Ein Gespräch um Armut und Krankheit (II): Familie I. in Chong-Dubu, Kirgistan

„Mit Geld kann man alles machen. Heutzutage löst man Probleme mit Geld.“

Lesezeit 4 min.

Gulsaira Ibraimova, 41: Ich habe vier Kinder: drei Töchter und einen Sohn. Zwei Töchter zogen nach Bishkek. Sie hoffen dort ein besseres Leben zu finden. Sie arbeiten in einer Teigwarenfabrik. Die beiden andern Kinder leben bei uns. Meine Tochter ist behindert.

Wir können nur vorübergehend in diesem Haus leben. Das Haus gehört der Grossmutter meines Gatten. Sie hat Gesundheitsprobleme. Nun ist sie für eine Behandlung in Bishkek.

Wegen meiner Blutarmut kamen alle meine Kinder im siebten Monat zur Welt. Damals bereitete es mir grosse Mühe, das Vieh zu besorgen. Meine behinderte Tochter ist von schwacher Gesundheit. Sie ist häufig krank. Wir litten beide viel. Bei ihrer Geburt wog sie nicht einmal zwei Kilo. Erst mit vier Jahren begann sie zu gehen. Es geht ihr nicht gut. Sie grübelt viel nach. Sie kann weder arbeiten noch die Schule besuchen. Ihr Gedächtnis ist sehr schlecht.

1995 nahm ich meine Tochter mit nach Bishkek. Ich zeigte sie den Ärzten, und sie bekam eine Behandlung. Die Ärzte haben gesehen, dass sie krank und schwach ist. Deshalb wurde ihr eine Rente zugesprochen. Damals war sie acht. Mit sechzehn ist man erwachsen und braucht ein neues Gutachten. Seit einem Jahr bekommt sie nun keine Rente mehr. Wir haben weder ein Einkommen noch Vieh, um das neue Gutachten zu bezahlen.

Unsere Einkommenssituation ist schlecht. Mein Gatte ist sehr krank und kann nicht arbeiten. Wir verdienen nichts. Ein wenig Unterstützung erhalten wir von Angehörigen. Auch unsere beiden Töchter helfen uns finanziell.

Allerdings ist es für sie schwierig, Geld zu senden. Sie treffen in Bishkek keine Leute aus unserem Dorf, denen sie das Geld mitgeben könnten. Wenn ich doch ein Taxi finden könnte, das mich nach Bishkek bringt. Ich könnte es da mit dem Geld der Töchter bezahlen. Ich sollte doch nach meinen Kindern schauen. In Erfahrung bringen, wie sie in Bishkek leben. Sie wohne??n in einem Appartement und bezahlen dafür 700 Som. Dazu haben sie noch weitere Ausgaben, fürs Essen und anderes.

Ich bin stets eine glückliche Mutter, wenn die Töchter uns besuchen kommen. Der schönste Moment ist, wenn wir beieinander sitzen. Wir feiern, essen und trinken Tee, sitzen um den Tisch, reden über dies und das. Auch mein Gatte fühlt sich dann wohl.

Adambek Baltdev, 40: Seit dreizehn Jahren habe ich Tuberkulose. Früher wurde ich behandelt. Seit drei Jahren nicht mehr. Ich bin sehr schwach. Deshalb kann ich nicht arbeiten.

Früher erhielt ich eine Rente, denn ich liess mich untersuchen und behandeln. Ich galt als behindert. Nun kann ich wegen unserer finanziellen Situation nicht mehr zur Untersuchung fahren. Deshalb erhalte ich keine Rente mehr. Ich arbeite nicht, habe kein Einkommen, keinen Unterhalt. Ich bräuchte Geld, um nach Bishkek fahren zu können und mich dort behandeln zu lassen.

In Irkutsk leistete ich als Gefängniswärter Militärdienst. Viele Gefangene hatten Tuberkulose. Dort habe ich mich angesteckt, glaube ich. 1984 quittierte ich den Dienst. Damals wusste ich noch nichts von meiner Krankheit.

