“Wir haben unser Versprechen eingelöst”

Entwicklungsarbeit für die Psychiatrie in Bulgarien

Von Theodor Cahn

Seit zwölf Jahren unterhält die Kantonale Psychiatrische Klinik Liestal eine Partnerschaft mit der Psychiatrischen Universitätsklinik der Stadt Varna an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Eine Bilanz.

Lesezeit 4 min.

Die Psychiatrische Universitätsklinik der Stadt Varna ist für die gesamte psychiatrische Versorgung, inklusive Tagesklinik, Ambulanz und Kinderpsychiatrie, einer Region von 600‘000 Einwohnern zuständig. Das ganze Angebot ist am Klinikstandort zentral zusammengefasst.

Das Partnerschaftsprojekt wird im Rahmen der Spitalpartnerschaften mit Osteuropa vom Bund unterstützt und von H+ überwacht. Es ist breit und interdisziplinär angelegt und hat in erster Linie die fachliche und institutionelle Förderung zum Ziel, mit den Hauptthemen: klinische Psychotherapie, psychiatrische Pflege und therapeutisches Klinikmilieu, Klinikorganisation sowie die ambulante Versorgung der Stadt. Materielle Hilfen sind hinzugekommen, denn sie erwiesen sich in der Not des Landes als unerlässlich – zum Beispiel subventionieren wir die Mahlzeiten der Patienten, allerdings unter der Bedingung, dass sie, zu ihrer Aktivierung, von ihnen selber zubereitet werden.
Der intensive Austausch geschieht vier bis sechs Mal im Jahr in gegenseitigen Besuchen von kleinen, gemischten Equipen mit ÄrztInnen, PsychologInnen, Pflegenden, SozialarbeiterInnen: In Varna beteiligen wir uns am Alltag der Klinik, halten Kurse ab, bieten Supervisionen und Beratungen an. Umgekehrt können die Gäste aus Varna bei uns in Liestal unsere therapeutische Haltung und Vorgehensweise direkt kennen lernen. Es haben sich daraus herzliche, freundschaftliche Beziehungen entwickelt, welche das Projekt tragen und sehr bereichernd sind.

Von Solidarität und schnellen Tricks

Als wir 1991 den Kontakt aufnahmen, war uns Bulgarien, wie den meisten Westeuropäern, völlig unbekannt. Es gab in der Psychiatrie keine vergleichbare Partnerschaft. So mussten wir uns voran tasten. Wir wollten solidarische Hilfe bringen, waren neugierig, hatten aber noch keine definierten Vorstellungen oder konkreteren Ziele.

Bulgarien erlitt nach der Wende einen tiefgreifenden geistigen Orientierungsverlust. Der Blick auf die westlichen Welt übte eine unwiderstehliche Anziehung aus und erzeugte die Illusion, den westlichen Lebensstil und Wohlstand rasch erreichen zu können. Unser Erscheinen war daher sehr willkommen und mit idealisierenden Erwartung behaftet. Die bulgarischen Partner erkannten nicht zuletzt den eigenen enormen Rückstand auf dem Gebiet der Psychotherapie - das war unser Einstieg. Sie wünschten, dass wir ihnen auf die Schnelle ein paar Tricks beibrächten, dann wäre ihr Problem erledigt. Unsere Abgrenzung dagegen brachte erst Frustration, war aber unerlässlich um eine langfristige Entwicklungsarbeit zu eröffnen.

Die Lernbereitschaft und das Interesse unserer Partner an unseren Beiträgen haben uns stets motiviert. Die Ausgestaltung des Projektes ist hingegen weitgehend unsere Initiative geblieben. Auch die Patienten erscheinen passiver und duldsamer als in der Schweiz. Die Zurückhaltung unserer Partner entspricht einer kulturellen Schwierigkeit: Die Bulgaren stützen sich traditionell auf Familien- und Klientelsysteme, aber für ein Engagement in Institutionen, das auch konstruktive Kritik beinhaltet, scheinen die mentalen Voraussetzungen eher zu fehlen. Institutionen gegenüber bleibt man passiv - es sei denn, man könne sie ausbeuten. Währenddessen bieten wir aus dem Westen gerade institutionelle Aufbau und Projektarbeit an.
Der Widerspruch verweist auf eine typische - unser Verständnis herausfordernde - Entwicklungshilfesituation. Sie entspringt dem Gefälle zwischen dem "Westen" und dem "ex-sozialistischen Balkan". Bulgarien geriet zudem statt in die Prosperität in eine Dauerkrise. Hilfsbedürftigkeit und -abhängigkeit waren die Folge, was das Gefälle akzentuierte. Nach dem Zusammenbruch des totalitären Staates zerfiel die Gesellschaft und konnte weder minimales Auskommen noch Sicherheit garantieren. Misswirtschaft, Korruption und Mafia machten sich breit, während die wirtschaftliche Produktion absackte, grosse Teile des Volkes verelendeten und die öffentlichen Betriebe nicht mehr zureichend unterhalten wurden. Heute können sich viele Menschen zum Beispiel im Winter keine durchgehende Heizung leisten. Auch in der Klinik fehlt dafür oft das Geld ebenso wie für eine qualitativ ausreichende Ernährung der Patienten.

