Buen Vivir: Ein möglicher Weg für die primäre Gesundheitsversorgung

Soziale Partizipation und staatliche Verantwortung: noch offene Verpflichtungen

Von Joel Heredia Cuevas

Vor vierzig Jahren definierten 134 Länder Gesundheit als Menschenrecht. Um dies zu erreichen, setzten sie auf den Ansatz der primären Gesundheitsversorgung, bei der soziale Teilhabe und staatliche Verantwortung zentrale Prinzipien sind (Alma Ata, 1978). Heute sind wir weit davon entfernt, das angekündigte Ideal zu erreichen. Dieser Artikel setzt die Erfahrungen des zapatistischen autonomen Gesundheitssystems in Chiapas, Mexiko, mit der primären Gesundheitsversorgung in Beziehung und macht so den Widerstand der indigenen Bevölkerung in Chiapas sichtbar. Von ihrem Recht auf Teilhabe ausgehend, finden sie einen Weg vom Überleben hin zu Gesundheit und Buen Vivir (gutem Leben), zwei untrennbaren Konzepten.

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Soziale Partizipation und staatliche Verantwortung: noch offene Verpflichtungen

Zahnmedizinische Behandlung. Foto: © Joel Heredia Cuevas

 

Der Zapatismus und die kommunale Gesundheit in Chiapas

Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) trat am 1. Januar 1994 in Chiapas an die Öffentlichkeit (an diesem Tag tritt Mexiko dem Freihandelsabkommen NAFTA mit den USA und Kanada bei und im Mai 94 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - OECD). Mit einem Ya Basta! (Es reicht!) drückte die indigene Bevölkerung mit Waffen ihren Unmut angesichts der Vernachlässigungen des mexikanischen Staates aus. Sie forderten Land, Arbeit, Wohnen, Nahrung, Bildung, Gesundheit, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden.

Nach zwölf Tagen Krieg, hoffnungsvollen Friedensverhandlungen, nicht eingehaltenen Abkommen und neuer Repression und Verfolgung, änderte die EZLN ihre Strategie: Vom Ziel der Machtergreifung hin zum Aufbau von Autonomie und Macht von unten. In dieser Bewegung trafen verschiedene lateinamerikanische Erfahrungen aufeinander, wie der „Educación popular“ von Paulo Freire, dem Konzept der kollektiven Gesundheit im “Kritischen Denken Lateinamerikas” sowie der Befreiungstheologie. Die Synergie dieser Erfahrungen ermöglichte es den Indigenen, sich trotz Widrigkeiten zu konstruieren und/oder zu rekonstruieren; ausgehend von ihrer eigenen Kultur, der traditionellen Medizin, der Beziehung zur Natur, den eigenen Lebens- und Regierungsformen.

Präsentation von Joel Heredia Cuevas am MMS Symposium 2018 © Network Medicus Mundi Schweiz

 

Das zapatistische Autonome Gesundheitssystem verkörpert weit mehr als nur die Behandlung von Krankheiten

Auf diesem Weg entwickelte die zapatistische Bevölkerung eine breite Erfahrung in der kommunalen Gesundheit, die sie als das Zapatistische Autonome Gesundheitssystem definiert. Über die Jahre wurden 40 regionale Kliniken und über 300 kommunale Gesundheitshäuser aufgebaut, Gesundheitspersonal für die allgemeine Pflege und Promotoren in Zahnpflege und Frauengesundheit ausgebildet sowie die Zusammenarbeit mit traditionellen Hebammen und Heilerinnen verstärkt.

Doch bedeutet Gesundheit fürs zapatistische Gesundheitssystem weit mehr als die Behandlung von Krankheiten. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für die Zapatistas in den Forderungen enthalten, die die Bewegung seit ihrer Gründung erhoben hat. In den Worten der Gesundheitspromotoren bedeutet Gesundheit „in Würde zu leben, Bildung, eine Unterkunft, Nahrung, eine Arbeit zu haben und Gerechtigkeit zu erlangen. Gesundheit bedeutet, ohne Demütigung zu leben und uns als Frauen und Männer entwickeln zu können“ (Deklaration in Moisés Gandhi, autonome Region, Februar 1997). "Gesundheit ist das Ziel, nicht nur von Gesundheitsprojekten, sondern vom ganzen Kampf". Die Gesundheitspolitik soll nach Definition der Zapatistas "mit Respekt vor Mensch und Kultur, frei, gut beratend, autonom, mit Disziplin und Kameradschaft" sein („Wahre Gesundheit“. Autonomer Bezirk Ricardo Flores Magón, 2002).

