Migration und Lebensweg

Italienische Luft im Altersheim

Von Ursula Steiner-König

Jede fünfte Person, der wir in unserem Land begegnen, ist ausländischer Herkunft, und all diese „fremden Menschen“ stammen aus weit über fünfzig Nationen. Darunter sind viele ehemalige „Gastarbeiter“ – und deren Familien. Hatten die Gastarbeitenden der Fünfziger- und Sechzigerjahre ursprünglich geplant, nach Abschluss ihrer Erwerbstätigkeit in ihre Heimat zurück zu kehren, entwickelte sich ihr Lebensweg dann doch wesentlich anders: Ihre hier geborenen Kinder haben nicht mehr dieselbe Beziehung zum Herkunftsort ihrer Eltern, fühlen sich den Schweizern viel näher, gründen hier ihre Familien. Und dann sollten die Grosseltern wegziehen?

Lesezeit 5 min.

Im Jahr 2002 fand in Madrid die UNO-Alterskonferenz statt. Dazu hat die Schweiz einen nationalen Bericht erstellt, der in sieben Kapiteln die Bereiche mit den grössten Herausforderungen für die Alterspolitik behandelt hat. Kapitel 5 trägt den Titel „Bleiben oder zurückgehen? Migrantinnen und Migranten im Alter“.

Die erste Generation der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in die Schweiz eingereisten „Gastarbeiter“ ist mittlerweile ins Rentneralter eingetreten, und der Trend hält an: Das Bundesamt für Statistik rechnet mit einer Zunahme der pensionierten Migrantinnen und Migranten von 63'000 im Jahr 1995 auf fast das Doppelte im Jahr 2020.

Waren es anfänglich hauptsächlich Menschen aus Italien, Spanien und Portugal, kommen immer mehr aus der Türkei, Sri Lanka, Ex-Jugoslawien und weiteren Ländern dazu. Solange sie gesund sind, funktioniert ihre Integration in Familie und Verwandtschaft meist gut – denn auch diese ist zumindest teilweise in der Schweiz niedergelassen. Aber Konflikte bleiben nicht aus, sei es infolge von Erkrankungen oder zunehmender kultureller Differenzen zwischen den Generationen.

Krankheit, Heimweh, Entfremdung

Zur materiellen Sicherheit älterer Menschen gehört nicht nur die finanzielle Altersvorsorge, sondern auch die Verfügbarkeit spezifischer Dienstleistungen. Da die Eingewanderten der früheren Jahrzehnte häufig Schwerstarbeit verrichteten, stellten sich hier auch frühzeitige Abnützungserscheinungen, Invalidisierung oder Frühpensionierung ein, nicht selten mit wenig materieller Absicherung. Zudem sind Ihnen häufig, trotz langjährigen Aufenthaltes in der Schweiz, altersbezogene Dienstleistungen kaum bekannt, oder diese werden aufgrund von Sprachbarrieren und religiöser und kultureller Zugangsbarrieren kaum genutzt.

Es ist ebenfalls zu bedenken, dass im Falle einer Erkrankung - oder eines Arbeitsunfalls - das Erleben dieser Erkrankung für die betroffene Person wichtiger ist als die medizinische Diagnose. Es ist darauf zu achten, wie dieser Mensch das, was ihm geschieht, interpretiert, was Unfall oder Krankheit in seinem Kulturkreis bedeuten. Krank werden heisst immer auch verstärkte Rückbesinnung auf Heimatliches, und gerade dieses wird dann oft vermisst.

