Eine Einführung

Gesundsein und Kranksein als kultureller Prozess

Von Peter Eeuwijk und Brigit Obrist

In einer immer stärker vernetzten und sich immer schneller wandelnden Welt verliert das Verständnis von Kultur als statisches und rückwärtsgewandtes Gebilde an Erklärungskraft. Das Augenmerk richtet sich nun vielmehr auf Kultur als Prozess, in dem soziale Akteure ihre Lebenswelt in Interaktion mit anderen Menschen und unter bestimmten materiellen und immateriellen Lebensbedingungen schaffen. Das individuelle Verständnis von und der Umgang mit Gesundheit und Krankheit sind somit nicht durch eine Herkunftskultur festgelegt, sondern Gesundsein und Kranksein werden in Auseinandersetzung mit einer vielgestaltigen und sich ständig verändernden Umwelt immer wieder neu erlebt und in der alltäglichen Praxis umgesetzt.

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Es ist heutzutage unbestritten, dass Kultur auch in Bezug auf Medizin eine bedeutende Rolle spielt. Doch was meint man mit „Kultur“? Und wie stellt man sich den Zusammenhang von Kultur und Medizin genau vor? Heute versteht man unter „Kultur“ meist viel mehr als „nur“ die „Schönen Künste“ (wie etwa Literatur, Theater oder klassische Musik) oder eine verfeinerte Art zu leben (wie etwa „Esskultur“ oder „Wohnkultur“). Wir denken bei Kultur an die ganze Lebensweise einer Gruppe von Menschen oder, etwas genauer gesagt, an das Wissens-, Glaubens- und Normensystem, das der Lebensweise einer Gesellschaft oder „community“ zugrunde liegt und diese regelt. In dem bekannten Buch „Culture, Health and Illness“ definiert Cecil Helman (1) Kultur als ein Set von Richtlinien, die ein Individuum als Mitglied einer bestimmten Gesellschaft mitbekommt, und die ihm zeigen, wie es die Welt sehen und erfahren soll und wie es sich in seiner Gruppe zu verhalten hat. Kultur beinhaltet die Fähigkeiten und Gewohnheiten, die Menschen als Mitglieder einer Gesellschaft im Rahmen ihres Sozialisationsprozesses, der eigentlichen Enkulturation, erwerben und lernen (2).

Beginn der „Kultur“-Debatte

Dieses bei uns weit verbreitete Verständnis von Kultur hat bereits der Amerikaner Edward B. Tylor (1832-1917) Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert. Er sprach von „dem komplexen Ganzen, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz und Brauch, und viele andere Fähigkeiten und Gewohnheiten einschliesst, die der Mensch sich als Mitglied einer Gesellschaft aneignet.“ (3) Tylor war ein Gründervater der Ethnologie; zusammen mit anderen Kulturwissenschaften hat dieses Fach den Kulturbegriff von Tylor in den folgenden Jahrzehnten erfolgreich popularisiert.
Spätere Ethnologen haben entweder eher das Beobachtbare betont, zum Beispiel Verhaltensmuster, oder das ihm zu Grunde liegende Wissen. Sie alle gingen jedoch von einer holistischen Sichtweise aus und machten es sich zur Aufgabe, die Komplexität einer Kultur als logisch zusammengefügtes Ganzes zu erschliessen. Im Vordergrund des Erkenntnisinteresses stand die Tradition, die der Ethnologe – es waren tatsächlich fast immer Männer – aus dem Sprechen und Handeln im Alltag und im Ritual abstrahierte und als Bild zusammenfügte.

Bis Anfang der 1980er Jahre orientierten sich die meisten Ethnologen an einem Verständnis von Kultur, das Stabilität und Abgrenzung betonte. In ihren wesentlichen Zügen geht diese Vorstellung auf Johann Gottfried Herder (1744-1803) zurück. Herder beschrieb Kulturen als autonome Inseln. Die jeweilige „Kultur“ der Menschen sei demnach deckungsgleich mit der territorialen und sprachlichen Ausdehnung eines Volkes und entspräche einem ethnisch fundierten, homogenen, deutlich bestimm- und abgrenzbaren Gebilde.

Kultur als komplexes Ganzes

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Auffassung von Kultur als ein komplexes Ganzes im Studium kleiner traditioneller Gesellschaften in Ozeanien, Afrika, Asien und Süd- und Zentralamerika vertieft. Seit dem Zweiten Weltkrieg suchten Sozial- und Kulturwissenschaftler auch in modernen Gesellschaften nach „gemeinsamen kulturellen Traditionen“. In den vielen neueren Untersuchungen zu ethnischen Gruppen in einer so genannt multikulturellen Gesellschaft schwingt die Vorstellung von der Existenz kultureller Ganzheit und Homogenität ebenfalls mit. Auf der Basis von Tylor und zugleich als dessen Kritik entwickelte sich dabei das Konzept der „Kultur als System“ heraus, das heisst die Kultur ist als geordnete Ganzheit zu verstehen, deren Einzelteile zusammenhängend ein dynamisches Gleichgewicht bewahren. Mittlerweile gehört dieses Verständnis von „Kultur“ zum gesellschaftlichen Allgemeinwissen und wird auch auf die Medizin übertragen.

