Interview mit Anisa Osman über Frauenbeschneidung

Das Ausmass einer mörderischen Praxis

Von Vreni Gertsch und Heinrich Frei

Viele kleine Mädchen sterben bei der Beschneidung, und Frauen, die diese Operation überleben, haben ihr Leben lang gesundheitliche Probleme – weltweit und auch in der Schweiz. Ein Gespräch mit der somalischen Dolmetscherin Anisa Osman aus Zürich.

Lesezeit 13 min.

Viele Leute aus der Romandie, die am 4. März nach Zürich fahren wollten, blieben an diesem Abend im Schnee stecken und erreichten Zürich erst gegen Mitternacht oder gegen Morgen. Sie verpassten die Diskussionsveranstaltung des Somalischen Kulturvereins über die Frauenbeschneidung und das Konzert des somalischen Sänger Juba aus Kanada. Als erster somalischer Künstler hat Abdukader Omar, genannt Juba, in seinen Liedern Stellung genommen gegen die Verstümmelung der Frauen durch Beschneidungen.

Die somalische Dolmetscherin Anisa Osman aus Zürich, Faduma Korn, eine Somalierin aus München, und die eritreische Ärztin Dr. F. Asefaw diskutierten am 4. März 2006 an einem Podiumsgespräch des Somalischen Kulturvereins im Zürcher Zwinglihaus das Thema Frauenbeschneidung. Frau Dr. Asefaw hat in Deutschland in einer Dissertation das Thema Frauen Beschneidung eingehend untersucht. Sie arbeitet jetzt am Universitätsspital in Zürich. Alle drei Frauen betonten, dass es sehr wichtig ist, dass Frauen aus demselben Herkunftsland mit den Frauen über das Thema Beschneidung sprechen, und dass es auch wichtig ist, dabei die Männer einzubeziehen. Von „genitaler Verstümmelung“ sollte man auf keinen Fall sprechen, sagten sie. Die Frauen fühlten sich nicht als „verstümmelt“, sondern eben als „beschnitten“ was in ihrer Kultur eben dazu gehöre, nicht zuletzt als "Garantie" für die Jungfräulichkeit vor der Ehe.

Die drei Frauen auf dem Podium waren der Meinung, dass es ganz falsch ist, jetzt alles auf das Thema Beschneidung zu fokussieren. Frauen in Ländern Afrikas und des Nahen Ostens, in denen beschnitten wird, hätten noch viele andere Probleme, wie mangelhafte oder gar keine medizinische Versorgung, mangelhafte Ernährung, ja Hunger und oft keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen.

Vielleicht stellen wir uns jetzt „mitleidig, einfühlend“ über die Völker, die ihre Frauen beschneiden lassen. Doch vergessen wir nicht, auch bei uns gibt es noch viel Aberglauben, von der Astrologie bis zum Glauben, es gebe vom Satan besessene Menschen, denen man das Böse mit Gebeten austreiben müsse. Vergessen wir auch nicht, der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden, fand im zivilisierten, christlichen Abendland statt, wie auch die ethnischen Säuberungen in Kroatien, Bosnien, Serbien und im Kosovo vor wenigen Jahren.

Somalierinnen in der Schweiz: Fast alles „vorläufig aufgenommene Flüchtlinge“

Die grösste Frauengruppe, die in der Schweiz von der Beschneidung betroffen ist, sind die Somalierinnen. In der Schweiz leben fast 5'000 Somalierinnen und Somalier. Sie haben fast alle noch den Status der „vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge“, sie leben provisorisch hier, obwohl sie oft schon über 15 Jahre in der Schweiz wohnen und arbeiten.Sie können mit diesem prekären Status jederzeit in ihr Land zurückgeschickt werden. Dies ist auch ein Grund für eine Somalierin ,sich und ihre Töchter beschneiden zu lassen, „da man ja wieder zurück muss“ in ein Land, in dem Beschneidung „normal“ ist.

