Perspektiven der Demographie

Der alternde Planet

Von Robert Butler

Im kommenden Jahrhundert beträgt die menschliche Lebensspanne möglicherweise 120 Jahre. Welche Auswirkungen hat eine "alternde Welt"?

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Seit etwa hundert Jahren ist hinsichtlich der menschlichen Lebenserwartung eine stille und nie dagewesene Revolution im Gange: Dank des Rückgangs der Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie der Fortschritte in der Geriatrie haben die Menschen in den industrialisierten Ländern im Durchschnitt 25 Lebensjahre hinzu gewonnen. Dies entspricht annähernd der über die vergangenen 5000 Jahre zugenommenen Lebenserwartung. So stellen denn auch in vielen Ländern die über 85jährigen die am schnellsten wachsende Bevölkerungsschicht dar.

Das kommende Jahrhundert wird aber vermutlich von wesentlich dramatischeren Zuwachsraten gekennzeichnet sein. Vorbeugende Massnahmen gegen Krankheiten oder gar deren endgültigen Ausrottung sowie eine Beeinflussung des Alterungsprozesses selbst könnten den Weltdurchschnitt unserer Lebenserwartung von gegenwärtig 66 Jahren auf 110 oder 120 Jahre erhöhen - ein Alter, das Wissenschaftler für die "natürliche Lebensspanne" des Menschen ansehen, weil schon viele so lange leben.

Doch die erhöhte Lebenserwartung hat auch ihren Preis: Während sich die demographische Waagschale mehr und mehr zugunsten der Betagten neigt, sieht sich die Gesellschaft zunehmend kulturell, politisch und wirtschaftlich herausgefordert. Zu den grundlegendsten Fragen, die uns in der Zukunft beschäftigen werden, gehören die folgenden: Wenn der Wohlfahrtsstaat inskünftig zunehmend unter Druck gerät, wird er selbst oder der einzelne Bürger für den finanziellen Unterhalt der Betagten aufkommen? Wird die Überalterung der Gesellschaft zu wirtschaftlicher Stagnation führen? Werden die Betagten eine politisch bedeutende Minderheit bilden und wenn ja, welche Forderungen werden sie stellen? Werden wir angesichts der Verlängerung unserer Zeit auf diesem Planeten auch in der Lage sein, die Lebensqualität aufrecht zu erhalten, oder sind wir dazu verurteilt, unsere späteren Jahre in Krankheit, Gebrechlichkeit und finanzieller Unsicherheit zu verbringen? Wird das jetzt mehrheitlich die Jungen ansprechende kulturelle Angebot inskünftig auch die Betagten mit einbeziehen? Da die Frauen in den meisten industrialisierten Ländern länger leben als die Männer, werden viele der mit dem Alter zusammenhängenden Herausforderungen für sie von ganz besonderer Bedeutung sein.

Das Leben älterer Menschen verbessert sich in vielfältiger Hinsicht. So betrug in den 50er Jahren das durchschnittliche Aufnahmealter in Altersheime 65 Jahre. Heute liegt es schon um die 81 Jahre. Auch steht den älteren Menschen in den industrialisierten Ländern ein grösseres Angebot an Lebenshilfen zur Verfügung. Tageshilfen, Hauspflegedienste oder Hilfe durch Gemeindeschwestern, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Sterblichkeitsraten sinken dank des Erfolges bei der Bekämpfung von Herzkrankheiten und Schlaganfällen

Florierende Geschäfte mit den Betagten

Bisher konzentrierte sich unser Denken stets auf die durch die Betagten verursachten finanzielle Bürde. Indessen vernachlässigte diese Sichtweise einige ganz wesentliche Faktoren, die bis zu einem gewissen Grade das pure Gegenteil vermuten lassen. In den USA beläuft sich die Höhe der Pensionskassenfonds insgesamt auf 2,7 Billionen Dollar. Dieses Geld stellt einen nicht unerheblichen Beitrag an Investitionskapital für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen dar, angefangen bei Strassen bis hin zur Entwicklung von Computer-Software. Alles in allem repräsentieren die Pensionsfonds ein Viertel aller Kapitalanlagen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass ältere Menschen eine bedeutende Konsumentengruppe mit sehr speziellen Bedürfnissen darstellen. Diese Tatsache trägt in Japan etwa ein sich neu entwickelnder Zweig sogenannter "Silber-Industrien" Rechnung. Die betreffenden Unternehmen haben sich auf den Sektoren Liegenschaften, Reisen, Erholung und sonstiger Dienstleistungen auf die Bedürfnisse der über 50jährigen eingestellt. Mehr und mehr pharmazeutische Firmen ergänzen ihre Pflegelinien durch speziell auf die Bedürfnisse der Betagten ausgerichtete Produkte. Und dies nicht von ungefähr, denn obwohl in den industrialisierten Ländern, die über 65jährigen nur rund 15% der Gesamtbevölkerung ausmachen, kosumieren sie doch etwa 30% aller hergestellten pharmazeutischen Produkte.

