Sisyphus in der Zementfabrik

Rumänien: Gewerkschaftliche Interventionsstrategien zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz

Von Christof Thierstein und Margrit Hugentobler

Arbeit macht krank. In den Werkhallen und Fabriken der ehemaligen Staatsbetriebe in Rumänien trifft dieser Satz leider für viele Arbeiterinnen und Arbeiter zu. Einerseits fehlen technische Schutzvorrichtungen, andererseits ist auch bei den Betroffenen kein Bewusstsein für die Notwendigkeit von individuellen Schutzmassnahmen vorhanden. Gewerkschaften könnten zur Entstehung einer Sicherheitskultur viel beitragen. Ein Pilotprojekt geht der Frage nach, wie die noch jungen Gewerkschaften zur Übernahme einer aktiveren Rolle bei Arbeitssicherheits- und Gesundheitsschutzfragen auf Betriebsebene vorbereitet werden können.

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Seit 1992 unterstützt und berät das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) drei rumänische Gewerkschaftskonföderationen beim Aufbau von demokratischen Strukturen. Im Rahmen dieser Arbeit gewannen wir Einblick in viele rumänische Fabriken. Neben der veralteten Infrastruktur fiel uns vor allem das Fehlen von aktiven und passiven Schutzmassnahmen für die Arbeiterinnen und Arbeiter auf. Filter und Absaugevorrichtungen fehlen oder sind ausser Betrieb; Warnsignale sind nirgends zu sehen; Helme, Gehörschutz oder Masken trägt niemand. In Gesprächen mit unseren Partnern wurde deutlich, dass zwar gesetzliche Bestimmungen vorhanden sind, sich aber niemand um deren Durchsetzung auf Betriebsebene kümmert. Zudem verhindert ein Prämiensystem, das ungesunde und gefährliche Arbeit belohnt, dass sich die Arbeitnehmer/innen für die Gesundheit an ihrem Arbeitsplatz einsetzen. Wegen der sehr tiefen Löhne sind die Leute auf diese Prämien angewiesen. Zur Verbesserung dieser Zustände wären die Gewerkschaften gefordert. Allerdings fehlen auf betrieblicher und lokaler Ebene hierfür die Spezialisten. Diesem Mangel wollen wir mit unserem Projekt abhelfen.

Wie vorgehen? - Verschiedene Versuche

1994 führten wir einen ersten Einführungskurs für alle interessierten Gewerkschafter der Konföderationen durch. In diesem Kurs zeigte sich, dass dieses Thema auf Betriebsebene noch kein gewerkschaftlicher Tätigkeitsschwerpunkt war. Es gab keine Interventionsstrategien, und das Basiswissen zum Thema fehlte weitgehend. Nur bei der grössten Konföderation (CNSLR-Fratia) gab es seit ganz kurzer Zeit eine Stabsstelle in diesem Bereich. Konkrete Aktivitäten existierten noch nicht. Die Erkenntnis aus dem Einführungskurs war, dass es wichtig wäre, auf Betriebsebene konkrete Programme zu entwickeln, dass aber die Einzelpersonen, die den Kurs besucht hatten, überfordert waren, in ihrem Betrieb Projekte zu starten. Deshalb wurde in der nächsten Phase versucht, mit Dreierteams aus Betrieben zu arbeiten.

Im folgenden Jahr organisierten wir einen Ausbildungsgang für neu zu bildende gewerkschaftliche Arbeitssicherheitsteams aus acht Betrieben. Ziel dieses zweiteiligen Ausbildungsganges war es, Multiplikatoren inhaltlich und methodisch auszubilden, damit sie in ihrem Betrieb Kurzseminare für die Belegschaft durchführen konnten. Der erste Kursteil vermittelte wiederum Grundkenntnisse. Im zweiten Teil wurde ein konkretes ''Drehbuch" für Kurzseminare im Betrieb vorgestellt und dessen Anwendung eingeübt. Im Schlussbericht der Kursleitung wurde folgende Bilanz gezogen:

"Skeptisch sind wir bezüglich der Umsetzung des Gelernten im eigenen Betrieb. Es fehlt nach wie vor das Selbstvertrauen, etwas bewegen zu können und Perspektiven zu entwickeln. Die Haltung der Teilnehmenden ist immer noch stark von einer individualistischen und fatalistischen Sicht geprägt: Einerseits wird die Schuld bei Unfällen beim Einzelnen geortet, andererseits glauben die Teilnehmenden, dass nur ganz massive Investitionen und Gesetzesänderungen die Situation verändern können. Eine Strategie der kleinen Schritte gibt es in ihren Augen nicht."