Vor über dreissig Jahren wurde die Frauenbeschneidung in Somalia unter Siyaad Barre vorübergehend verboten

H. Frei: Frau Osman, ihr Landsmann Bashir Gobdon hat vor zwei Jahren gemeint, punkto Frauenbeschneidung habe sich in Somalia seit den Achtziger Jahren vieles verbessert: Viele Frauen hätten studiert, Schulen besucht und seien sich dieser Frage bewusst geworden. Das Problem seien die Grossmütter. Solange die Grossmütter da seien, hätten die Familien Schwierigkeiten, mit dieser Tradition der Beschneidung zu brechen. Die Beschneidung sei eine uralte kulturelle Tradition, die nichts mit der Religion zu tun habe. Wie sehen Sie diese Frage?

Anisa Osman: Nein, die Antwort ist nicht ganz richtig. Es war in den Siebziger Jahren, so 1973, 74. Damals hat Mobutu Sese-Seko aus Zaire Politiker aus mehreren Ländern zusammengerufen. Sie beschlossen, die Beschneidung von Frauen verbieten zu lassen. Bei dieser Zusammenkunft war auch Siyaad Barre dabei, der frühere Präsident Somalias. Wieder zu Hause, hat er dann in Somalia die Beschneidung verbieten lassen. Es galt jetzt: Jeder der beschneidet, kommt ins Gefängnis. Man kannte ja alle diese Beschneiderinnen. Jedes Dorf hatte eine, und auch in Städten gab es welche. Es waren Frauen, die ihr Handwerk von den Eltern, Grosseltern gelernt oder abgeguckt hatten. Diese Beschneiderinnen haben nach dem Verbot Angst bekommen und haben aufgehört zu beschneiden. Dann haben Scharlatane Beschneidungen gemacht, die sagten: „Wir können dies auch“. Die Beschneidung wurde damals einfach nur verboten, ohne weitere Erklärungen. Und da auch sonst vieles verboten wurde unter dem Regime von Siyaad Barre, hat man dies ihnen nicht mehr abgekauft. Viele Kinder sind in dieser Zeit gestorben, weil die Neuen, die am Beschneiden waren, nicht wussten, was zu beschneiden ist und wie sie nähen sollten. Es war eine Katastrophe. Die Eltern, die Geld hatten, konnten die richtigen Beschneiderinnen trotzdem rufen, sie zahlten mehr und liessen es heimlich machen. Also, das Verbot damals hat nicht geholfen, bis heute wird beschnitten in Somalia.

Unter der Diktatur Siyaad Barres wurde es für Männer und Frauen immer schlimmer

H. Frei: Hat es unter der Diktatur von Siyaad Barre, die bis 1991 dauerte, und der Somalia modernisieren und in einer Art sozialistischen Staat umwandeln wollte, eine Veränderung der Stellung der Frau gegeben?

Anisa Osman: Obwohl ich das Land anfangs der Achtziger Jahre verlassen habe, kann ich dazu sagen, dass es unter der Diktatur von Siyaad Barre immer schlimmer wurde, ob es nun jetzt Frauen oder Männer betrifft. Unter diesem Regime konnten nur enge Verwandte oder Leute die zu seinem Clan gehörten, profitieren, auf jede Art und Weise. Und die anderen hatten sowieso nichts zu melden. Und der Krieg danach hat auch nicht viel gebracht, hat das Land vom Regen in die Traufe geführt.

Eine Somalierin muss nicht beschnitten sein, um eine richtige Muslimin zu sein

H. Frei: Und wie ist die Situation in der Schweiz? Sie informierten uns, dass Sie in der somalischen Frauengruppe in Zürich immer wieder auch das Thema Beschneidung besprechen würden.