Vor fünfzehn, sechzehn Jahren wohnten wir in diesem Haus. Ich arbeitete als Schäfer in dieser Kolchose. Das Leben damals war gut. Wir hatten gesunde Nahrung, Stutenmilch, viel Fleisch.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das Land an die Leute verteilt. Sie zerstörten dieses Haus und nahmen alles mit, Backsteine und Balken. Deshalb sieht es hier nun so aus. Wenn ich hierher komme und die zerstörten Gebäude sehe, bin ich sehr traurig. Denn ich verbrachte hier glückliche Zeiten. Es schmerzt mich.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es bergab. Ich wurde krank und leide seit 1991 an Tuberkulose. Dieses Foto wurde gemacht, als meine Tuberkulose in einem Spital in Bishkek behandelt wurde.

Gulsaira Ibraimova, 41: Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war unsere ökonomische Situation gut. Wir hatten viel Vieh. Um zu Medikamenten für meine Tochter und meinen Gatten zu kommen, verkauften wir die Tiere.

Unsere Lebensbedingungen können sogar noch schlechter werden. Wir haben weder Geld noch Vieh und erhalten keinerlei Unterstützung. Das alles ist sehr schwierig für mich. Wir ernähren uns von Brot und Tee, essen überhaupt kein Fleisch. Wir pflanzten in unserem Garten ein paar Kartoffeln. Und wenn wir etwas Geld bekommen, kaufen wir Teigwaren. Manchmal erhalten wir von Verwandten Mehl.

Wenn wir Geld haben, geben wir es in erster Linie für Nahrungsmittel aus. Dann braucht unser Sohn Schulmaterial. Schliesslich müssen wir Pachtzinsen und Elektrizität bezahlen. Wir kauften vieles im Dorfladen auf Kredit. Wir schulden nun 500 Som. „Meine Kinder hungern“, jammerte ich. Wir stecken bis über die Ohren in Schulden. Deshalb möchten wir die Grossmutter zu uns ins Haus nehmen, damit wir von ihrer Rente leben können. Sie ist 80.

Mit Geld kann man alles machen. Heutzutage löst man Probleme mit Geld.

Unser Nachbar ist lieb zu uns. Er sagt immer: „Ihr werdet es schon irgendwie schaffen.“ Er muntert uns auf: „Eure Kinder werden gross.“ Er hat ein gutes Herz, weiss stets Rat. Hilfe erhalten wir auch von meinen Verwandten. Sie sind aber selber arm, weshalb sie nur wenig geben können.

Bei der Geburt meiner Kinder litt ich an Blutarmut. Auch sie hatten diesen Mangel. Noch heute habe ich Symptome von Blutarmut. Ich bin sehr schwach, habe trockene Haut, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle.

Hier im Dorf gibt es einen Gesundheitsposten. Einige Medikamente bekommt man da kostenlos.

Was mein Leben betrifft: Es ist sehr schwer. Meine Tochter und mein Gatte sind krank. Alles lastet auf mir. Wir haben weder Essen noch Geld. Ich sorge mich jeden Tag um meine Kinder. Ich heule, bin verzweifelt. Ich habe keine Stütze, niemanden, der helfen könnte.

Transkript des am Symposium vom 3. November 2004 gezeigten Filmporträts „Armut und Gesundheit“. Das Gespräch führten René Schraner und Eva Hänger. Wir danken der Familie I., dem Filmteam René Schraner und Eva Hänger von priori productions, dem Schweizerischen Roten Kreuz (Tolkun Jadmangulova, Tobias Schüth, Peter Eppler), der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Daniel Mäusezahl und Serge Oumov) sowie allen weiteren an der Filmproduktion Beteiligten für die angenehme und ergiebige Zusammenarbeit. Bilder (film stills): René Schraner.