Der ganz alltägliche Wahnsinn

Ein Einblick in die Kinderabteilung des Hôpital Albert Schweitzer, Haiti

Von Brigitte Hofer

Pflegefachfrau (ehemals Krankenschwester), jung, offen, innovativ und lebensfroh. Mit diesen Voraussetzungen begab ich mich vor rund einem Monat auf die Reise von Bern nach Deschapelles, Haiti. Es ist mein erster Arbeitseinsatz in einem Entwicklungsland.

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Ich bin froh, nicht alleine reisen zu müssen. Mein Begleiter ist Dr. Chandon Chattopadhyay, ein Schweizer Kinderarzt mit langjähriger Arbeitserfahrung in Entwicklungsgebieten. Am Flughafen von Port--au-Prince werden wir von Dr. Maurice Fritzsche abgeholt. Er ist ebenfalls Kinderarzt und schon drei Monate am Albert Schweitzer Spital in Deschapelles tätig. Zusammen bilden wir drei das Kernteam, das frischen Aufwind in die Kinderabteilung des Spitals bringen soll. Ausserdem hoffen wir, mit unseren Ideen und Innovationen auch andere Abteilungen des Spitals zu erreichen, sie zu Veränderungen zu motivieren.

Das Projekt zur Verbesserung der Pflege, der Arbeitsbedingungen und der Infrastruktur in der pädiatrischen Abteilung wird durch den Verein Partnerschaft Kinderspitäler Biel - Haiti finanziert. Die dreistündige Fahrt von Port-au-Prince nach Deschapelles spiegelt die Situation des Landes wieder. Die Strasse ist teilweise sehr schlecht. Die Häuser sind kleine Hütten mit einem oder zwei Räumen, in denen die ganze Familie lebt - ohne weiteres zehn oder mehr Personen. Die Menschen sitzen am Strassenrand, die meisten von ihnen sind arbeitslos. Für viele ist unklar, woher die nächsten Mahlzeiten kommen werden. Kinder wuseln überall umher. Viele von ihnen sind unter- oder mangelernährt.

Am nächsten Tag um sieben Uhr früh beginnt meine Arbeit auf der pädiatrischen Abteilung. Es ist heiss in den Räumen. Die Luft ist stickig, geschwängert vom Geruch vieler Menschen. Auf der Station sind bis zu 50 Kinder mit ihren Eltern hospitalisiert. Nochmals so viele liegen in der Tagesklinik. Für meine ordnungsliebenden Augen herrscht hier das Chaos. Die haitianischen Pflegenden behalten jedoch den Durchblick, wissen, was zu tun ist. Jede von ihnen betreut tagsüber etwa 15 Kinder, in der Nacht bis zu fünfzig. Nach einem kurzen Rapport der Nachtwache wird das Material für den Tag bestellt. Pflegeutensilien werden nicht auf der Abteilung gelagert, da die Gefahr, dass das sie gestohlen werden, zu gross ist.

Anschliessend beginnt die Papierarbeit, das Vorbereiten der Pflegedokumentation. Das System ist kompliziert, beansprucht viel Zeit, die dann zum eigentlichen Pflegen fehlt. Es wird eine Aufgabe unseres Teams sein, diese Arbeit zu vereinfachen. Um zehn Uhr werden die Medikamente verteilt. Dazu steht die Pflegende im Zimmer, ruft den Namen des Kindes und wartet darauf, dass die Mutter das Medikament abholt oder das Kind zur Applikation bringt. In dieser Zeit mache die Ärzte Visite. Danach wieder Schreibarbeit. Die neuen Verordnungen werden in die Dokumentation übertragen. In der Zwischenzeit werden die Patienten sich selbst und ihren Eltern überlassen. Das ist die meiste Zeit des Tages nicht anders. Auch das soll sich durch die Anwesenheit unseres Teams ändern. Wenigstens Puls, Atmung, Temperatur und Sauerstoffsättigung sollten regelmässig bei allen Kindern gemessen werden. Kurz vor dem Mittag werden Infusionsleitungen neu gesteckt, Kinder katheterisiert, Magensonden gelegt und Verbände neu gemacht. Diese Arbeiten ziehen sich meist bis zum Arbeitsschluss um 15 Uhr hin. Gleichzeitig gehen entlassene Kinder nach Hause, und neue kommen an.

Der Arbeitsalltag auf der Kinderabteilung ist anstrengend und oft frustrierend. Viele Kinder schaffen es nicht, sterben. Und obwohl die Pflegenden hier viel Einfallsreichtum beweisen: es kann nicht alles gebastelt und improvisiert werden. Gewisse Dinge muss man einfach kaufen können. In der Schweiz würde eine Pflegefachperson nicht einen halben Tag unter solchen Bedingungen arbeiten. Die Pflegenden hier machen es zum Teil schon über zwanzig Jahre lang. Nun bin ich mittendrin. Das Chaos hat sich nach einem Monat ein wenig gelichtet. Die Arbeit ist die gleiche geblieben. Dennoch freue ich mich auf die Herausforderungen der kommenden Monate. Ich hoffe, dass wir den Spitalalltag für all jene ein klein wenig verbessern können, die auch in zwanzig Jahren noch morgens um sieben auf den Abteilungen des Hôpital Albert Schweitzer stehen und ihren Arbeitstag beginnen.

*Brigitte Hofer ist Kinderkrankenschwester und arbeitet seit September 2004 in der Kinderabteilung des Hôpital Albert Schweitzer in Haiti. Ihr Auftrag ist es, im Rahmen eines Interventionsprogrammes im Pflegeteam nachhaltige Verbesserungen der pflegerischen Leistungen zu erreichen. Kontakt zum Verein Partnerschaft Kinderspitäler Biel-Haiti: Prof. Dr. Rolf P. Zurbrügg, Präsident, rpzurchbiel@bluewin.ch. Informationen zum Hôpital Albert Schweitzer in Deschappelles: www.hopitalalbertschweitzer.org