Anisa Osman: Die Frauen, die geflüchtet sind, haben hier endlich einmal Kontakt mit anderen muslimischen Frauen. Man spricht auch über dieses Thema, und plötzlich hören sie, dass es viele Frauen gibt, die nicht beschnitten sind. Und dann steht die Frage im Raum: „Warum ist diese Frau Muslimin und trotzdem nicht beschnitten? Ich bin doch als richtige Muslimin beschnitten.“ Und dann kommt die Einsicht, dass man nicht beschnitten sein muss, um eine richtige Muslimin oder ein Muslim zu sein. Und dies bringt die Frauen oft zum Weinen, macht sie traurig. Seit eh und je wurde im Namen Gottes beschnitten. Man hat sie im Glauben gelassen, Allah verlange dies. Je mehr eine Frau beschnitten werde, desto besser sei sie dann im Jenseits gestellt.

Somalische Knaben werden auch beschnitten

H. Frei: Die Männer, die kleinen Buben werden auch beschnitten?

Anisa Osman: Das sowieso. Zum Beispiel ist mein Junge auch beschnitten. Aber nicht aus religiösen Gründen, sondern aus medizinischen, er hatte Verengungen.

H. Frei: Die Somalier hier lassen dies bei den Knaben beim Arzt machen?

Anisa Osman: Ja, die machen es beim Arzt, und sie zahlen es auch selber. Das ist nicht billig, das kostet viel.

H. Frei: Die Krankenkasse zahlt nicht?

Anisa Osman: Nein, die zahlt nicht. Nur wenn dies medizinisch nötig ist, bei einer Verengung zum Beispiel.

Seit 2004 sollen keine Beschneiderinnen mehr in die Schweiz gekommen sein

H. Frei: Gewisse Ärzte sollen Frauenbeschneidungen hier auch machen? Oder sie kommen in die Schweiz?

Anisa Osman: Nein Ärzte nicht, also in der Schweiz habe ich davon nichts gehört. Es kommen eben Beschneiderinnen, und es wird heimlich gemacht. Es wird jetzt aber immer heikler, und es wird jetzt immer teurer. Ich habe jetzt jedoch von verschiedener Seite gehört, dass sich seit Ende 2004 keine Beschneiderinnen mehr getraut haben, in die Schweiz zu kommen. Das ist aber nicht der Fortschritt, den ich mir gewünscht habe. Die Frauen müssten verstehen, warum Mädchen nicht beschnitten werden sollten, nicht einfach dies nicht machen, weil es zu teuer geworden ist, weil die Beschneiderin mehr verlangt. Die meisten Beschneiderinnen verlangen, dass sie es nur bei Säuglingen machen können, sie wollen andere Kinder nicht anfassen. Ich weiss nicht weshalb.

H. Frei: Der Fortschritt wäre, wenn die Frauen es verstehen würden...

Anisa Osman: Genau.

War Fatima, die Tochter des Propheten Mohammed beschnitten?

V. Gertsch: „Verstehen, warum das so wichtig wäre, diese Beschneidungen nicht mehr machen zu lassen“. Das hängt dann schon mit der Religion zusammen, zum Beispiel, dass die Töchter des Propheten Mohammeds nicht beschnitten waren.

Anisa Osman: Das ist dann aber schwierig. Die Töchter von Mohammed wurden ja nie ausgegraben, es wurde ja nie nachgewiesen, dass sie nicht beschnitten wurden. Das machte Somalierinnen wütend, als ich ihnen erzählte, Fatima, die Tochter Mohammeds, sei auch nicht beschnitten worden. Sie wurden sehr laut und sagten mir: „Was fällt Dir eigentlich ein, bist Du dabei gewesen, fängst Du jetzt auch an, wie die Weissen zu denken?“ Das ist nicht gut angekommen, Sie haben mich gefragt: „Woher hast Du das?“ Besser ist man würde fragen: „Seid ihr sicher, dass die Tochter Mohammeds, Fatima, auch beschnitten wurde?“

V. Gertsch: Mohammed hat ja nach dem Koran gesagt, der Mensch, der Körper des Menschen sei heilig und er solle unversehrt bleiben. Bei einer Beschneidung wird eine Frau jedoch versehrt.