Ebenso wie Sprache, Verwandtschaft, Wirtschaft und Religion wurde nun auch „Medizin“ als integraler Teil eines kulturellen und sozialen Systems verstanden (4+5). Der Begriff „Medizin“ umfasst in diesem Verständnis neben den konkreten Strukturen und materiellen Ressourcen bezüglich Krankheitsbehandlung und Gesundheitserhaltung in einer bestimmten Kultur auch Wissen, Erfahrungen, Einstellungen, Wahrnehmungen und Überzeugungen, wobei diese wiederum zu kulturspezifischen Ausprägungen etwa bei Therapie oder Prävention führen (6).

„Traditionelle“ vs. „moderne“ Medizin

Gemäss dieser Auffassung treffen spätestens seit der Kolonialzeit verschiedene Medizinsysteme aufeinander, wobei das Augenmerk vor allem auf die Dichotomie von traditioneller Medizin (als Teil aussereuropäischer Kulturen) und moderner Medizin (sprich europäische Schulmedizin) gerichtet war. „Traditionell“ implizierte eine Orientierung an der Vergangenheit und ein Weitergeben von althergebrachtem Wissen und von überlieferten Verhaltensweisen. Verschiedene Ansätze versuchten diese Dichotomie zu überwinden, indem Teile der traditionellen Medizin in ein modernes Medizinsystem integriert werden sollten.

Heute werden solche Integrationsbemühungen, die ihre legitimierende Grundlage in der Erklärung von Alma Ata (1978) erfuhren und inhaltlich einem klassischen Kulturbegriff entspringen, eher kritisch betrachtet. Denn meist geht es dabei um ein eklektisches Herausnehmen von gewissen Bestandteilen der traditionellen Medizin (etwa von Heilpflanzenteilen oder Behandlungsmethoden), die nur im kulturspezifischen Kontext ihre eigentliche Bedeutung und Wirkung haben. Für die lokale Bevölkerung macht zudem ein von GesundheitsexpertInnen definierter „modern-traditioneller Medizin-Mix“ (etwa die Bildung von HeilerInnen-Vereinigungen innerhalb von PHC-Strukturen) meist wenig Sinn und stellt vielmehr einen Verlust an Handlungsfähigkeit im Sinne einer gelebten Verbindung von medizinischen Vorstellungen und Praktiken dar. Schliesslich wird über den vordergründig gut gemeinten, symmetrischen Integrationsgedanken in der Realität oft ein Verhältnis von Unterordnung, Kontrolle und Manipulation innerhalb von Gesundheitssystemen hergestellt, das in der Marktbeherrschung und Profitmaximierung des stärkeren „Partners“ mündet, etwa durch patentrechtliche Vorteile oder die Unterwerfung unter ein bestimmtes wissenschaftliches Normsystem (Stichwort „Medikalisierung“).

Kultur als Hindernis

Basierend auf den einer linearen Entwicklungslogik verpflichteten Modernisierungstheorien machten viele ExpertInnen die traditionellen Vorstellungen lokaler Gemeinschaften für die Nicht- oder Unternutzung ihrer Gesundheitsdienste verantwortlich und brandmarkten Kultur als Barriere und Verhinderer. Sie nahmen für sich in Anspruch, allein entscheiden zu können, welche kulturellen Konzepte zu Gesundheit und Krankheit integriert und welche verändert – das heisst modernisiert – werden müssen.

Neuere Forschungen, die die Sichtweise der Nutzer respektive der Laien und weniger diejenige der professionellen Anbieter aufnahmen, zeigen jedoch auf, dass „traditionelle“ Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen einem stetigen Wandel unterworfen sind, sich mit Konzepten der Schulmedizin vermischen und so neue, im eigentlichen Sinne „moderne“ Auffassungen von Gesund- und Kranksein entstehen. Zudem werden alltägliche Praktiken im Umgang mit Gesundheit und Krankheit auch durch materielle und immaterielle Lebensbedingungen wie Einkommen, Arbeit und Haushalt, aber auch Zufriedenheit mit der Qualität angebotener Dienstleistungen beeinflusst.