Reformen: Für Risiken und Nebenwirkungen...

Viel Zeit brauchten hingegen die Reformen. Das überkommene staatlich-zentralistische Gesundheitswesen blieb trotz immer weniger Ressourcen noch über Jahre bestehen. Immerhin wurde so eine gewisse institutionelle Sicherheit und Konstanz gewährleistet. Die Reform erfolgte in chaotischer Weise und auf westlichen Druck erst in den Jahren 2000 und 2001. Unsere Partnerklinik, zuvor unter einheitlicher Leitung des Lehrstuhlinhabers, wurde dabei in drei Chefarztbereiche aufgeteilt, ohne fachliche Rücksichten und Sorge für einen ausreichenden Zusammenhalt der Psychiatrie. Auch konnte nicht ausbleiben, dass sich Elemente von Korruption auch bei unseren Partnern zeigten. Ein typisches Beispiel sind die Medikamentenerprobungen für westliche Pharmafirmen, die für bulgarische Verhältnisse sehr lukrativ sind. Einzelne Klinikärzte erhalten Versuchsleitungen unter intransparenten Bedingungen als Begünstigung zugesprochen. Das hat das Interesse an unserem Projekt beeinträchtigt. Wir mussten unsere Partner mit einigem Druck dazu bringen, einen Teil des eingenommenen Geldes für das Mahlzeiten-Projekt einzusetzen.

In dieser Entwicklung, in welcher sich keine nachhaltige Besserung einstellen will und die Leute einem ständigen Wechsel von Hoffnung und Resignation ausgesetzt sind, hat sich unser Projekt bewähren müssen. Dabei machten wir emotionale Wechselbäder durch, welche die äusserst instabile, oft prekäre Situation unserer Partner und ihrer Patienten spiegelte, die sich fast alle in prekären Lebensverhältnissen durchschlagen müssen. Wir mussten von unserem gewohnten Standards der Projektarbeit trennen und lernten zu improvisieren und mitzuschwimmen, ohne den konzeptionellen Faden zu verlieren; sonst hätten wir wohl rasch resigniert oder den Kontakt verloren. Um uns aufzufangen und zu orientieren, brauchen wir in unserem Team regelmässig Zeit für Austausch, Reflexion und Planung. Den Rahmen dazu bildet die Liestaler Aktivgruppe unter dem Namen "Pro Varna".

Weiterhin in die Hoffnung investieren

Welche Bilanz ist zu ziehen? - Das Versprechen der Solidarität konnten wir einlösen. Unser zuverlässiges, engagiertes und zugleich kritisches Interesse wurde von unseren Partnern wahrgenommen. Sie mussten sich nicht in einem abgelegenen Winkel Europas vergessen fühlen. Das legte den Boden für eine beachtliche Entwicklungsleistung, die allerdings je nach Bereich unterschiedlich weit geführt hat.

Die grössten Fortschritte zeigen sich in der Pflege, die zuvor sehr geringe Geltung hatte. Mit unserem Projekt wurden breites fachliches Interesse und eine praktisch umgesetzte Initiative zur Aktivierung der Patienten geweckt. Die Pflegenden haben Selbstachtung gewonnen und eigenständiges Arbeitsprofil entwickelt. Bei den Ärzten und Psychologen ist das Resultat zwiespältiger. Unsere interdiziplinäre Arbeitsweise löste teilweise Angst um ihren privilegierten Status aus. Doch hat sich eine Gruppe engagierter Ärzte und Psychologen herausgebildet, welche viel psychotherapeutisches Know-how gewonnen haben und jetzt mit ihren Patienten einen psychotherapeutischen Prozess führen können.

Am schwierigsten hat sich der Versuch herausgestellt, die Entwicklung der Klinikstrukturen und der ambulanten psychiatrischen Versorgung zu fördern, die sehr nötig wäre. Unsere Partner haben hier, trotz gemeinsam erarbeiteter Problemsicht, insgesamt wenig übernommen. Diese Arbeit wäre auf der Leitungsebene zu leisten gewesen, jedoch manifestierte sich Widerstand, wo zwangsläufig Führungsaufgaben berührt wurden. Dieser mischte sich mit der erwähnten kulturellen Schwierigkeit einer konsistenten institutionellen Projektarbeit.

Nach der langen Zeit haben wir uns für eine Zäsur entschlossen: In einem Jahr wird das Projekt in der gegenwärtige Form beendet. Allerdings ist das Erreichte noch so gefährdet, dass wir ein Anschlussprojekt in anderer, begrenzter Form planen, um uns auf die Unterstützung derjenigen Bereiche zu konzentrieren, die bereits eine Chance der Nachhaltigkeit erarbeitet haben.

*Dr. med. Theodor Cahn ist Chefarzt an der Kantonalen Psychiatrischen Klinik, Liestal. Kontakt: theodor.cahn@kpd.ch. Informationen zum Verein Pro Varna: p.A. Kantonale Psychiatrische Klinik 4410 Liestal; Homepage der Spitalpartnerschaften: www.hospitaltwinning.ch- siehe den weiteren Beitrag in dieser Bulletinausgabe.