Warum der Oxfam Skandal uns nicht in Ruhe lassen darf

Es ist nicht vorbei!

Von Carine Weiss

Der Oxfam-Skandal Anfang dieses Jahres hat die Welt der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbei erschüttert. Wie vorauszusehen war, gab es die üblichen Rücktrittserklärungen und Forderungen nach Reformen. Oxfam wurde finanziell bestraft. Viele einzelne Geber haben beschlossen, ihre regelmässigen Beiträge zu kündigen, und die Organisation wurde zumindest vorläufig davon überzeugt, die öffentliche Finanzierung einzustellen (BBC 2018, Oxfam agrees to withdraw government funding bids). Darauf folgten weitere Enthüllungen über sexuellen Missbrauch und Ausbeutung bei anderen UN-Organisationen und bekannten Nichtregierungsorganisationen (NROs).

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Es ist nicht vorbei!

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Die schwierige Suche nach Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten

Die Diskussionen rund um dieses Thema waren entfacht und eine Reihe von möglichen Lösungen wurde vorgeschlagen. Die diskutierten Lösungen reichen von humanitären Pässen und einer besseren Umsetzung freiwilliger Verhaltenskodizes wie dem Sphere-Projekt und der Humanitarian Accountability Partnership (HAP) (Codes and Standards in Humanitarian Response, Humanitarian Coalition, 2012), bis hin zu Lösungen wie die Einstellung von nur verheirateten Männern oder Frauen oder von jungen alleinstehenden Frauen, wie dies bei Caritas Belgien der Fall ist (One NGO’s way to stop staff paying for sex? Hire fewer single men,” Devex, 2018).

An der MMS/aidsfocus.ch Fachtagung diskutierten wir mögliche Lösungsansätze mit dem Publikum: Lösungen zur Grundursache von geschlechtsspezifischer Gewalt und zur Prävention von dieser innerhalb der Organisationen.


Zusammenfassung der Beiträge aus dem Publikum. Photo: MMS/M. Leschhorn Strebel

 

Wo beginnen?

....beim Personalmanagement?

Sex-Skandale, wie es sie bei Oxfam gegeben hat, hängen unter anderem mit dem Versagen des Personalmanagements zusammen (Oxfam sexual abuse scandal: Are the aid sector’s HR systems failing?, Devex, 2018). Personalverantwortliche sind oft überfordert und nicht vor Ort. In den humanitären Organisationen gibt es eine grosse Fluktuation aufgrund der Arbeitssituationen und der oft sehr schwierigen Einsatzorte. Dieses Problem könnte behoben werden, wenn die eingestellten MitarbeiterInnen gerade bei befristeten Kurzzeitverträgen besser kontrolliert würden und das Fälschen von Arbeitsdokumenten eingedämmt würde, indem Referenzen besser geprüft werden.

Andere Lösungen umfassen das Training von MitarbeiterInnen, das Aufspüren von Straftatbeständen, die Einrichtung von Registern mit geprüften MitarbeiterInnen, die Einrichtung von unabhängigen Gremien zur Untersuchung von Anschuldigungen und die nachträgliche Suche nach Wiedergutmachung für begangene Straftaten. Das sind alles gutgemeinte Lösungen, sie lösen aber nicht das Grundproblem, dass ein Entwicklungshelfer jemanden sexuell ausbeutet.

...beim Machtungleichgewicht?

Medicus Mundi Schweiz ist der Auffassung, dass sexuelle Ausbeutung und Missbrauch im Bereich der internationalen Zusammenarbeit vor allem auf ein Machtungleichgewicht der Beteiligten zurückzuführen ist. Dies dürfen wir nicht länger hinnehmen und die Diskussionen rund um dieses Thema dürfen nicht gestoppt werden, bis die humanitäre und die Entwicklungszusammenarbeit diesbezüglich reformiert sind.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Oxfam-Skandal und die weiteren Enthüllungen internationaler Organisationen nur aufgrund der #MeToo-Bewegung so prominent in die Medien kam. Sexuelle Ausbeutung und Missbrauch ist in unserem Sektor eigentlich nichts Neues. Die Internationale Zusammenarbeit spiegelt die Welt wider, in der wir leben.

Die internationale Zusammenarbeit und die ihr zugrundliegenden Strukturen

Humanitäre und Entwicklungsorganisationen, vor allem diejenigen, die in fragilen Kontexten und in Kriegsgebieten arbeiten, zeigen oft eine schwache Unternehmensführung und Organisation vor Ort. Ein Zustand, der sexuelle Ausbeutung und Missbrauch begünstigt.

Die Rechenschaftspflicht in vielen UN- und internationalen humanitären Organisationen ist trotz vieler Bemühungen immer noch überwiegend auf die Geber und nicht auf die Empfänger ausgerichtet. Der Fokus liegt eher auf der rechtlichen als auf der moralischen Verantwortung und das Hauptziel ist die treuhänderische Verantwortung gegenüber den Spendern (Saving the Moral Capital of NGOs: Identifying One-Sided and Many-Sided Social Dilemmas in NGO Accountability, Voluntas 2017).

Andere Diskussionen thematisieren die angebliche Grossherzigkeit von Männern, die im Bereich der humanitären Hilfe in weit entfernten Orten der Welt arbeiten. Sie werden deshalb oft auf ein Podest gestellt und bewundert. Dies ist mit ein Grund, warum Kritik im humanitären Sektor bisher geringer ausfiel, verglichen mit anderen Branchen wie z.B. dem Militär (UN received 54 sexual abuse allegations since beginning of 2018. DW News, 2018).

