Bericht des UNO-Weltbevölkerungsfonds UNFPA 2008

Reaching common grounds: Kultur, Geschlecht und Menschenrechte

Von Susanne Rohner

Der Zusammenhang zwischen Kultur, Geschlecht und Menschenrechten ist das Thema des jüngsten Berichts „State of world population 2008“ des UNO-Weltbevölkerungsfonds UNFPA. In der Arbeit zur Förderung der Menschenrechte und zur Gleichstellung der Geschlechter integriert UNFPA kultursensibles Vorgehen.

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Ob zur Förderung der Menschenrechte, der Frauenrechte oder zur Verbesserung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit ist ein kultursensibles Vorgehen unerlässlich. Nur wenn der kulturelle Kontext verstanden und einbezogen wird, können in einer Gesellschaft positive Veränderungen herbeigeführt werden, die in den betroffenen Gruppen auch akzeptiert und verankert sind und damit verbunden nachhaltig Wirkung zeigen. Der kultursensible Ansatz ist für den UNO-Weltbevölkerungsfonds UNFPA Programm und zieht sich wie ein roter Faden durch den Bericht „state of world population 2008“ (UNFPA State of world population 2008) zum Thema Kultur, Geschlecht und Menschenrechte.

Tsehay war neun Jahre alt, als ihre Eltern sie mit einem 6 Jahre älteren Jungen verheirateten, nichts Ungewöhnliches in ihrem Heimatland Äthiopien. Nach dem Tod ihres Vaters soll das Mädchen zu dem Mann ziehen, mit dem sie verheiratet worden ist. Sie entzieht sich dem, indem sie ohne Nahestehende einzuweihen mit dem Onkel nach Addis reist, wo er sie als Haushaltshilfe in einer Familie unterbringt. Während der folgenden 8 Jahre lebt die junge Frau, die nie zur Schule gegangen ist, völlig isoliert in der Familie, wo sie von morgens bis abends arbeitet, nach eigenen Worten aber immerhin „gut“ behandelt wird. Erst über ein Programm, das Frauen wie ihr praktisches Allgemeinwissen vermittelt, lernt sie andere junge Frauen kennen, die ebenfalls auf der Flucht vor Armut und Kinderheirat in Addis gestrandet sind. Tsehay freut sich sehr, ihre Mutter wiederzusehen. Sie kann sich aber nicht vorstellen, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, weil es dort unmöglich wäre, ein eigenständiges Leben zu führen. (Generation of Change)

Obwohl Kinderheirat auch in Äthiopien einen Verstoss gegen die Menschenrechte bedeutet, sind solche arrangierten Heiraten mancherorts verbreitet. Die betroffenen Mädchen werden damit nicht nur ihrer Rechte beraubt, sondern solche frühen Heiraten bringen für sie auch beträchtliche Gesundheitsrisiken mit sich. Damit sind sie schon sehr jung einer Ansteckung durch HIV ausgesetzt und riskieren Gesundheit und Leben, wenn sie zu jung schwanger werden. Um erfolgreich gegen Kinderheirat vorzugehen, ist kultursensibles Vorgehen wichtig, weil auch die Gemeinschaft und Familie einbezogen und der kulturelle Kontext berücksichtigt werden muss.

Kultur beeinflusst und wird beeinflusst

Als Kultur definiert UNFPA die überlieferten Muster übereinstimmender Sinngebung und das allgemeingültige Verständnis einer Gemeinschaft. Diese beeinflussen den Alltag der Gemeinschaft und das Leben und Denken der Individuen und wirken wie eine Linse, durch die die Leute ihre Umwelt wahrnehmen und interpretieren. Solche überlieferten Sinn- und angelernte Verhaltensmuster wirken zwar langfristig und nachhaltig. Kulturen sind aber nicht statische, sondern dynamische Konstrukte, welche äusseren Einflüssen ausgesetzt und von den Menschen selber gemacht sind und auch verändert werden können. Kulturen setzten sich auch aus verschiedenen Untergruppen zusammen, welche über Geschlecht, Ethnie, Religion, soziale Herkunft definiert werden können. Trotz grundlegenden Übereinstimmungen denken noch lange nicht alle Menschen einer kulturellen Gemeinschaft gleich und die vereinbarten Muster und Interpretationen der Umwelt müssen nicht einstimmig und uniform akzeptiert sein. Sie werden immer wieder von Individuen in Frage gestellt, was Möglichkeiten zu Veränderungen bietet.

