Das Ending-Child-Marriage-Projekt in Bangladesch

Wenn Kinder heiraten…

Von Martin Leschhorn Strebel

Kinderheiraten haben schwerwiegende Folgen – nicht nur für die betroffenen Mädchen, sondern für die wirtschaftliche Entwicklung einer ganzen Region. Ein Verbot allein reicht jedoch kaum aus, um die gesellschaftliche Praxis langfristig zu bekämpfen. Dies zeigt die Situation im Norden Bangladeschs.

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Wenn Kinder heiraten…

Mostofapur High School, Bangladesh. Foto: Martin Leschhorn

 

Späterer Dienstagnachmittag im vergangenen November im Norden Bangladeschs: Der Imam segnet singend mit einem Gebet unser Treffen. Ein Hindu schliesst sich dem mit einem eigenen Gebet an. Die Männer und Frauen, welchen ich in Mominpur im Teildistrikt Parbatipur begegne, haben ein gemeinsames Ziel – den verbreiteten Kinderheiraten entgegenzutreten.

Kinderheirat ist begrifflich nicht präzis: Laut den Erklärungen von Pronoy Kumar-Ganguly, Projektmanager des Ending-Child-Marriage-Projektes des LAMB Hospitals sind es vor allem Mädchen, die vor ihrem 18. Geburtstag mit erwachsenen Männern verheiratet werden – diese sind oft doppelt so alt wie ihre Gattinnen. Eigentlich müsste also besser von Mädchenheiraten gesprochen werden.

Grenzen von Sensibilisierungskampagnen

Das bengalische Gesetz ist klar: Das Heiraten vor dem vollendeten 18. Lebensjahr ist verboten. Doch bei der Umsetzung des Gesetzes hapert es offensichtlich. Laut der internationalen Partnerschaft Girls Not Brides werden 59% der Kinder in Bangladesch verheiratet, bevor sie 18 Jahre alt geworden sind – 22% sind bei ihrer Heirat gar unter 15 Jahre alt. Im Teildistrikt Parbatipur, im Nordwesten Bangladeschs sind die Zahlen laut einer 2019 fertiggestellten Baselinestudie von Lamb noch besorgniserregender. Von 90 interviewten verheirateten Mädchen wurden 57% zwischen 11 und 15 Jahren, 29% zwischen 16 und 17 Jahren verheiratet. (vgl. Grafik 1)

 

Grafik 1: Heiratsalter von 90 interviewten Mädchen, blaue Balken (Quelle: Baseline report and in-depth assessment of factors affecting childmarriage in Parbatipur Upazilla, Dinajpur Districts, Bangladesh. Lamb MIS-Research Department 2019)

 

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass auf nationaler Ebene als erstes mit einer Sensibilisierungskampagne gearbeitet wird. So läuft in Bangladesch eine gut gemachte Fernsehkampagne mit Spots, in welchen sich das Umfeld eines Mädchens gegen Eltern wehren, die ihre minderjährige Tochter verheiraten wollen. Die Spots enden immer mit dem im gleichen Rhythmus geführten Klatschen der Beteiligten.

Ending Child Marriage - School. UNICEF Bangladesh 2017

 

Selbstverständlich sind Sensibilisierungskampagnen wichtig, Sie können dazu beitragen, dass eine weit verbreitete Praxis mittelfristig gesellschaftlich an Akzeptanz verliert. Doch nützen letztlich die besten Kampagnen nichts, wenn nicht die Ursachen der Praxis bekämpft werden. Und gerade hier wird es dann doch einiges komplexer als die Fernsehspots vorgeben.


Armut – der Schlüsselfaktor

Die Projektverantwortlichen von Lamb, das von der MMS-Mitgliedsorganisation Women’s Hope International unterstützt wird, nennen vorab die Armut als eine der Faktoren, welche Mädchen in die Verheiratung drängt. Dem durch die Bekleidungsindustrie in Bangladesch ausgelösten wirtschaftlichen Aufschwung zum Trotz, leben gerade in den nördlichen Regionen rund 40% der Bevölkerung nach wie vor unter der Armutsgrenze, ein Fünftel der Bevölkerung gar in extremer Armut (zur Situation in Bangladesch vgl. auch den Beitrag zur People’s Health Assembly im letzten MMS Bulletin). Die frühe Heirat der Töchter entlastet diese Familien. Kommt dazu, dass sie mit einer geringeren Mitgift an die Familie des Ehemanns verbunden ist.

Neben der Armut begünstigen weitere Faktoren die Kinderheiraten. Fehlende Gleichstellung der Geschlechter führt dazu, dass Mädchen und junge Frauen zu wenig über ihre Rechte Bescheid wissen. Teenager-Mädchen fehlt es dadurch an Selbstbewusstsein und familiärer Durchsetzungskraft. Damit verbunden ist sexualisierte Gewalt, vor welchen die Eltern ihre Töchter durch eine vorzeitige Heirat schützen wollen. Dahinter steht auch die gesellschaftliche Kontrolle über die Sexualität der Mädchen in der Pubertät.