Andere wiederum argumentieren, dass die Grundursache vom Machtungleichgewicht bezüglich des Einkommens herrührt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind oft herausfordernd und diejenigen, die solche Aufgaben übernehmen, erhalten gesellschaftliche Anerkennung. In Wirklichkeit sind sie genauso Menschen, die nur einen Job ausüben, für den sie allerdings sehr gut bezahlt werden. Dies ist besonders eklatant im Vergleich zum Schicksal von lokalen Angestellten, die oft viel weniger verdienen.

Es wird auch viel zu wenig Augenmerk darauf gelegt, inwieweit sich das Machtungleichgewicht in Camps zwischen den CampbewohnerInnen und den humanitären Helfern in Formen von Rassismus und Sexismus äussert und zur Ausbeutung führt. Die einen können das Camp wieder verlassen, die anderen sind darauf angewiesen und von der Hilfe abhängig. Dieses Machtungleichgewicht begünstig Sexismus und sexuelle Übergriffe: Deshalb gibt es immer wieder MitarbeiterInnen humanitären- und Entwicklungsorganisationen, die nichts Verwerfliches darin sehen, transaktionalen Sex mit einem einwilligenden PartnerIn aus der lokalen Bevölkerung zu vollziehen. Was der "Entwicklungshelfer" jedoch ausblendet, ist die Tatsache, dass er von der (meist) untergeordneten Position des Anderen profitiert. Ein Beispiel aus dem Flüchtlingscamp in Calais zeigte es auf: Diese sexuellen Begegnungen seien schädlich für die Flüchtlinge, die "in einer völlig ungleichen Machtposition" und "völlig abhängig von der Hilfe der Freiwilligen" seien (Independent (2018). Calais Jungle volunteers accused of 'sexually exploiting' camp's refugees).

 

IDP Camp at M'poko Airport, Bangui. Children in the camp for internally displaced persons (IDPs) located at M'poko Airport in Bangui, capital of the Central African Republic. Photo: United Nations Photo/flickr, Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic; CC BY-NC-ND 2.0


Wir dürfen jedoch auch nicht vergessen, dass Hilfseinsätze gerade in Krisen- und Kriegsgebieten mit einer gewissen Einsamkeit einhergehen. Soziale Kontakte sind auf die kleine Community vor Ort beschränkt und die Familie als Unterstützung und Halt ist nicht vorhanden. Die Sehnsucht nach Zweisamkeit, Liebe und eine Schulter zum Anlehnen ist sicherlich ein Wunsch, der in solchen Gebieten oft nicht in Erfüllung geht. Und ich denke, wir unterschätzen die psychische Belastung solcher Einsätze mehr, als uns bewusst ist. Sex dient dabei oft als Ventil für diesen Mangel und die psychische Belastung.

Die Globalisierung, internationale Politik und Wirtschaft reproduzieren in gewissem Masse postkoloniale Machtstrukturen, die die Machtverhältnisse zwischen ärmeren und reicheren Geberländern vergrössern und internationale und nationale Organisationen beeinflussen.

An der Fachtagung gingen wir noch einen Schritt weiter und diskutierten wie geschlechtsspezifische Gewalt in der Bevölkerung minimiert und ihr vorgebeugt werden kann.  

 

Zusammenfassung der Beiträge aus dem Publikum. Photo: MMS/M. Leschhorn Strebel

 

Dabei rückten drei übergeordnete Themen besonders ins Licht:

  1. Wir müssen kulturelle Veränderungen unterstützen
  2. Es braucht politisches und institutionelles Engagement
  3. Es braucht ein gerechtes Justizsystem

Die MMS/aidsfocus.ch Konferenz fordert: Wir müssen auf verschiedenen Ebenen entschlossen handeln!

Es würde den Rahmen hier sprengen ins Detail zu gehen, wie geschlechtsspezifischer Gewalt vorgebeugt werden kann und welche Massnahmen es braucht. Am Ende des Tages waren sich alle einig, dass es keine einfache Lösungen gibt. Es braucht Ansätze auf allen Ebenen: auf der individuellen Ebene, auf der Gemeindeebene und auf der nationalen und internationalen Ebene. Notwendig sind Massnahmen, die Männer und Frauen ansprechen, so wie auch einflussreiche Personen, die soziale Normen und Strukturen in Frage stellen können.

Es ist klar, Gesetze für eine Änderung der Einstellungen und Verhaltensweisen zu erlassen, ist nicht möglich. Veränderung kommt von innen. Der Entwicklungssektor wird auch niemals in der Lage sein, die Missetäter vollständig loszuwerden. Jedoch sollte ein - längst überfälliger - Prozess der kritischen Selbstreflexion zu einer Neuorientierung führen. Ein Paradigmenwechsel für die Entwicklungsorganisationen steht an.

An der MMS/aidsfocus.ch Fachtagung des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz (MMS) in Bern waren sich die Fachleute einig: Geschlechtsspezifische Gewalt (Gender-based Violence, GBV) muss auf allen Ebenen bekämpft werden. Die #MeToo-Bewegung hat ihre Verbreitung in allen Gesellschaftsschichten an den Tag gebracht. Doch in vielen Ländern bleibt die Gewalt im Verborgenen. Sie wird von staatlicher Seite zu wenig bekämpft und die juristischen Strukturen zum Schutz der Opfer sind zu schwach. Die #MeToo-Bewegung muss genutzt werden, um Gewalt und Unterdrückung zu beenden. Mit Sexismus und Frauenfeindlichkeit im Scheinwerferlicht besteht die Möglichkeit, bestehende Machtstrukturen neu und positiv zu gestalten.

Ein Thema, das nicht aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten darf!

Referenzen

 

Carine Weiss
Carine Weiss ist Projekt Leiterin bei Medicus Mundi Schweiz.