Anisa Osman: Ja, der Mann ja auch.

V. Gertsch: Aber dies ist überhaupt nicht zu vergleichen.

Anisa Osman: Ich weiss, aber trotzdem, ich weiss sehr gut was Du meinst, aber dann dürfte der Mann ja auch nicht beschnitten werden.

Beschneidung: ganzes Leben Probleme, Schwierigkeiten

V. Gertsch: Es ist ein wenig Glatteis, überhaupt da in die Details zu gehen. Tatsache ist, dass wir Mädchen etwas antun, dass wir ihnen für ihr ganzes Leben Probleme, Schwierigkeiten bereiten. Wer büsst nachher für das Kind, das verstümmelt wurde? Wen kann man zur Rechenschaft ziehen für den Tod des Kindes? Es gibt so viele die nach der Beschneidung sterben. Das ist ja Mord!

Anisa Osman: Natürlich ist das Mord. Aber es gibt noch Schlimmeres. Wenn zum Beispiel eine Frau schwanger wird, total zugenäht ist und das Kind liegt quer im Bauch. Hier würde man das Kind drehen. Aber bei uns sagt man, die Frau habe irgendetwas Böses getan hat und deshalb müsse sie nun sterben, und umso mehr sie jetzt während dieser Leidenszeit schreie, desto besser komme sie weg im Jenseits. Das geht möglicherweise fünf Tage, bis die Frau stirbt, man schaut zu. Das ist doch pervers.

Es piekst den Mann: Die Frau ist mit dem Teufel verheiratet

Anisa Osman: Es gibt noch Tabuthemen die ich ansprechen möchte, die noch in keinen Büchern erwähnt wurden. Zum Beispiel: Es kommt vor, dass bei Beschneidungen Kaktusstacheln für das Zusammenheften benutzt werden. Dabei kommt es oft vor, dass ein Stachel einwächst. Ist die Frau nun verheiratet, spürt der Mann beim Geschlechtsverkehr den Stachel, es piekst ihn, es bereitet ihm Schmerzen. Ein alter Aberglaube besagt nun, die Frau sei mit dem Teufel verheiratet, deshalb habe der Mann Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Falls die Frau später einen anderen Ehemann heiratet und er beklagt sich auch wieder über Schmerzen bei der Sexualität, wird die Frau weggebracht an einen Ort, wo ihr angeblich den Teufel ausgetrieben wird. Tatsächlich kommt sie aber nie wieder zurück.

Im Norden Somalias lassen sie die Frauen vor der Hochzeitsnacht öffnen

H. Frei: Was meinen die somalischen Männer zu der Beschneidung, es wird ihnen sicher bei der Sexualität Probleme bereiten, die müssten ja dagegen sein?

Anisa Osman: Im Norden waren sie immer clever, sie waren frauenfreundlicher. Die Familie des Mannes geht das Mädchen vor der Heirat anschauen. Sie lassen kontrollieren, ob das Mädchen noch Jungfrau ist und wenn dies bestätigt ist, gehen sie zum Arzt oder zur Hebamme und lassen die Braut aufschneiden. Aber im Süden wird mit Gewalt geöffnet und es musste innerhalb der ersten Nacht passieren. Und dann haben wir diese Angewohnheit, dass die Brautfamilie an diesem Abend auch in dem Haus der Braut anwesend ist, damit sie die Bestätigung bekommen, dass sie eine Jungfrau geliefert haben. Manchmal sogar, wenn dann das Blut (der Entjungferung) nach der Hochzeitsnacht nicht zu sehen ist, wehrt sich die Familie der Braut und sagt, der Mann sei eben kein richtiger Mann. Das kann dann eine lange Diskussion geben. Man kann sich vorstellen, was für ein Kampf in dieser Nacht stattfindet, denn der Mann wird ja auch verletzt.

