Wie Gewaltprävention von Kindern und Jugendlichen geführt wird

Kinder und Jugendliche mischen sich ein

Von Kurt Madörin

Child Protection – ein grosses Schlagwort. Artikel 19 der UN-Konvention zu den Rechten der Kinder schreibt vor, Kinder und Jugendliche vor „Gewalt, Ausbeutung, Misshandlung und Vernachlässigung“ zu schützen. Regierungen und grosse Organisationen wie UNICEF haben Systeme zur „child protection“ entwickelt. Kwa Wazee-TatuTano ist eine kleine Organisation im Nordwesten von Tanzania, bei der die Kinder und Jugendlichen einen Teil der „child-protection“ selbst in die Hände genommen haben. Ihre Instrumente heissen Selbst-Verteidigung für Mädchen und "Peace is a Decision" für Buben. PAMOJA ist der Versuch, auch Erwachsene in diese Arbeit einzubezuiehen.

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Kinder und Jugendliche mischen sich ein

Mädchen lernen den Ellbogen zu ihrer Verteidigung einzusetzen. Foto: © Kurt Madörin

 

Am Anfang unseres Projektes stand die Idee der Selbstverteidigung für Mädchen, da immer wieder straflose Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gegen Mädchen vorkamen. Diese Mädchen lebten oft aufgrund dessen, dass ein Elternteil an Aids erkrankte, bei der Grossmutter oder in einem frauengeführten Haushalt, meist mit einer HIV-positiven Mutter. Der Vater war in der Regel verstorben. Der Grundkurs zur Selbstverteidigung wurde von Natalie Uhlmann (Pallas) aus der Schweiz durchgeführt. Über 3‘000 Mädchen haben am zwölftägigen Kurs teilgenommen – viele treffen sich noch immer jeden Samstag in über 30 Gruppen.

„Neben den technischen Kenntnissen der Selbstverteidigung“, so Raina L., „hat mir die Selbstverteidigung das Selbstvertrauen gegeben, das zu tun, was ich will und für richtig finde.“


Peace is a Decision - Gewältprävention beginnt bei jungen Männern

Verringerung der Gewalt als eine gesellschaftliche Veränderung ist nicht nur Angelegenheit der Mädchen, obwohl ihr Schutz Priorität hat. Buben und junge Männer müssen genauso einbezogen werden. Deshalb entschieden wir uns, einen Kurs für Knaben und junge Männer zu entwickeln: „Peace is a Decision“ (PiaD). Der Kurs thematisiert Fragen der Pubertät, der Gewalt zwischen den Geschlechtern, diskutiert Zukunftsperspektiven und soll die jungen Männer auf ihr zukünftiges „Mannsein“ vorbereiten. Dies ist wichtig in einer Gesellschaft, die in einem grossen Umbruch steht: Schule, Emigration in die Städte, immer kleinere Landstücke, die vereerbt werden und kaum noch eine Familie ernähren können sowie eine grosse Jugendarbeitslosigkeit, die sich aller Voraussicht nach bis weit in das Erwachsenenleben erstrecken wird. Hinzu kommen die gestiegenen Ansprüche von jungen Frauen. Das Leben ist kompliziert geworden.

Wir von TatuTano waren (angenehm) überrascht, zu sehen, auf welch grosse Resonanz dieser Kurs stiess: Über 1‘500 Knaben und junge Männer sind heute Mitglieder von PiaD.

Arnold P. sagt: „Vor dem Training war ich eine unmögliche Person – ich hörte nicht auf Ratschläge, die ich bekam. Ich tat das, was ich für gut fand für mein Leben – und nur zu oft geriet ich in Schwierigkeiten. Aber nach dem Training und den Treffen mit Gleichgesinnten dachte ich über mich nach und was ich werden könnte. Nun kann ich meinen Freunden zuhören und ihre Ratschläge ernstnehmen.“

 

Männliche Aggressoren machen Selbstverteidigung und PiaD realistisch. Foto: © Lydiah Lugazia

 

Mädchen und junge Frauen, Buben und junge Männer sind dabei, Veränderungen in Richtung einer gewaltfreieren Gesellschaft zu erproben. Wie stellt sich die Gesellschaft dazu? Wie die Eltern und älteren Geschwister? Die Schulen? Orte, wo den Jugendlichen ein “richtiges” Verhalten antrainiert wird – ein Verhalten, das Gewalt automatisch mit impliziert.