Das zapatistische Gesundheitssystem wird von den kleinsten Ortschaften aus und unter Beteiligung der Bevölkerung aufgebaut. Leute aus den Gemeinden werden als GesundheitspromotorInnen ausgebildet und arbeiten in kommunalen Gesundheitshäusern, die von der Bevölkerung gebaut wurden. Sie bieten eine Gesundheitsversorgung erster Stufe an. Die zweite Stufe umfasst autonome Regionalkliniken mit den Schwerpunkten Allgemeinmedizin, Zahnpflege und reproduktive Gesundheit.

Die Promotoren werden in einigen Fällen von regulärem medizinischem Personal, das ihr Sozialjahr in der Region absolviert, unterstützt. Eine deren wichtigste Aufgabe ist es, PatientInnen, die an eine Klinik nächst höherer Stufe überwiesen werden, zu begleiten (da die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung auch in den öffentlichen Spitälern alltäglich ist und viele nicht genügend Spanisch sprechen, mindert die Begleitung ausgebildeter ÄrztInnen Vorfälle von schlechter Behandlung der indigenen PatientInnen). Da das zapatistische Gesundheitssystem nur über wenige Kliniken verfügt, in denen sie geplante Operationen durchführen, werden gravierende Fälle in Spitäler des mexikanischen Gesundheitssystems kanalisiert.

Über die Zeit wurden spezifische Programme aufgebaut, beispielsweise eines für reproduktive Gesundheit und die Begleitung von Schwangerschaft, Geburt und im Wochenbett. Zu diesem Zweck besteht eine sehr wichtige Beziehung zu den traditionellen Hebammen, die vom zapatistischen Gesundheitssystem anerkannt werden. In den ländlichen Gemeinden werden mehr als 65 % der Geburten zu Hause von Hebammen betreut (Heredia, 2016). Diese Anerkennung trägt zur Wertschätzung der Arbeit der traditionellen Hebammen bei, im Gegensatz zum öffentlichen Gesundheitssystem, in dem die Hebammen derzeit kriminalisiert werden.

Die Bevölkerung wählt ihre Vertreterinnen im Gesundheitssystem, sowohl die Promotoren als auch die Mitglieder der Gesundheitskomitees, die wiederum Vertreterinnen für die kommunale Gesundheitskoordination und von dort aus für die zapatistische Regierung ernennen. Die Gemeindeversammlungen überwachen die Leistung dieser Amtsträger und sanktionieren oder suspendieren sie im Falle eines Verschuldens. Die Richtung dieser Organisationsform weist von unten nach oben nach dem zapatistischen Motto „mandar obedeciendo“ (mit Gehorsam befehlen).

Ärztliche Untersuchung. Foto: © Joel Heredia Cuevas 

Die Konstruktion des Buen Vivir als Resultat eines Prozesses

Eines der Merkmale des zapatistischen Gesundheitssystems ist, dass es ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität vermittelt, da es von der Bevölkerung für die Bevölkerung entwickelt wurde und direkt auf die alltägliche schlechte Behandlung, Diskriminierung und den Autoritarismus in staatlichen Institutionen reagiert. Es ist ein partizipatives Modell, das lokal und regional verankert ist. Dies ermöglicht die Entwicklung von Kapazitäten und Fähigkeiten sowie die direkte Beurteilung und gegebenenfalls Reaktion auf die vom medizinischen Personal erbrachten Leistungen.

Eines der auffälligsten Ergebnisse ist die Verringerung der Müttersterblichkeit im Einflussgebiet des zapatistischen Gesundheitssystems. Dank der Interaktion der Promotorinnen mit traditionellen Hebammen registrierten die acht von SADEC betreuten autonomen Kliniken in den letzten 10 Jahren nur einen Todesfall einer Mutter bei 1377 begleiteten Geburten. Dies sind signifikante Daten, wenn man berücksichtigt, dass Chiapas eine der höchsten Rate an Muttersterblichkeit hatte und diese zwei- bis dreimal so hoch ist wie der nationale Durchschnitt (México, 2015).