Beschneidung damit Frau Frau und Mann Mann bleibt und um Frauen lustlos zu machen

V. Gertsch: Dass Menschen sich so quälen für so was. Woher kommt das?

Anisa Osman: Auf der einen Seite wird gesagt, diese Tradition komme aus der Pharaonischen Zeit. Man habe gedacht, die Klitoris der Frau sei ein männlicher Teil einer Frau, und der müsse weg. Und die Vorhaut des Mannes sei der weibliche Teil beim Mann. Also, dass Frau Frau bleibt und Mann Mann, müssten die Frau und der Mann diese Teile abgeben.

V. Gertsch: Es ist eigentlich viel einfacher, aber das ist in meinem Kopf, aber ich bin nicht sicher. Sie hatten einfach die Frau, die Sklavinnen und dann hatten sie noch ihre Edelfrauen, Edelnutten.

Anisa Osman: Das auf alle Fälle.

V. Gertsch: Und mit denen hatten sie dann das Vergnügen und die waren intakt.

Anisa Osman: Nein, es war niemand intakt. Weisst du, wenn man erreichen möchte, dass diese Jungfrau, diese Frau lustlos wird und dass es so bleibt, kann das dann auch verkehrt heraus kommen, dass sie dann einfach aus Trotz oder auch psychischen oder aus welchen Gründen auch immer mehr Gefühle entwickelt. Denn wir haben auch beschnittene Huren. Aber wie sie dies machen, weiss ich nicht. Vor 1973, 75, als das Gesetz, das Beschneidungen verbietet, das Mobutu angeregt hatte, verabschiedet wurde, hatte man systematisch alle beschnitten. Es gab dann ein Jahr, während dem viele wirklich Angst hatten, da sie mit Gefängnisstrafen bedroht wurden. Damals gab es vielleicht ein bisschen Ruhe. Aber dann hat man weiter beschnitten.

V. Gertsch: Irgendetwas muss da sein, dass die Menschen, dass die Frauen leiden, sie müssen bei jeder Geburt derart Angst haben, dass sie das Kind verlieren. Was ist das? Warum müssen diese Qualen sein? Das man da näher bei Gott ist, einen besseren Platz im Himmel hat?

Eifersüchtige Männer lassen die Frau zunähen

Anisa Osman: Nein, dem Kind wird erklärt, es gehe um die Reinheit. Ich glaube, wir wissen alle irgendwo, dass Gott die Beschneidung nicht verlangt hat, er wollte dies nicht. Sonst hätte er diese Stücke behalten können, er hätte sie bei uns nicht einpflanzen zu brauchen. Aber es gibt leider diese Existenzangst, diese Unterdrückung im Finanziellen, diese Abhängigkeit der Frauen, die es dann zu dieser Sklaverei macht. Ältere Männer, die junge Frauen haben, lassen ihre Frau noch einmal zunähen, wenn sie verreisen, weil sie Angst haben, sie würde es mit einem anderen Mann treiben, wenn er weg ist. Es gibt auch Frauen, die sich selber zunähen lassen, nach dem sie drei, vier Kinder geboren haben und ihr Mann eine weitere Frau nimmt. Sie gehen davon aus, durch die Verengung würden sie für den Mann wieder attraktiver.

Anisa Osman erlebte, wie eine Frau gesteinigt wurde

H. Frei: Ist die Scharia, das islamische fundamentalistische Recht auch aktuell in Somalia? Dieben Hände abhaken, Frauen steinigen, die die Ehe brechen usw.?