Zwei Fragen stellten sich uns:

1. Gibt es Möglichkeiten, den Wirkungsbereich von Jugendlichen zu erweitern?

2. Wie können wir Jugendliche „empowern“ in einer Gesellschaft, in der das Ältersein an sich einen sozialen Wert darstellt.

TatuTano nimmt für sich in Anspruch, eine kindergeführte Organisation zu sein (“child-led organization”), in der Selbstorganisation und Beteiligung auf Grund ähnlicher Interessen und Erfahrungen gross geschrieben wird. Auf die Prävention angewendet heisst das, dass die Kinder und Jugendlichen eine bedeutende Rolle spielen, also nicht nur Beschützte sein sollten, sondern auch Mit-BeschützerInnen.

PAMOJA – von der Idee zur Projektentwicklung

2015 organisierten wir im Rahmen von TatuTano 14 Treffen und erreichten über 100 Jugendliche. Die Treffen fanden getrennt nach Selbstverteidigung, und „Peace is a Decision“ (PiaD) in Primar- und Sekundarschulen statt. Wir diskutierten die Frage: “Wie und wo können wir Verbündete finden, die unsere Sicherheit erhöhen?” Daraus entwickelte sich PAMOJA.

Joveth, eine Verantwortliche für die Selbstverteidigung, zählt auf, welche Rolle die Jugendlichen in der Entwicklung von PAMOJA gespielt hatten: „Zuerst hatten wir ein Meeting, in dem wir uns überlegten, welche drei Dorfgemeinschaften ein Interesse an unserem Projekt haben könnten und einen sensitiven Gemeindepräsidenten oder eine sensitive Gemeindepräsidentin aufweisen. Wir wollten ja nicht auf Granit beissen... Dann befragten wir zusammen mit TatuTano Jugendliche in ausgewählten Dörfern, um über das Ausmass der existierenden Gewalt mehr Aufschluss zu erhalten. Um unser Anliegen verständlich zu machen, zeigten wir unterstützend Zeichnungen von misshandelten Frauen, zu psychischer Gewalt von jungen Männern gegen männliche Jugendliche, von Misshandlungen in der Schule und natürlich von Vergewaltigungsszenen.

Neues und Ungewohntes für junge Männer. Foto: © Glynis Clatcherty

 

In einem nächsten Schritt haben wir eine kleine Delegation aus der Gruppe der Selbstverteidigung und PiaD gebildet und haben die Resultate unserer kleinen Forschung dem Gemeindepräsidenten oder -präsidentin vorgetragen. Wir wollten wissen, ob unsere Beobachtungen mit deren Erfahrungen übereinstimmen und stellten gleichzeitig unsere Aktivitäten und unser Projekt PAMOJA vor, für welches wir eine offizielle Zustimmung einholen wollten, die uns auch überall erteilt worden ist.

Heute ist PAMOJA in 27 Dörfern präsent (bald werden es 42 sein) und umfasst über 1‘400 Mitglieder, unter ihnen auch einige DorfvorsteherInnen. Jedes Mitglied unterzeichnet eine Karte mit folgendem Versprechen:

1. Keine sexuelle oder andere Gewalt auszuüben und diese zu bekämpfen
2. Kindern und Jugendlichen beizustehen, denen Gewalt wiederfahren ist.

Als Zeichen tragen die Mitglieder einen Button, der eine Sicherheitsmauer gegen die Gewalt darstellt. Er wurde von einem Zürcher Grafiker entworfen und ist mit den Kindern diskutiert worden.



PAMOJA ist Kiswahili und heisst "Zusammen"
. Unser Leitsatz: Wir werden eine sichere Mauer für unsere Kinder und Jugendlichen aufbauen!
Wir haben PAMOJA zusammen mit TatuTano aufgebaut, um die Erwachsenen als Verbündete im Kampf gegen Gewalt, vor allem gegen sexuelle Gewalt, zu gewinnen.