Das zapatistische Gesundheitssystem erhält keine staatliche Unterstützung. Dennoch interagiert es mit dem nationalen mexikanischen Gesundheitssystem, insbesondere wenn Patienten an öffentliche Krankenhäuser überwiesen werden müssen oder bei Impfungen. Der vom Staat zur Verfügung gestellte Impfstoff wird von NGOs verteilt und angewendet. Eine Zusammenarbeit mit dem mexikanischen Gesundheitssystem erfolgt auch bei epidemiologischen Notfällen.

Die Zapatistas befinden sich in einem politischen Widerstand gegen den Staat, der dem Prinzip der Würde folgt und de facto eine Regierung ablehnt, die sich nicht an die Friedensabkommen hält (CEDOZ, 1996). Diese Position steht jedoch nicht über der ethischen Verantwortung gegenüber einer PatientIn. Falls die Gesundheitssituation eines Patienten die Fähigkeiten und/oder Ausstattung einer autonomen Klinik übersteigt, so wird dieser an die öffentlichen Dienste des Staates überwiesen.

Schulgemeinschaft. Foto© Joel Heredia Cuevas

 

Gesundheit und Autonomie

Die Zapatistas brechen mit der Abhängigkeit vom hegemonialen medizinischen Modell und erlangen die Entscheidungsmacht über den Körper als zentraler Bestandteil des Territoriums. Mit den eigenen Akteuren und eigenen Instrumenten (Allopathie, Homöopathie, Akupunktur, traditionelle Medizin) bauen sie ein Versorgungsmodell auf, das einen doppelten Effekt erzeugt: einerseits die individuelle Gesundheit, was eine höhere Lebensqualität bedeutet; andererseits die Gesundheit der Gemeinschaft, in der gesunde und befähigte Menschen den Aufbau und die Verteidigung ihres Territoriums besser angehen können ("Gesunde Menschen können ihre materiellen und subjektiven Welten besser verstehen und aufbauen. Dies erleichtert die Entscheidungsfindung durch die Konstruktion von Bedeutung und Wissen.“ Chapela)

Derzeit ist das Gesundheitssystem eines der sichtbarsten Projekte der Zapatistas. Zusammen mit dem Bildungssystem, der Lebensmittelproduktion und der autonomen Verwaltung gehört die Gesundheit zu den vier grundlegenden Säulen des autonomen Projekts. Als Grundlage dient die Idee von Jaime Breilh, einem Gesundheitstheoretiker aus Ecuador, dass nicht nur die Risiken und einzelnen Faktoren, welche die Gesundheit beeinflussen, verändert werden sollen, sondern in grundlegender Weise "die Auswirkungen auf Bestimmungsprozesse, die strukturelle historische Modi implizieren“ angegangen werden müssen. (Breilh, 2011)

Gutes Leben, Wohlbefinden, Gesundheit für alle ist ein natürliches Bestreben jedes Volkes. Aber die Möglichkeit, dies zu erreichen, wird durch territoriale, wirtschaftliche und kulturelle Eroberungen um der politischen und wirtschaftlichen Macht willen untergraben. Als Reaktion darauf sucht die Bevölkerung nach verschiedenen Formen der Emanzipation, notfalls auch bewaffnet, wie im Falle der EZLN.

 

Referenzen:


Joel Heredia Cuevas
Joel Heredia Cuevas, Allgemeinmediziner, arbeitet seit 1984 im Bereich der Basisgesundheit in ländlichen Regionen von Chiapas, Mexiko. Er ist Gründungsmitglied der NPO Salud y Desarrollo Comunitario (SADEC) (1995). Seit 1996 koordiniert Joel Heredia Cuevas das Sozialjahr für angehende Ärzte/innen der Universidad Autónoma Metropolitana, die ihr Jahr im nördlichen Chiapas absolvieren. Er ist als Referent am letztjährigen Medicus Mundi Symposium in Basel aufgetreten.