Anisa Osman: Ja, ja. Ich möchte zu dem Islam nicht viel sagen, weil ich selber Muslimin bin und ich auch zu dieser Gesellschaft gehöre, aber was ich 1994 selber mit meinen Augen gesehen habe, übersteigt das menschliche Fassungsvermögen. Ich habe selber gesehen, wie eine Frau gesteinigt wurde, in einem Dorf. Und als ich fragte, warum man diese arme Frau steinige, kam heraus, dass da bloss Vermutungen waren, nicht mal Beweise. Die Frau arbeitete bei den UNO-Blauhelmen aus Botswana, die dort stationiert waren. Die gesteinigte Frau gehörte zu den Bantuleuten, zu den negroiden Somalier. Die Frau hatte acht Kinder zu füttern, ohne Mann. Der war vorher gestorben. Man ging davon aus, dass sie sich dort bei den Blauhelmen prostituierte. Später fand man heraus, dass sie nur nach der normalen Arbeit - sie wusch für die Truppe - noch zusätzlich die private Wäsche von Soldaten gewaschen hatte, damit sie ein bisschen mehr Geld bekommt.

Der Islam sagt, bevor eine Frau wegen Ehebruch gesteinigt wird, müssen drei Personen den Ehebruch bestätigen, und alle diese drei Zeugen müssen Männer sein, müssen es selber gesehen haben. Man hat damals, als dies formuliert wurde, Frauen ausgeschlossen, weil man davon ausgegangen ist, sie könnten aus Eifersucht etwas behaupten.

Ich fragte mich, wie kamen diese Leute dazu, sich das Recht zu nehmen diese Frau zu steinigen, acht Kinder ohne Mutter zu lassen, denen der Vater schon lange gestorben war? Afrika ist im Kriegszustand. Und niemand will solche Kinder. Denn jedes Kind ist eine Last. Es ist mir sehr nahe gegangen.

V. Gertsch: Du hast es sogar mitgekriegt.

Anisa Osman: Ich habe es miterlebt. Als ich sagen wollte, stoppt dies, sagte mein Vater: „Spinnst Du, fahren wir weiter.“ Wir waren in einem Sammelbus. Die Frau ist dann gestorben. Dies ist kein schöner Tod. Es ist besser, erschossen zu werden.

V. Gertsch: Es ist ja häufig so. Wenn eine Frau vergewaltigt wird und sie kann es beweisen, muss sie trotzdem gesteinigt werden. Das haben wir ja letztes Jahr in Nigeria gehabt. Da konnte man etwas durch weltweite Proteste machen. Auch wenn eine Frau mit einem Mann gesehen wird, muss sie ihn heiraten, auch wenn gar nichts war.

Anisa Osman: Das alles ist nicht im Koran festgeschrieben. Es sind Sitten.

V. Gertsch: Jetzt sind in Mogadischu Kämpfe.

Anisa Osman: Weisst Du wer, jetzt dort kämpft? Der Stamm meines Sohnes und mein Stamm kämpfen gegeneinander. Wir gehören nicht dem gleichen Stamm an. Stell Dir mal vor: Wenn ich jetzt in Somalia leben würde und mein Sohn gross genug wäre, müsste er eigentlich gegen meine Verwandten kämpfen. Es ist so traurig. Ich würde sehr gerne in Somalia etwas unternehmen, aber irgendwie ist es nicht so einfach. Es wäre schön, wenn man Frauenhäuser eröffnen könnte, wo die Frauen das Recht hätten, nein zu sagen.

Wenn der Mann stirbt, muss der Bruder des Mannes geheiratet werden

H. Frei: Sie haben auch noch erwähnt, dass, wenn der Mann gestorben ist, müsse eine Frau in Somalia den Bruder des Mannes heiraten, auch wenn sie es nicht will.

V. Gertsch: Ein alter Brauch, das war früher bei den Indianern auch so, es ging um das Überleben.

Anisa Osman: Ja, da fragt niemand. Die Somalier gehen davon aus, dass die Kinder der Frau in einen feindlichen Stamm einheiraten könnten und dann dort unter diesem Einfluss leben müssten. Um dies zu verhindern, ist es vorausbestimmt, dass Du den Bruder des Mannes heiraten musst.