Schliesslich mangelt es an staatlicher Durchsetzungsmöglichkeiten der Gesetze: Vorgesehene Schutzmassnahmen der Behörden greifen kaum. Laut UNICEF verfügen in ländlichen Gebieten nur rund ein Drittel der Kinder über eine Geburtsurkunde.

Schülerinnen der Mostofapur High School. Foto: Martin Leschhorn

 

Kampf aus der Mitte der Gesellschaft heraus

All dies zeigt, dass der Kampf gegen Kinderheirat auf verschiedensten Ebenen geführt werden muss – mit gut gemachten und gut gemeinten Sensibilisierungskampagnen über Fernsehen und Radio ist es längst nicht getan. Genau hier setzt das im Sommer 2018 gestartete Programm des Lamb Hospitals an. In Schulen werden Mädchen in Lifeskill-Trainings gestärkt. Sie entwickeln ihre eigenen Pläne für die Zukunft, beschäftigen sich mit ihren Rechten und Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Ausserdem werden Räume geschaffen, in welchen sich unverheiratete und verheiratete Mädchen austauschen können. Für Familien mit Mädchen aus den ärmsten Bevölkerungsgruppen sollen Möglichkeiten geschaffen werden, um zusätzliches Einkommen zu erwirtschaften.

Das Interessante am Projekt des Lamb Hospitals ist, dass es auf eine Initiative der Gemeindemitglieder in Mominpur basiert. An jener durch den Imam eröffneten Sitzung waren die InitiantInnen versammelt. Zentrale Figur dabei ist der Gemeindevorsteher, der laut Pronoy Kumar-Ganguly die Bekämpfung der Kinderheiraten bereits in seinem Wahlmanifest zum Programm erklärt habe. Er sieht verschiedene Probleme für seine Gemeinde: Aufgrund der frühen Heiraten fallen die Mädchen aus dem Schulsystem. Sie sind dadurch sozial isoliert und auch der häuslichen Gewalt in ihren neuen Familien ausgesetzt. Sehr häufig müssen diese Heiraten auch schon recht früh wieder geschieden werden.

Gemeindevorsteher von Mominpur. Foto: Martin Leschhorn

 

Der Heiratsvermittler

Zentral ist, dass die gesellschaftlichen Schlüsselpersonen ins Projekt integriert werden. Deshalb ist es so wichtig, dass der Imam hinter dem Projekt steht. Er thematisiert in Freitagspredigten die Problematik. Am Treffen in Mominpur ist auch eine Hebamme, welche die gesundheitlichen Folgen der mit der frühen Verheiratung verbundenen Teenageschwangerschaften kennt. Und da ist der Beamte, der die Heiraten registriert und darauf achten muss, dass keine frühen Heiraten stattfinden.

Als Teil dieser gesellschaftlichen Mitte Mominpurs zählt auch der Marriage-Maker, der Heiratsvermittler. Im Gespräch betont er, dass er Eltern minderjähriger Frauen darauf aufmerksam macht, dass eine Heirat gesetzlich nicht möglich sei und er eine solche Heirat auch nicht vermitteln würde.

Die Heiratsvermittler spielen eine Schlüsselrolle: Sie werden von Eltern, die ihre Kinder verheiraten wollen gerufen, um einen geeigneten Mann zu finden. Dazu führen sie Listen und bringen mögliche Paare zusammen. Sie arbeiten freischaffend und werden für den erfolgreichen Abschluss einer Heirat bezahlt. Ihr Interesse besteht also primär darin, dass Heiraten zustande kommen und nicht darin, ungesetzliche Kinderheiraten zu verhindern.

Lamb hat in der Ending-Child-Marriage-Projektregion des Teildistrikts Parbatipur eine Liste mit Heiratsvermittlern erstellt: Sie ist dabei auf 245 Personen gekommen. Es ist davon auszugehen, dass nicht alle in ihrer Haltung so klar gegen Kinderheiraten eingestellt sind, wie der Vertreter an unserer Sitzung in Mominpur.

Das Ending-Child-Marriage hat eben erst begonnen. Um nachhaltige Veränderungen herbeizuführen braucht es Zeit, um die verschiedensten gesellschaftlichen Realitäten zu verändern. Dies geht nur mit einem Ansatz der aus der Mitte der Gesellschaft kommt und auch von ihr getragen wird. Genau darin liegt die Stärke des Lamb-Projektes in Parbatipur.

Martin Leschhorn Strebel
Martin Leschhorn Strebel ist Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz. Er hat im November 2018 Bangladesch bereist. Der Projektbesuch im Lamb-Hospital ist dank der Vermittlung der MMS-Mitgliedsorganisation Women’s Hope International zustande gekommen.