Aufgrund dieser Erfahrungen beschlossen wir, ein Pilotprojekt auf Betriebsebene zu starten. In einer Abklärungsphase eruierten wir einen Betrieb, der folgende Anforderungen erfüllen sollte:

  • gute Beziehungen zwischen Management und Gewerkschaft;
  • beidseitiger Wille, etwas im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz zu verbessern
  • Bereitschaft, auch Vertretern anderer Konföderationen Einblick in den Betrieb zu gewähren.

Ziel dieses Pilotprojektes war es, den rumänischen Gewerkschaftskonföderationen generalisierbare Erkenntnisse zu liefern, welche Vorgehensweisen auf Betriebsebene geeignet sind, eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitssituation bezüglich Sicherheit und Schutz der Gesundheit zu erreichen.

Pilotprojekt in einer Zementfabrik

In einer Zementfabrik, ca. 100 km von Bukarest entfernt, fanden wir den geeigneten Betrieb. Die Betriebsgewerkschaft gehört einer der wichtigsten Gewerkschaftskonföderationen an. Die Fabrik beschäftigt ca. 3000 Personen. Die Technologie stammt aus den 70er Jahren. Zum Zeitpunkt des Projektbeginns war die Fabrik noch ein mehrheitlich staatseigener Betrieb mit einer Minderheitsbeteiligung der darin Beschäftigten. Ende 1996 wurde der Betrieb von einem privaten rumänischen Investor übernommen, was bis anhin jedoch zu keinen markanten Änderungen geführt hat.

Nach einer ersten Betriebsbesichtigung identifizierten wir folgende Risikobereiche:

  • In einigen Arbeitsbereichen liegt der Lärm weit über der zulässigen Dezibelgrenze, und bei der Abpackung der Zementsäcke fällt sehr viel Staub an. Dennoch trägt niemand die notwendigen persönlichen Schutzmittel (Gehörschutz, Staubmasken, Handschuhe)
  • Auf dem Fabrikgelände bestehen einzelne Fall- und Sturzgefahrenquellen (Gruben, Wasser, fehlende Treppengeländer)
  • Die bestehenden Elektrofilter sind relativ alt und wenig wirksam
  • Warnaufschriften und Gefahrentafeln fehlen

Im Gespräch mit den verantwortlichen Ingenieuren für Arbeitssicherheit/Gesundheitsschutz und Umweltfragen zeigte sich, dass die vorherrschenden Probleme in engem Zusammenhang mit einer fehlenden Sicherheitskultur im Betrieb stehen. Wir beschlossen deshalb, das Problem auf der Führungsebene anzugehen und in einem ersten Schritt einen Kurs für die Werkstattchefs aller Abteilungen und die Ressortleiter für den Bereich Arbeitssicherheit und Umweltschutz durchzuführen.

Ziel des Kurses war es, die Teilnehmer zu befähigen, eine Risikoanalyse durchzuführen, daraus Schlüsse zu ziehen, Prioritäten zu setzen und konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Situation zu planen.

Das Programm verlief jedoch nicht planmässig. Unsere Planung ging von der (falschen) Prämisse aus, dass die Abteilungsleiter wirklich etwas verändern wollten und das Problem für sie in Vorgehensfragen bestehe. Schnell wurde klar, dass sich nur einzelne für konkrete Handlungen in diesem Bereich verantwortlich fühlten. Alle waren sich einig, dass Sicherheits- und Gesundheitsrisiken, wie Lärm- und Staubbelastung, Kälte und Feuchtigkeit sowie Mängel im Unterhalt bestehen. Sie sahen aber wenig eigenen Handlungsspielraum und praktisch keine Notwendigkeit, selbst etwas gegen diese Risiken zu unternehmen. Wiederkehrende Begründungen waren: Wenn die "Mentalität" sich nicht ändert, kann ich nichts machen; jede/r ist selber schuld, wenn er/sie sich nicht gegen die Risiken schützt oder unaufmerksam ist.