Kulturelle Werte sollten gemäss UNFPA in Einklang mit den Menschenrechten stehen, welche universell sind und eine für alle Kulturen allgemeingültige Basis bilden. Die Menschenrechte finden erst Anwendung, wenn sie im kulturellen Kontext umgesetzt werden. Es gibt allerdings überall auf der Welt kulturell begründete Praktiken und Traditionen, welche gegen die Menschenrechte verstossen. Kultursensible Methoden bieten hier eine wirksame Möglichkeit, diese anzufechten: Indem kulturelle Realitäten und der Lebenskontext berücksichtigt und verstanden werden, können erst wirksame Wege gefunden werden, um schädliche Praktiken anzufechten und positive zu stärken. Kultursensibles Vorgehen verhindert auch einen voreingenommenen und wertenden Zugang zu den Gemeinschaften und von aussen hereingebrachten Lösungsansätzen, denen es an Bezug zu lokalen Gegebenheiten fehlt. Sie nehmen Kulturen ernst, ohne schädliche Praktiken zu relativieren und zu verharmlosen.

Erst lokales Wissen und ein Bezugsnetz mit Behörden, lokalen NGOs, Individuen und insbesondere auch Schlüsselpersonen innerhalb der Gemeinschaft bietet die nötige Basis für Dialog und positive Veränderungen. Zu kulturellem Wissen und Verstehen gehören die Einsicht, wie die Leute in ihrem Kontext funktionieren und weshalb sie bestimmte Entscheide treffen. Dazu gehören auch die Kenntnisse geläufiger Kommunikationsformen, das Wissen, über was wie gesprochen werden kann und weshalb. Zudem müssen wirtschaftliche, politische und soziale Kontexte einbezogen werden sowie Fragen nach den Machtstrukturen. Wirksame Veränderungen können herbeigeführt werden, wenn Leute innerhalb der Gruppe unterstützt werden, die sich gegen schädliche Praktiken wehren oder wenn Prominente, einflussreiche Führer und gesellschaftliche Schlüsselpersonen gewonnen werden, die bereit sind, sich für Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter und Ziele wie Prävention von HIV/Aids einzusetzen.

Internalisierte Verhaltensmuster

Kultursensible Ansätze dringen unter die Oberfläche. Gerade im Bereich Gleichstellung der Geschlechter und Empowerment von Frauen, welche als wichtige Voraussetzungen zur weltweiten Bekämpfung der Armut und einer nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung anerkannt sind, ist dies unerlässlich. Geschlechterbeziehungen und Machtstrukturen bauen auf kulturellen Überzeugungen auf. Kultursensitive Fragestellungen gehen weiter als einfach Ungleichheiten zu nennen. Sie zeigen nicht nur auf, wie Geschlechterbeziehungen gesellschaftlich und gesetzlich geregelt sind, sondern sie gehen auch der Frage nach, wie sich Machtstrukturen auf das Private, auf Beziehungen aber auch auf das Selbstverständnis des Einzelnen auswirken. Im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen suchen kultursensible Ansätze nicht nur nach Tätern und Opfern, sondern auch nach Verhaltensmustern von Männern und Frauen sowie nach versteckten Mechanismen und internalisierten Verhaltensmustern.. Dabei ist es sehr wichtig, Männer einzubeziehen, die sehr wohl auch zu Advokaten von Frauenrechten werden können. Kulturell begründete Rollenbilder und Definitionen von sogenannter Männlichkeit können Machtstrukturen erhalten, Gewalt gegen Frauen relativieren und zum Beispiel Risikoverhalten von Männern fördern, was auch Auswirkungen auf die Prävention einer Übertragung von HIV/Aids hat.

Bei heiklen weil tabuisierten Themen wie Sexualität im allgemeinen und HIV/Aids oder reproduktiver Gesundheit im besonderen ist es besonders wichtig, kultursensibel vorzugehen. Im Zusammenhang mit HIV/Aids weist UNFPA unter anderem auf folgende Vorteile hin: Kultursensibles Vorgehen baut Vertrauen und Engagement auf Gemeindeebene auf, was die Wahrscheinlichkeit von Prävention erhöht. Zudem werden Werte, Vorstellungen, Traditionen und soziale Strukturen, in denen die Menschen leben berücksichtigt. Zudem zeigen kultursensible Programme auch Erfolg bezüglich Abbau der Stigmatisierung Betroffener.

Annie Kaseketi Mwaba aus Sambia hat ihren Mann und vier Kinder verloren. Als sie selber krank wird, muss sie insistieren, bis ihr Arzt sie auf HIV testet. HIV/Aids gilt in ihrem Umfeld als Resultat unmoralischen Verhaltens.

Das positive Testresultat ist für Annie ein Schock, vertrat sie doch selber innerhalb ihrer Kirchgemeinde aktiv die Meinung, „HIV/Aids treffe nur Leute, die nicht in die Kirche gehen.“ HIV/Aids wurde leichtfertig als Laster anderer abgehandelt, innerhalb der Gemeinde tabuisiert und Betroffene stigmatisiert.

