Spezifische Beratungsangebote zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit von MigrantInnen in der Schweiz

Ein Gespräch unter Frauen...

Von Christa Spycher

MigrantInnen sollen in der Schweiz Beratungsangebote zu sexueller und reproduktiver Gesundheit genauso nutzen können wie die übrige Bevölkerung. Eine wichtige Voraussetzung dafür: das Einbeziehen von MediatorInnen respektive ÜbersetzerInnen.

Lesezeit 4 min.

Erinnerung an den Alltag in einer Familienplanungsstelle: Manchmal waren wir auf Tage und Wochen hinaus ausgebucht, Vietnamesinnen, Kurdinnen, Tamilinnen, Albanerinnen, und dann auch wieder Schweizerinnen. Sie kamen allein, mit ihrem Partner, mit einem, zwei Kindern am Rockzipfel, zumeist ziemlich bedrückt, verängstigt sogar, und viele zogen etwas erleichterter wieder von dannen.

Das Zentrum für Familienplanung, Verhütung und Schwangerschaftskonfliktberatung Bern funktioniert seit über zwanzig Jahren als kleines, in flacher Hierarchie organisiertes multidisziplinäres Team von Ärztinnen sowie Sexual- und Sozialberaterinnen; es ist direkt der Leitung der Universitätsfrauenklinik unterstellt. Das professionelle Angebot soll niederschwellig und entsprechend auch für marginalisierte Bevölkerungsschichten offen sein. Dazu gehören auch die AusländerInnen. Unter ihnen sind vor allem Asyl suchende Frauen und Paare und MigrantInnen, die noch kaum integriert sind, besonders gesundheitlich gefährdet.

Von Anfang an wurde deshalb im Familienplanungszentrum in vielen Sprachen beraten, Info-Material bereit gestellt, und für Sprachen, die wir nicht selber beherrschten, wurden und werden Übersetzerinnen hinzugezogen. Wir sind überzeugt, dass in heiklen Themen wie Sexualität oder Schwangerschaftskonflikt ein wichtiger Teil der Beratung von Frau zu Frau statt finden sollte und auch die Übersetzung, falls notwendig, durch eine Frau erfolgen muss. Erst in einem weiteren Schritt ist das Gespräch zu öffnen und der Partner einzubeziehen. Wir machten mit diesem Setting sehr gute Erfahrungen, was sich in Evaluationen auch objektivieren liess.

Wo fanden wir unsere Übersetzerinnen? - In den Gemeinschaften der zahlenmässig wichtigsten Migrantinnengruppen. Fast immer lassen sich interessierte Frauen finden, die nicht nur als sprachliche Übersetzerinnen, sondern auch als kulturelle Vermittlerinnen eingesetzt werden können. Natürlich braucht es Zeit und Vertrauen von beiden Seiten, bis effizient zusammengearbeitet werden kann. Die Familienplanerin bringt ihr Fachwissen ein und die Übersetzerin die Spezifitäten ihres kulturellen Hintergrunds, und so hatten wir mit den Jahren in allen wichtigsten Migrantinnengruppen geübte Kulturmittlerinnen / Übersetzerinnen, die wir gegen Bezahlung zu unseren Klientinnen aufbieten konnten.

Wichtige Erfahrungen, wie MigrantInnen gut und effizient beraten werden können, machen auch andere Zentren in der Schweiz, und diese best practices gilt es zu kapitalisieren. PLANeS (1) als Dachorganisation der Fachverbände von FamilienplanerInnen und SexualpädagogInnen, unterstützt Weiterbildung gerade auch im Bereich transkultureller Kompetenz. BeraterInnen, aber auch ÄrztInnen und Hebammen sollen fähig sein, die MigrantInnen in ihrer individuellen Lebenswelt, in der besonderen Situation und in jeweiligen unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechend angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten (2).

Das Beratungssetting

Die Zusammenarbeit zwischen Beraterin und Übersetzerin will gelernt sein. „Übung macht den Meister“ ist das eine, aber die Beachtung einiger Grundsätze ist unabdingbar.

In einem Vorgespräch zwischen Beraterin und Übersetzerin werden Inhalt und Ziel der Konsultation kurz besprochen, die Modalität der Gesprächsabwicklung wird vereinbart, auf die professionelle Geheimhaltungspflicht wird hingewiesen. Es muss klar sein, dass die Führung und Verantwortung des ganzen Gesprächs bei der Beraterin liegt.

Im Gespräch selbst werden als erstes Klientin und Übersetzerin einander vorgestellt, es wird begründet, weshalb die Beraterin diese dritte Person dazu bestellt hat, und es erfolgt erneut der wichtige Hinweis auf das Berufsgeheimnis. Wichtig ist die geeignete Sitzanordnung und das Herstellen eines Augenkontakts zur Klientin. Einige gesprächstechnische Besonderheiten: Die Beraterin spricht zu und mit der Klientin, nicht zur Übersetzerin; das Gespräch besteht aus einfachen und kurzen Sätzen, mit häufigen Unterbrüchen für die Übersetzung; bei Unsicherheit werden Kontroll¬fragen gestellt. Das Gespräch, vor allem auch die Körpersprache zwischen Übersetzerin und Klientin, wird gut beobachtet. Allfällige Affekte wie langes Schweigen, Weinen, Wut haben ihren Platz wie in jedem andern Beratungsge¬spräch und sind eventuell anzusprechen. Je grösser das Verständigungsproblem, desto undifferenzierter und direktiver, bevormundender droht unsere Beratung zu werden. Dieses Risiko sollte man als Beraterin stets gegenwärtig haben.

