3. Welt. BUKO Pharma-Kampagne, Bielefeld 2004