V. Gertsch: Aber ich denke, die Leute akzeptieren dies. Es ist für sie nicht etwas Schlimmes. Wenn der Schwager ein netter Mann ist, dann wird sie mit den anderen Frauen auskommen. Wenn man weiss, vier Frauen dürfen sie heiraten, dann arrangiert man sich mit seinen vier Frauen, sie sind nicht Rivalinnen.

Anisa Osman: Nein. Rivalinnen schon. Aber auf der einen Seite musst Du sehen, diese Frau, ich rede jetzt mal vom Normalzustand. Ein Mädchen wartet ja ab, bis der Vater einen Mann für sie findet. Wenn der Mann kommt, ob alt oder jung, entscheidet sie nicht. Sie sieht ihn nur einmal, und zwar von weitem oder durch den Türspalt. Und dann wirst Du mit dem verheiratet. Du weisst nicht, wie er redet, was er isst, was für einen Geruch er hat. Es kann so nicht gut gehen, manchmal beträgt der Altersunterschied vierzig Jahre. Dann bist du froh, wenn er eine Zweite heiratet. Damit hast Du dann eine Nacht Ruhe. Und bei der Dritten wird es noch beruhigender für, bei der Vierten ist totale Ruhe.

*Heinrich Frei und Vreni Gertsch sind Vorstandsmitglieder des "Förderverein Neue Wege in Somalia, gegründet von Vre Karrer". Beide waren Bekannte von Vre Karrer und lasen und hörten immer wieder bis zu ihrem Tod vor vier Jahren ihre Berichte aus Somalia. Durch Bashir Gobdon, ebenfalls im Vorstand des Fördervereins, haben sie Anisa Osman kennengelernt und dann bei ihr zu Hause das Interview gemacht. Besonders Vreni Gertsch hat das Problem Frauenbeschneidung schon vorher sehr stark beschäftigt. Sie hat sich in dieser Angelegenheit sogar mit dem Arzt Dr. Hersi in Merka in Verbindung gesetzt. Dr. Hersi arbeitete bis vor kurzem teilzeitlich im Ambulatorium des Vereins in Merka. Kontakt: heinrich-frei@bluewin.ch – Dieser Beitrag wird nur in der online-Ausgabe des Bulletins publiziert.

Hinweise auf Bücher- und weitere Informationsquellen

  • Elisabeth Bäschlin (Herausgeberin) „Und grüsse euch mit dem Lied des Regenvogels, Vre Karrer Briefe aus Somalia“, eFeF Verlag. Die Hebamme und Lehrerin für Krankenpflege Vre Karrer war in Somalia während Jahren mit den schrecklichen Folgen der Beschneidung von Mädchen Frauen konfrontiert. Sie war seit 1993 in Somalia tätig. Im Februar 2002 wurde sie von unbekannten Tätern in Merka ermordet. Die Arbeit von Vre Karrrer wird auch vier Jahre nach ihrem Tod fortgesetzt. In Merka betreibt der „Förderverein Neue Wege in Somalia, gegründet von Vre Karrer“ unter anderem eine Primarschule mit 120 Schülerinnen und Schülern, eine Sekundarschule mit 200 Schülerinnen und Schülern und ein medizinisches Ambulatorium. Informationen des „Fördervereins Neue Wege in Somalia, gegründet von Vre Karrer“: www.nw-merka.ch
  • Fadumo Korn, Geboren im grossen Regen, Rowohlt Taschenbuch Verlag
  • Ayaan Hirsi Ali, „Ich klage an, Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen“, Piper Verlag
  • Waris Dirie, „Wüstenblume“, „Nomadentochter“ und „Schmerzenskinder“ Ullstein Bücher (www.waris-dirie-foundation.com)
  • Weitere Infos: www.unicef.ch