Psychische Reaktionen und Erkrankungen gehören daher oft zu den gesundheitlichen Problemen der alternden Migrationsbevölkerung. Da deren Nachkommen diese Art Heimweh meist schlecht nachvollziehen können, wird Vereinsamung – speziell nach Verlust des einen Ehepartners – ein Thema. Weiter wirkt sich der oft niedrige Ausbildungsstand ungünstig aus: Die eigenen Ressourcen zur Verarbeitung von Verlusten und – nicht selten – eine gewisse Armut infolge niedriger Alters- oder Invalidenrenten reichen nicht aus, um mit der Lage fertig zu werden. Die frühe Verrentung der Eltern birgt die Gefahr, dass die jüngere Generation auf Distanz geht, sich lieber den eigenen Lebensplänen und Vergnügungen zuwendet, statt die alten Angehörigen zu unterstützen oder gar deren Altersbetreuung vorzunehmen. Weil sie, kulturbedingt, in den Augen ihrer Eltern aber eigentlich dazu verpflichtet wären, kommen ein schlechtes Gewissen und damit eine weitere Entfremdung hinzu.

Nationales Forum Alter und Migration

Schätzungsweise ein Drittel der hier arbeitenden Migrationsbevölkerung kehrt tatsächlich ins Heimatland zurück. Ein weiteres Drittel pendelt hin und her, und das letzte Drittel bleibt in der Schweiz. Es muss daher das Ziel einer nationalen Alterspolitik werden, die Situation älterer Migrantinnen und Migranten zu verbessern. Dazu gehören Revisionen ausländer- und sozialrechtlicher Bestimmungen, eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Institutionen der Altersarbeit, Beratungsstellen für AusländerInnen, Hilfswerken und Organisationen von Migranten und Migrantinnen.

Um dieses Ziel zu erreichen, erfolgte 1999 erstmals eine Tagung zum Thema „Alter und Migration“, initiiert durch Pro Senectute und die Eidgenössische Ausländer-Kommission EKA, unterstützt vom Migros-Kulturprozent. Seither besteht eine mehrsprachige Homepage mit Informationen für unsere ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner. Im April 2003 kam es zu ersten Kontakten mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen und in der Folge zur Erweiterung der Gruppe der Initianten durch Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz.

Im November 2003 wurde das Nationale Forum Alter und Migration der Öffentlichkeit vorgestellt. Heute sind folgende Organisationen in diesem Forum vertreten: Bundesamt für Gesundheit, Bundesamt für Migration, Caritas, Curaviva (Verband der Heime und Institutionen Schweiz), Fachstelle für Altersfragen des Bundesamts für Sozialversicherung, FMH, Forschungsstelle Alter am Spital Bern-Ziegler, Forum für die Integration von MigrantInnen, Konferenz der Integrationsdelegierten, Pro Migrante, Pro Senectute Schweiz, Schweizerisches Rotes Kreuz, Schweizerischer Seniorenrat, Spitex Verband Schweiz.

Die Zusammensetzung zeigt, dass sowohl Institutionen, die zum Handeln aufgerufen sind, als auch Organisationen von Betroffenen im Forum vereint sind. Diese Austauschmöglichkeiten sind äusserst wertvoll; sie garantieren dafür, dass nicht an den (künftigen) Konsumentinnen und Konsumenten vorbei geplant wird. Am 16. März 2006 verabschiedete das Forum eine CHARTA.

Viel versprechende Ansätze

Es sollen nicht etwa goldene Käfige für die Migrationsbevölkerung einzelner Ethnien entstehen. Hingegen sollen Strukturen geschaffen werden, die den Besonderheiten Rechnung tragen, sodass sich auch diese Menschen im Alter und in ihrer Hinfälligkeit gut aufgehoben fühlen. Ganz besonders wichtig wird dies in Grossräumen, in denen sich eine Mehrheit der Migrantenfamilien niedergelassen und Arbeit gefunden hat. Dazu bestehen bereits einzelne viel versprechende Ansätze und Projekte.

