Neue Ansätze gefordert

Ältere bei Gesundheitsversorgung vernachlässigt

Von Michael Bünte

1950 waren weltweit rund 200 Millionen Menschen älter als 60 Jahre. 2050 werden es etwa zwei Milliarden sein. Erstmals wird es dann mehr Alte als Kinder unter 15 Jahren geben und 80% von ihnen werden in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Ältere Menschen haben spezifische Gesundheitsprobleme, doch die Gesundheitssysteme in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern sind nicht auf ihre Behandlung vorbe-reitet. Vielfach werden sie sogar offen diskriminiert.

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Ältere bei Gesundheitsversorgung vernachlässigt

Lydiah Lugazia, die Leiterin von Kwa Wazee begleitet eine Gruppe von alten Menschen ins Spital von Ndolage für Staroperaptionen. (Foto: Edmund Revelian / Kwa Wazee)


Falscher Fokus der internationalen Geldgeber

Nicht übertragbare Erkrankungen (NCDs) sind leise Killer. Ban Ki-Moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen, bezeichnet sie als eine Katastrophe des Gesundheitswesens in Zeitlupe. Schlaganfall, Herzinfarkt, Krebs, Diabetes oder Demenz sind weltweit die Ursache für fast zwei Drittel der Todesfälle. 75% davon – jährlich 28 Millionen Tote – sind in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu beklagen (WHO, Januar 2015). 71% der Opfer sind älter als 60 Jahre (Report of the UN-Secretary, 2011). 

Die Gesundheitspolitik der Entwicklungsländer muss sich dringend auf den Alterungsprozess der Bevölkerungen einstellen. Infektionskrankheiten wie Aids und Malaria oder Maßnahmen der Familienplanung beanspruchen dort bisher den grössten Teil der Ausgaben im Gesundheitswesen. Dies wird auch durch die internationalen Entwicklungsagenturen und grossen privaten Geldgeber forciert. Zwischen 2001-2008 wurden weniger als 3% der internationalen Hilfsgelder im Gesundheitsbereich für NCDs ausgegeben (Rachel Nugent et al., Centre for Global Development Working Paper 228, Washington DC 2010).

Fehlende Mittel für die Behandlung chronischer Erkrankungen sowie mangelnde Ausbildung und Sensibilität des Gesundheitspersonals sind Gründe für die schlechte Versorgung alter Menschen. In Gesundheitseinrichtungen werden sie regelmäßig aufgrund ihres Alters benachteiligt. Die gerontologische und geriatrische Ausbildung ist in den meisten Ländern kaum entwickelt.

Chronische Erkrankungen: 1500% wirtschaftlicher Ertrag durch einfache medizinische Interventionen

Dass ältere Menschen besonders von nicht übertragbaren Krankheiten betroffen sind, erklärt sich eigentlich von selbst. Besonders deutlich wird dies bei Blindheit und Sehschwächen. Über 80% der blinden Menschen weltweit sind älter als 50 Jahre (WHO, Factsheet Visual impairment and blindness 2014). Die WHO geht davon aus, dass der Großteil der Erkrankungen mit  Sehschwäche leicht behandelbar wäre, wenn ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt würden. Alleine die Versorgung mit Brillen würde viele Probleme lösen. Auch wirtschaftlich würden sich Investitionen in die Behandlung sehr schnell rechnen. Einfache Operationen am Grauen Star können schon im ersten Jahr bis zu 1500% Ertrag durch eine erhöhte Arbeitsfähigkeit der Betroffenen erbringen (WHO, Blindness and visual impairment).

Foto: HelpAge International

 

422 Millionen Menschen litten laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO 2014 unter Diabetes; 1,5 Millionen Menschen starben 2012 an den direkten Folgen einer Diabetes, genauso viele wie an HIV/Aids. Dabei spielt die sogenannte Altersdiabetes eine besondere Rolle. Zwei Drittel der 117 Millionen Menschen mit diesem Diabetes-Typ leben in Entwicklungsländern (WHO, Facts related to chronic disease).

58 % der Menschen mit Demenz leben ebenfalls in diesen Ländern, eine Zahl, die bis 2050 auf 68% steigen wird (Alzheimer’s Disease International, World Alzheimer Report 2015). Ihre Probleme werden bisher komplett von der Politik vernachlässigt, was familiäre und institutionelle Pflegesysteme vor immense Herausforderungen stellt. So werden 94% der Menschen mit Demenz in Entwicklungs- und Schwellenländern zu Hause gepflegt (Alzheimer’s Disease International, World Alzheimer Report 2015). Demenz ist eine der wichtigsten Ursachen für Behinderung unter alten Menschen (WHO, Dementia Factsheet, April 2016).