Im Nachgespräch, für das genügend Zeit vorzusehen sich lohnt, ist die Möglichkeit gegeben, die Übersetzerin nach wichtigen Beobachtungen und Schwierigkeiten zu fragen. Es war jeweils in diesen paar Minuten, in denen wir in den vergangenen Jahren am meisten lernen konnten über transkulturelle Ansätze und Überlegungen. Was konnte die Übersetzerin kaum oder nicht übersetzen? Wo hätte sie gerne mehr gefragt? Welches Hintergrundwissen ist zusätzlich für uns von Bedeutung? Menschen in der Migration tendieren dazu, im neuen, unbekannten Umfeld vorerst am Herkömmlichen, Bekannten, Tradierten festzuhalten, sie sind zumindest am Anfang oft konservativer als in ihrem Herkunftsland (3). Bei sehr konfliktreichen oder belastenden Beratungen kann es wichtig werden, die Übersetzerin in ihrer eigenen Betroffenheit zu unterstützen und wenn möglich, zu entlasten.

Machen Sparzwänge die Errungenschaften zunichte?

Im „Terrain“, das heisst in den Familienplanungs-, den Schwangerschaftsberatungsstellen, ist heute viel Wissen, Erfahrung und Disponibilität vorhanden, kompetent und differenziert auf Migrantinnen einzugehen. Nichtregierungsorganisationen haben die Ausbildung von kulturel¬len Übersetzerinnen an die Hand genommen, und an Fachhochschulen ist die Aus- und Weiterbildung von Sexualberaterinnen institutionalisiert. Das Bundesamt für Gesundheit hat, nach breit abgestützten Abklärungen, im Jahr 2002 ein Dokument zum Thema „Migration und Gesundheit – strategische Ausrichtung des Bundes 2002-2006“ (4) herausgegeben, welches dem professionellen Beratungsgespräch unter Beizug von Übersetzerinnen und Kulturmittlerinnen auf allen Stufen grosses Gewicht beimisst.

Kompetent und differenziert auf Migrantinnen einzugehen, braucht genügend, bei den ersten Begegnungen sogar überdurchschnittlich viel Zeit. Die stetig steigenden Gesundheitskosten und die damit einhergehenden Sparanstrengungen drohen gerade auch im Beratungsbereich wichtige Errungenschaften zunichte zu machen, indem immer mehr Leistung in immer weniger Zeit zu erbringen ist. Allzu strikte zeitliche Beratungsnormen sind bei Migrantinnen auch kostenmässig kontraproduktiv. Die Beraterin, die Hebamme, die Pflegende sieht, wann und wo sie sich für eine Klientin respektive Patientin mehr Zeit nehmen muss, um sie in ihrem psychosozialen Kontext angemessen verstehen und unterstützen zu können. Und dieser nötige Spielraum muss ihr erhalten bleiben.

Zu den Eigenheiten der Migrantinnenberatung gehört auch, dass die Zugewanderten immer wieder auf bestehende institutionelle Angebote hingewiesen und die Frauen dort kontaktiert werden müssen, wo sie sich aufhalten, so etwa in Deutschkursen oder Aufnahmezentren. Dazu braucht es Kreativität und Flexibilität, und Vernetzung ist ein Muss. Die Rahmenbedingungen dafür müssen zwingend noch verbessert werden. Aber ich bin persönlich überzeugt, dass dies möglich ist und sich längerfristig in jeder Beziehung lohnen wird.

* Christa Spycher, Ärztin, Präsidentin von PLANeS, langjährige Leiterin des Zentrums für Familienplanung der Frauenklinik Bern, arbeitete viele Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Kontakt: christa.spycher@freesurf.ch

Anmerkungen

  1. PLANeS, die Schweizerische Vereinigung für Sexuelle und Reproduktive Gesundheit, ist Mitgliedorganisation der International Planned Parenthood Federation IPPF. Wegweiser zu den einzelnen Antikonzeptionsmethoden in zehn verschiedenen Sprachen finden sich auf www.plan-s.ch oder können als CD bei info@plan-s.ch bestellt werden.
  2. Domenig D. Hrg: Professionelle transkulturelle Pflege. Bern 2001
  3. Weiss R. Hrg: Macht Migration krank? Eine transdisziplinäre Analyse der Gesundheit von Migrantinnen und Migranten, Zürich 2003
  4. Migration und Gesundheit – strategische Ausrichtung des Bundes 2002 – 2006, BAG 2002