Als sich herausstellt, dass ihr jüngster und einzig überlebender 9-jähriger Sohn ebenfalls HIV positiv ist, beschliesst Annie Kaeketi Mwaba aktiv zu werden. Ihr „coming-out“ in ihrer Kirchgemeinde, in der sie als aktives Mitglied sehr geschätzt wurde, führt dazu, dass heute offen über HIV/Aids gesprochen wird. Es wurde auch sichtbar, dass zahlreiche weitere Gemeindemitglieder HIV positiv sind, dies aber bisher verdrängt und versteckt hatten. Heute steckt Annie Kaseketi Mwaba ihre ganze Energie dafür ein, innerhalb christlicher und islamischer Glaubensgemeinschaften HIV/Aids zu enttabuisieren und über Initiativen Betroffenen und Aidswaisen zu helfen. (UNFPA state of world population 2008)

Männlichkeit und Weiblichkeit

Ein kultursensibles Vorgehen ist auch Voraussetzung zur Erreichung des Millenniums-Entwicklungsziels 5, welches die Gesundheit von Schwangeren und Müttern verbessern und die Müttersterblichkeit zwischen 1990 und 2015 um 75 % reduzieren will. Trotz Anstrengungen blieben die Zahlen der Frauen, die während der Schwangerschaft oder Geburt sterben, seit 1980 nahezu unverändert: Jährlich sterben rund 500‘000 Frauen während der Schwangerschaft oder Geburt, 99,9 Prozent davon in Entwicklungsländern. Millionen von Frauen haben nicht nur keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, sondern auch nicht die Möglichkeit, zu bestimmen ob und wann sie schwanger werden möchten. Ursachen sind laut UNFPA mangelhafte Gesundheitssysteme wie auch kulturelle Barrieren. In vielen Kulturen bestimmen patriarchale Rahmenbedingungen Männlichkeit und Weiblichkeit, wie auch die Bedeutung von Sexualität und reproduktiven Rechten, mit dem Resultat, dass den Bedürfnissen von Frauen kaum Beachtung geschenkt wird. Deshalb ist es wichtig, die Gesundheit von Frauen in deren sozialen und kulturellen Kontext anzugehen und kultursensible Lösungen zu suchen.

In einem kulturellen Kontext, in dem Kinderlosigkeit ein Stigma ist, oder die Zahl der Kinder von grosser Bedeutung ist, werden Verhütungsmitteln eher skeptisch beurteilt und nur zurückhaltend verwendet. Erst das Wissen um den kulturellen Kontext ermöglicht es, Widerstand gegen Verhütungsmittel abzubauen und Frauen zu stärken, indem sie ihre Reproduktion selber steuern können.

Junge Menschen und Jugendliche befinden sich oft in besonderem Masse in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Gleichzeitig können sie treibende Kraft für Wandel sein.

Der UNFPA-Bericht „state of world population 2008“ zeigt Fallbespiele von Jugendlichen auf, welche aufbauend auf ihrem kulturellen Kontext Alternativen zur Elterngeneration finden.

Gritta, eine 22-jährige Frau aus Mocambique, hat als nationale Fussballspielerin Erfolg in einer typischen Männerdomaine. Aufgewachsen in einem von Kriminalität geprägten Viertel in Maputo, ist sie über ihren Zwillingsbruder zum Fussball gestossen. Trotz anfänglichem Widerstand ihres Vaters wurde sie als 1-Jährige in ein Fussballteam aufgenommen. Sie versteht sich aber nicht nur als Fussballspielerin sondern auch als Aktivistin und beteiligt sich an Kampagnen für Kondome. Zur Halbzeit verbreiten sie und ihre Kolleginnen im Gespräch mit anderen Spielerinnen sowie ZuschauerInnen Informationen zu Kondomen, HIV/Aids, sexueller und reproduktiver Gesundheit und Geschlechterfragen. Trotz Erfolg als Fussballspielerin sieht Gritta ihre Zukunft nicht im Sport. Sie möchte sich in einer Gesellschaft, in der Frauen ihrem Urteil nach meist nicht ernst genommen werden, erst mal Unabhängigkeit schaffen und studieren. (Generation of Change)

*Susanne Rohner ist bei PLANeS, der Schweizerischen Stiftung für sexuelle und reproduktive Gesundheit, zuständig für Advocacy und Kommunikation. Der nationale Dachverband der Beratungsstellen für Familienplanung, Schwangerschaft, Sexualität und Sexualerziehung setzt sich auf nationaler und internationaler Ebene für die Rechte im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit ein. PLANeS wird für die Arbeit mit der parlamentarischen Gruppe Kairo+ von UNFPA finanziell unterstützt. Kontakt: susanne.rohner@plan-s.ch.


Ressourcen


  • UNFPA State of world population 2008 – Reaching Common Ground: Culture, Gender and Human Rights. www.unfpa.org
    Generation of Change: Young People and Culture: Youth supplement of UNFPA state of world population report 2008.