Für uns bedeutete dies, zuerst an der Motivation der Vorgesetzten zu arbeiten, um erst in einem zweiten Schritt die gesetzten Kursziele zu verfolgen. Es ging vorerst um Führungsfragen, Rollen und Verantwortlichkeiten. Inhaltlich zeigte sich, dass die Teilnehmenden überfordert waren, selbst einen Massnahmenplan zu formulieren. Anhand konkreter Vorschlägen unsererseits einigten sie sich auf folgende Interventionsbereiche:

  • Warn-, Verbots- und Gebotsschildern anbringen, wo nötig
  • die Beachtung individueller Schutzmassnahmen durchsetzen
  • Vorbildfunktion wahrnehmen
  • die regelmässig durchgeführten Sicherheitsinstruktionen verbessern
  • die konkreten Veränderungen durch eine Art Jury beurteilen, um so den internen Wettbewerb zwischen den Abteilungen zu fördern

Fünf Monate später werteten wir die Ergebnisse mit den Teilnehmenden aus. Wenige der beschlossenen Massnahmen waren umgesetzt worden. Verbesserungen waren dort erfolgt, wo dies mit geringem Aufwand möglich war (Beleuchtung, defekte Fenster, Beschriftung der Notausgänge, Reparatur von Löchern im Boden). Auf der Verhaltensebene hatte sich kaum etwas geändert.

Eine ernüchternde Bilanz

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass erfolgversprechende Interventionen im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz aus folgenden Gründen sehr schwierig zu realisieren sind:

Umfeld: Die mangelnde Durchsetzung der relativ strengen Gesetze und das System der individuellen Risikoprämien (je gefährlicher die Arbeit, desto höher der Lohn) wirken kontraproduktiv. Da die Unfall- und Krankheitskosten vom Staat getragen werden, hat der Betrieb wenig finanzielle Anreize, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Organisation/Betriebskultur: Ein zentrales Problem ist die Führungskultur. Viele Vorgesetzte zögern, Anordnungen durchzusetzen. Die Verantwortung wird gegenseitig abgeschoben, Führen im Sinne von motivieren und anleiten ist nicht bekannt. Im Führungsverständnis gibt es nur Strafen und keine positiven Anreize als Führungsmittel. Einstellungen und Verhaltensweisen sind noch stark von frühen Erfahrungen geprägt, wie z.B.: individuelle Initiative und Kreativität ist nicht erwünscht und kann nichts bewirken; Probleme werden verneint oder beschönigt.

Rolle der Gewerkschaft: In den staatseigenen Betrieben ist die Rolle der Gewerkschaft nicht klar definiert. Da mit Ausnahme des Direktors meist alle Beschäftigten (auf dem Papier zumindest) der Gewerkschaft angehören, ist nicht klar, wer der Verhandlungspartner sein soll. Die erwähnten Schwierigkeiten tragen weiter dazu bei, dass die Betriebsgewerkschaften den Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz noch nicht als ein wichtiges gewerkschaftliches Thema betrachten.

In dieser Situation lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

1. Eine Verbesserung der Arbeitssituation muss bei der Führungskultur ansetzen. Daher scheint ein Top-down-Vorgehen erfolgversprechender als breit angelegte Schulungskurse für die ganze Belegschaft. Daher ist auch die Rolle der Gewerkschaft sehr beschränkt.
2. Am Führungsverständnis zu arbeiten gelingt nur durch ein modellhaftes Vorgehen. Das heisst, mit den Vorgesetzten muss ein neues Verhaltensrepertoire aufgebaut und die Umsetzung von Massnahmen konkret und verpflichtend geplant werden. Information allein bringt wenig bis nichts.
3. Betriebsgewerkschaften müssten vor allem auf die Problematik des kontraproduktiven Prämiensystems sensibilisiert werden und diesen Punkt in Lohnverhandlungen thematisieren.

*Margrit Hugentobler und Christof Thierstein sind Mitinhaber der Denkbar AG für Schulung und Beratung in Zürich.