Da wir unmöglich alle Gemeinden besuchen können, bildeten wir 20 ältere TatuTano-Mitglieder aus (10 weibliche und 10 männliche Jugendliche), die jeweils für 3-4 Gemeinden zuständig sind. Folgende Themen werden behandelt: Wie ein Kind entsteht, wie man verhütet und den Partner nicht mit sexuell übertragbaren Krankheiten ansteckt. Was ist eine kinderfreundliche Umgebung? Was versteht man unter Gewalt und was unter (alternativer) Disziplin? Elf Bilder helfen, das Gewaltpotential in der Gemeinde näher zu beschreiben. Ein Newsletter vernetzt die Gemeinden und liefert wichtige Informationen.

Einen ersten, eher überraschenden Erfolg erlebten wir in der ersten Sitzung. Um die Eltern zu informieren, zeigten wir ihnen die rund 20 Bilder zu „Wie ein Kind entsteht“, also zu Fragen der Sexualität und Prävention. Die Bilder bilden eine dreiteilige Serie: Wachstum und Geburt, wie ein Kind entsteht (Ei und Samen) und wie der Samen zum Ei kommt (einschliesslich Prävention). Die Versammelten von PAMOJA forderten, dass TatuTano diese Bilder auch ihren Kindern zeigen solle: „Wir können nicht über diese Sachen reden“, sagte eine Mutter und eine Grossmutter meinte: „Die Jungen sagen, dass ich viel zu altmodisch sei, um da mitreden zu können“. Viele Jugendliche haben diese Serie bei den Aktivitäten von TatuTano inzwischen gesehen. Bis zu ca. 2‘400 Kinder und Jugendliche sind bis heute zu den Aktivitäten gekommen, davon rund 900 im Alter zwischen 7 und 10 Jahren. Sie haben eine Menge gescheiter Fragen gestellt, aus denen wir ein kleines Heft zusammengestellt haben. In der Fortsetzungssitzung wollten wir herausfinden, ob sich der Kontakt zu den Eltern oder anderen ErzieherInnen durch die Aktivitäten verbessert hat. Wir erhielten ermutigende Resultate und hoffen, dass sich die Beziehung zu den Erwachsenen dauerhaft verändert. Prävention im ländlichen Alltag!

Sich befreien! Foto: © Wiston John

 

Die Mitglieder von PAMOJA sind, zusammen mit der Gruppe der Selbstverteidigung und PiaD, Anlaufstelle und Unterstützung für Kinder und Jugendliche, die sexuell ausgebeutet wurden. Sie mischen sich aber auch ein, wenn Gewalt angewendet wurde oder wenn Kinder nicht in die Schule gehen können. Gewalt in der Schule ist ein grosses Thema, Körperstrafen sind an der Tagesordnung. Wir haben jedoch ermutigende Anzeichen dafür, dass sich Lehrer und Lehrerinnen für Selbstverteidigung und PiaD an der Schule interessieren. Einige von ihnen sind auch schon Mitglieder von PAMOJA geworden sind.

Wir planen zum Ende des Jahres, einige Lehrer und Lehrerinnen einzuladen, um mit ihnen die Gewalt an Schulen zu besprechen - hoffentlich ein weiterer wichtiger Schritt, um von der individuellen Prävention durch Selbstverteidigung und PiaD zu einer kollektiven Prävention zu gelangen, die den langsamen gesellschaftlichen Wandel, vor allem im Hinblick auf die Geschlechteridentität unterstützt und sogar vorantreibt.

 

Und zum Schluss noch eine Stimme aus Mwanza, also weit weg von Nshamba. Janneke von INTERTEAM schrieb: „I’m also very grateful for this wonderful initiative; I wish girls all over the world could have the opportunity to participate in Self-Defence and all the boys in PiaD. The world would look very different!…“.

 

Kurt Madörin
Dr. Kurt Madörin ist internationaler Experte für psychosoziale Ansätze in HIV/Aids-Projekten, war langjähriger Programmverantwortlicher bei terre des hommes schweiz und Initiator des Rentenprojekts Kwa Wazee in Nshamba, Tanzania. Er lebt heute in Nshamba, wo Gender-based Violence ein virulentes Thema darstellt.