Mehr als 46% der über 60-Jährigen weltweit leiden zudem unter einer Behinderung (Global Burden of Disease, Helpage zitiert nach WHO); sie stellen damit mehr als ein Drittel der Menschen mit Behinderung.

Besonders Frauen sind von altersbedingten Leiden stark betroffen. Da sie durchschnittlich länger leben als Männer, sind sie auch öfter krank. Jedes Jahr erblinden 2,5 Millionen alte Frauen, denen mit entsprechender Vorsorge und Behandlung geholfen werden könnte. Zugleich erleben sie im Alter die Folgen vieler Geburten und harter Arbeit. Nur langsam wird sich die internationale Gemeinschaft der Benachteiligung alter Frauen bewusst. So beschloss der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau 2010 eine Empfehlung zum Schutz der Menschenrechte älterer Frauen.

Auch in der HIV/Aids-Krise müssen Ältere berücksichtigt werden. Fast drei Millionen Menschen über 50 Jahre sollen weltweit infiziert sein (UNAIDS Report 2006). Sie werden allerdings durch Aufklärungskampagnen und Hilfsprojekte kaum erreicht.

Katastrophenmedizin vernachlässigt alte Menschen überproportional

Klimawandel, Naturkatastrophen und Vertreibungen bedrohen alte Menschen wegen gesundheitlicher Einschränkungen und Isolation in besonderer Weise. Laut Internationalem Rotem Kreuz sind jährlich 26 Millionen alte Menschen von Naturkatastrophen betroffen. In einem Bericht stellen das Internal Displacement Monitoring Centre und HelpAge fest, dass 30 bis 65% der internen Vertriebenen über 60 sind, was deutlich mehr als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht (The neglected generation – the impact of displacement on older people, 2012).

In der internationalen Not- und Katastrophenhilfe werden jedoch weniger als 1% der Mittel zugunsten alter Menschen eingesetzt. Daraus folgt, dass auch die Katastrophenmedizin sich auf die speziellen Probleme dieser Alterskohorten einstellen muss, was aber bislang kaum der Fall ist. Dies bedeutet, dass auch in akuten Krisen durch Naturkatastrophen oder kriegerische Auseinandersetzungen die Bedürfnisse älterer Menschen z.B. zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder die Ausstattung mit Hilfsmitteln wie Rollstühlen und Brillen frühzeitig eingeplant werden müssen. Auch der Umgang mit vielfältigen Traumata alter Menschen muss neben der Traumaarbeit mit Kindern eine grössere Bedeutung bekommen. Durch ein Erdbeben oder eine Flutkatastrophe verlieren die Älteren oft alles, wofür sie ein Leben lang gearbeitet haben, ohne Hoffnung auf eine Wiederherstellung in der ihnen noch verbleibenden Lebenszeit. Zugleich übernehmen alte Menschen aber beispielsweise in Flüchtlingslagern große Verantwortung für Kinder, deren Eltern gestorben sind oder sich nicht um sie kümmern können. Entsprechend muss dafür gesorgt werden, dass alte Menschen so leistungsfähig wie möglich bleiben.

Neue Ansätze in der Gesundheitspolitik müssen sich auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern darauf konzentrieren, ein aktives Altern zu ermöglichen. Hierzu gehört eine Lebenslauf-Perspektive, denn Investitionen in die Gesundheit und in eine gesunde Lebensweise in frühen Lebensphasen bedeuten geringere Kosten im Alter.

Doch bevor eine solche Politik umgesetzt wird und Früchte tragen kann, werden weiterhin Millionen ältere Menschen an nicht übertragbaren Erkrankungen leiden. Für sie eine angemessene Gesundheitsversorgung sicherzustellen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre auch in der Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb muss ein Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung für alle geschaffen werden. HelpAge setzt sich aus diesem Grund international für den sogenannten Social Protection Floor ein. Dabei geht es nach UN-Vorstellungen unter anderem um eine gebührenfreie Gesundheitsversorgung. Anders kann das Recht auf Gesundheit armer Menschen nicht gesichert werden. 

Referenzen

Michael Bünte
Michael Bünte arbeitet seit mehr als 30 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit. Er hat die Hilfsorganisation HelpAge Deutschland gegründet und ist seit 9 Jahren deren Geschäftsführer.