Im Bemühen der Gesellschaft, den Herausforderungen alternder Bevölkerungsschichten zu begegnen, genügt es nicht mehr, sich auf eine blosse Reorganisation der Dienstleistungen zu beschränken. Vielmehr ist die Art und Weise, wie den Anliegen der älteren Generation entsprochen werden kann, neu zu überdenken. Infolgedessen müssen wir unsere Grundeinstellung hinsichtlich Natur und Charakter des Alterns in Frage stellen, was auch bereits geschieht. Von den 50er Jahren an begann die Gesellschaft in den industrialisierten Ländern das Alter nicht mehr als eine biologisch fixierte Lebensperiode, sondern als einen sich verändernden Lebensvorgang zu begreifen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens hat sich das Selbstwertgefühl der Betagten gewandelt. Sie betrachten sich zunehmend als energiegeladen und fit und sehen gar nicht ein, dass das Leben mit der Pensionierung zu Ende sein soll. Zweitens verfügen die Gerontologen über ein besseres Verständnis hinsichtlich der dem Alter zugrundeliegenden Lebensvorgänge, was wiederum eine Reihe präventiver und therapeutischer Massnahmen ermöglicht.

Sinkende Lebenserwartung in Afrika und im ehemaligen Ostblock

In vielen Teilen der Welt leben die Menschen heute länger als früher. Doch gemäss der demnächst erscheinenden Publikation der Vereinten Nationen World Population Prospects - the 1998 Revision machen mindestens zwei Regionen eine Ausnahme von dieser Entwicklung.

In den meisten afrikanischen Ländern südlich der Sahara grassiert Aids. Die davon am schlimmsten betroffenen Länder sind Südafrika, Botswana, Moçambique, Namibia, Sambia und Simbabwe. Mehr als 10% der dortigen Bevölkerung ist HIV-positiv, also vom Aids-Virus befallen. Das bedeutet, dass die bei der Geburt gegebene Lebenserwartung sinkt - im Zeitraum von 1985 bis 1990 von durchschnittlich 53,4 Jahren auf 47,6 Jahre für die Berechnungsperiode 1995 - 2000. Es wird erwartet, dass sie zwischen 2010 und 2015 gar auf 47,1 Jahre fällt. Aus der Tatsache, dass die Lebenserwartung ohne Aids vergleichsweise bei 54,2, 58 und 63,4 Jahre läge, lässt sich schliessen, dass diese Infektionskrankheit in 25 Jahren einen Rückgang der generellen Lebenserwartung von 16,3 Jahren bewirkt haben wird.

In den Ländern des vormaligen Warschauerpakts nahm die Lebenserwartung insgesamt langsamer zu als anderswo und geht nun sogar zurück. Der Trend begann in den letzten Jahren der kommunistischen Herrschaft und hat sich seitdem beschleunigt - dies hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen (massive Reduktion der Pensionen) und aufgrund der sich zunehmend lockernden Familienbindungen. Die Lebenserwartung in Russland, welche zwischen 1980 und 1985 zunächst von 67,6 auf 69,2 Jahre angestiegen war, fiel 1990 auf 66,5 Jahre und 1995 sogar auf 64,4 Jahre. Sie fällt auch in der Ukraine (von 70,4 Jahre im Jahre 1985 auf 68,8 Jahre im Jahre 1995), in Weissrussland (von 71,3 Jahre auf 69,6) und in Bulgarien (von 71,6 auf 71,2). In Rumänien blieb die Lebenserwartung unverändert bei 69,5 Jahren.

*Robert Butler ist Direktor des International Longevity Centers, New York. Erstveröffentlichung des vorliegenden Textes: UNESCO-Kurier (1999).