Editorial

Die Hilfswerke sind gefordert...

Von Barbara Schürch

Lesezeit 2 min.

Wie fühlen sich all die erfahrenen und engagierten Katastrophen-ManagerInnen der erprobten Hilfswerke, wenn die Hilfe in Katastrophen immer mehr zu einem technischen Vorgang, der Bereitstellung von Hilfsgütern und der Vermarktung einer scheinbaren Effizienz verkommt? Sie üben sich im Scheinwerferlicht der Medien in der Gratwanderung zwischen überlegtem, dem Kontext und den Bedürfnissen angepassten Handeln und einem auf schnell sichtbare Resultate ausgerichteten Aktivismus. Und wie die vorliegende Ausgabe des Bulletins aufzeigt, fällt ihre Bilanz oft kritisch bis erschütternd aus: Katastrophenhilfe als Katastrophe in der Katastrophe, dem humanitären Desaster folgt das Chaos der Nothilfe, fehlende Koordination, gegenseitiges Abwerben von lokalen Partnern und fähigen Mitarbeitern, viel guter Wille und wenig Professionalität, mangelnde Koordination und Zusammenarbeit, kurzfristige Einsätze ohne mittel- oder Langfristperspektive und nachhaltige Wirkung, Übergehen der vorhandenen lokalen Ressourcen und Verdrängung der lokalen Selbsthilfepotentiale, Vernachlässigung der verwundbarsten Bevölkerungsgruppen etc. etc.

Die Lehren sind längst gezogen und werden immer wieder neu formuliert. Doch wer ist bereit, deren Umsetzung konsequent zu verfolgen?

Was wir spätestens seit der Tsunamikatastrophe wissen, ist, dass die Verlockung stark ist, sich den grossen Geldströmen zuzuneigen und sich ein möglichst grosses Stück der geflossenen Spendegelder zu sichern ...auch für Hilfswerke, die eigentlich nichts mit Nothilfe zu tun haben. Die Katastrophe und die Not der Opfer wird im immer härter werdenden Konkurrenzkampf der Hilfswerke zur möglichen Existenzsicherung der HelferInnen und ihrer Institutionen.

Es ist längst ein Fakt, dass die Präsenz der Medien und weniger die realen Bedürfnisse den Mittelfluss und das Engagement der humanitären Hilfe lenken. Die Jagd nach Rekorden und nach dem Aussergewöhnlichen löst eine eigene Dynamik aus, der sich kaum jemand entziehen kann und will. Die über die Medien unmittelbar erlebbare Not erzeugt Solidarität und die Forderung nach „Hilfe sofort!“ sowie nach der grösstmöglichen Visibilität des eingesetzten Spendenfrankens. Was die tatsächlichen Bedürfnisse der Betroffenen anbelangt und ob die schnelle Hilfe von aussen in jedem Fall das Richtige ist, ist leider oft sekundär.

Es ist die Verantwortung der Hilfswerke, dieses Dilemma zu thematisieren und ihre motivierten und kompetenten MitarbeiterInnen von der Zerreissprobe der sich diametral gegenüberstehenden Ansprüche und Forderungen in einer mediatisierten Katastrophensituation zu entlasten. Es ist ihre Aufgabe, einen Weg zu finden, wie die Aufmerksamkeit auf vergessene Katastrophen und Leiden gelenkt werden kann und wie auch in der Planung und Umsetzung von Nothilfe langfristige Entwicklungs- und Veränderungsprozesse berücksichtigt werden können. Das Wagnis, in der Öffentlichkeit vermeintlich unaufhaltsame Tendenzen in der Katastrophen- und Nothilfe (selbst-)kritisch zu hinterfragen und neue Impulse zu setzen, braucht die Überzeugung, dass die vielen Spender und Spenderinnen die Offenheit für komplexere Botschaften haben und bereit sind, sich zu gedulden, bis ihr Spendenfranken sinnvoll eingesetzt werden kann.

Barbara Schürch ist Geschäftsführerin von IAMANEH Schweiz und Vorstandsmitglied im Netzwerk Medicus Mundi Schweiz