In einer sich rasch globalisierenden Welt steigert sich die kulturelle Komplexität. Dies spiegelt sich auch im Lebensbereich „Medizin“. Beispiele sind etwa Phänomene wie die Attraktivität von Akupunktur der „Traditional Chinese Medicine“ bei HIV-infizierten Personen im urbanen Tansania, die Behandlung von Bluthochdruck von alten Leuten durch indonesische islamische Heiler („tabib“) mittels SMS und Internet oder der einwöchige Aufenthalt von SchweizerInnen in einer Ayurveda Wellnessklinik im ländlichen Sri Lanka. Sie zeugen von immer stärker vernetzten Kulturen und einer zunehmenden kulturellen Dynamik. Die bisher geltenden Grenzen von Raum und Zeit werden mühelos übersprungen und zugleich neue verdichtete heterogene Felder geschaffen, die aber paradoxerweise nicht losgelöst vom lokalen Kontext betrachtet werden dürfen. Besonders deutlich sichtbar wird diese kulturelle Dynamik im Bereich Migration und Gesundheit auch in der Schweiz.

Zu einem dynamischen Verständnis von Kultur

All diese und weitere Erkenntnisse zum aktuellen Umgang mit Gesundheit und Krankheit haben – zusammen mit vielen ähnlichen Erfahrungen in Forschungen zu anderen Lebensbereichen – den klassischen Kulturbegriff in den Sozial- und Kulturwissenschaften immer mehr in Frage gestellt. Das herkömmliche Verständnis von „Kultur“ wird der kulturellen Komplexität des gesellschaftlichen Lebens von heute nicht mehr gerecht, es betont zu stark die statisch-integrierende Dimension und vernachlässigt das Dynamisch-Prozesshafte innerhalb und zwischen sozialen Gruppen.
Im neuen Verständnis stehen Individuen und Gruppen als soziale Akteure im Vordergrund, die in einem fortlaufenden kulturellen Prozess ihre Lebenswelt schaffen und umformen (7). Gemäss dem Leitgedanken dieser theoretischen Ausrichtung konstruiert der Mensch seine Lebenswelt in Interaktion mit anderen Menschen und unter bestimmten materiellen und immateriellen Lebensbedingungen. Das Erkenntnisinteresse der Forscherin und des Forschers richtet sich auf die möglichst getreue Rekonstruktion der Lebenswelt aus der Sicht des Betroffenen bzw. der untersuchten Individuen und Gruppen.

Stellen wir die individuelle Person in den Mittelpunkt und folgen ihr in ihrem Bemühen, gesund zu bleiben bzw. beim Auftreten einer Krankheit wieder gesund zu werden, so stellen wir rasch fest, dass sie nicht blind einem durch ihre kulturelle Herkunft festgelegten Muster folgt. Im Gegenteil, wir sehen, wie sie ihre Lebenswelt konstruiert: Sie setzt sich aktiv mit ihrer körperlichen und/oder emotionalen Erfahrung vor dem Hintergrund der sozialen Felder, in denen sie sich im Alltag bewegt, auseinander, spricht mit ihr nahe stehenden Personen, nimmt professionelle Angebote in Anspruch und baut sich so ihr persönliches Gerüst für den Umgang mit Gesundheit und Krankheit auf. Gesundsein und Kranksein werden somit in ständiger Auseinandersetzung mit einer vielgestaltigen und sich verändernden Umwelt immer wieder neu erlebt und in der alltäglichen Praxis umgesetzt.

*Brigit Obrist, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethnologischen Seminar der Universität Basel und am Schweizerischen Tropeninstitut in Basel, ist in der Lehre tätig und leitet und begleitet verschiedene Projekte im Bereich der Internationalen Gesundheit. Kontakt: brigit.obrist@unibas.ch Peter van Eeuwijk ist freier wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ethnologischen Seminars der Universität Basel, Lehrbeauftragter des Ethnologischen Seminars der Universität Zürich und des Instituts für Völkerkunde der Universität Freiburg i.Br., und in Lehre und Forschung tätig. Er ist Ethnologe (Fachbereich Medizinethnologie), Historiker und Consultant in International Health. Kontakt: peter.vaneeuwijk@unibas.ch

Anmerkungen

  1. Helman Cecil G. 2000. Culture, Health and Illness. 4th Ed. Oxford: Butterworth-Heinemann.
  2. Keesing Roger M. and Strathern Andrew J. 1998. Cultural Anthropology: A Contemporary Perspective. 3rd Ed. Fort Worth: Harcourt Brace College Publishers.
  3. T ylor Edward B. 1871. Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Custom. 2 Vols. London: John Murray. (Übers. d. Autoren)
  4. Kleinman Arthur. 1980. Patients and Healers in the Context of Culture. An Exploration of the Borderland between Anthropology, Medicine and Psychiatry. Berkeley: University of California Press.
  5. Greifeld Katarina (Hg.). 2003. Ritual und Heilung: Eine Einführung in die Medizinethnologie. Berlin: Dieter Reimer.
  6. Sich Dorothea, Diesfeld Hans-Jochen, Deigner Angelika und Habermann Monika (Hg.). 1993. Medizin und Kultur. Eine Propädeutik für Studierende der Medizin und der Ethnologie mit 4 Seminaren in Kulturvergleichender Medizinischer Anthropologie (KMA). Frankfurt a.M.: Peter Lang.
  7. Hannerz Ulf. 1992. Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning. New York: Columbia University Press.