Italienische Luft in Zürich: Im Krankenheim Erlenhof in Zürich besteht seit Mai 2003 die Abteilung „Aria italiana“. Aus der Erkenntnis, dass das Eintreten in ein Alters- oder Pflegeheim häufig den Verlust der gewohnten Sprache bedeutet und dass Kommunikation in der Muttersprache gerade im Alter und bei Krankheit von grösster Wichtigkeit ist, geht man hier nicht nur auf die sprachliche Verständigung, sondern auch auf kulinarische Gewohnheiten ein, auf ihren grösseren Familiensinn und ihre Freude beispielsweise an Musik. So kann für diese Menschen ein Stück Heimat entstehen oder weiter bestehen. Neben Italienerinnen und Italienern werden auch Menschen spanischer oder portugiesischer Herkunft aufgenommen. (www.erlenhof.ch)

Internet per la Terza Età in emigrazione: Das im November 2002 entstandene Projekt gibt italienischen Immigrantinnen und Immigranten im Raume Basel die Möglichkeit, sich mit dem PC und Internet vertraut zu machen, sich zu bilden, etwas Neues zu lernen. Es wurde von Pro Migrante mit dem „Ritter der Kommunikation“ der Bundesämter für Kultur und Kommunikation ausgezeichnet. Ziel ist es, einer drohenden Vereinsamung älterer Menschen durch gemeinsames Lernen entgegenzuwirken. (www.promigrante.ch.vu)

Migrationsbus der Curaviva: Im Oktober 2004, anlässlich des zweiten nationalen Forums Alter und Migration in Bern, wurde der Migrationsbus im Beisein des Präsidenten der Eidgenössischen Ausländerkommission, Francis Matthey, eingeweiht. Der Bus ist mit mehrsprachigem Informationsmaterial zum Thema Migration und Alter bestückt. Seit Sommer 2005 bereist er die Schweiz und macht Halt an Orten mit besonderer Bedeutung für die Migrationsbevölkerung: in Alterseinrichtungen, an Grenzorten zu Nachbarländern, an Flughäfen. Dort können lokale Organisationen und Institutionen Veranstaltungen organisieren, die der Information von Migratinnen und Migranten dienen und gleichermassen die schweizerische Bevölkerung für die kulturellen und ökonomischen Leistungen von Migrantinnen und Migranten sensibilisieren und Informationen für deren Betreuung im Alter vermitteln. (www.seniorennetz.ch/migrationsbus.cfm)

Wie können sich Altersheime für Migrantinnen und Migranten öffnen? Im Auftrag der Abteilung Migration des Schweizerischen Roten Kreuzes analysierten Studierende der Fachhochschule Solothurn Nordwestschweiz mittels einer Fragebogenerhebung die Angebote und Strukturen von zwei Alters- und Pflegeheimen. Die Auswertung zeigte, dass die besonders relevanten Bereiche Sprache und biographischer Hintergrund beispielsweise in der einen Institution von Seiten der Heimleitung unterbewertet wurden, obwohl die dazu nötigen Daten eigentlich erhoben worden waren. In der anderen Institution wurde die Wichtigkeit mehrsprachiger Dienstleistungen durch das Personal unterbewertet. Ausserdem zeigte sich, dass die Möglichkeiten zum Feiern nicht-christlicher religiöser Anlässe vermehrt geschaffen werden müssten; auch die entsprechenden religiösen Riten bedürften vermehrter Aufmerksamkeit. Als Produkt der Projektwerkstatt resultierte ein exemplarischer Leitfaden für ein Altersheim, das den Ansprüchen von Migrantinnen und Migranten gerecht werden will. (Bezugsadresse: migration@redcross.ch)

Migrant friendly Hospitals: Diese internationale Bewegung zeichnet Spitäler aus, die sich besonders um Anliegen der Migrationsbevölkerung verdient machen, wie z.B. die Gewährleistung von Übersetzungsdiensten. (www.hplus.ch, www.mfh-eu.net)

Die „vornehme Zurückhaltung“ aufgeben

Das Bewusstsein vom guten Zusammenleben mit Menschen fremder Herkunft und aus anderen Kulturbereichen dürfte in unserem Land sehr unterschiedlich (aus-)geprägt sein. Gerade im Bereich Kranken- und Alterspflege sind wir allerdings hautnah davon berührt. Die Ärzteschaft ist zur Mithilfe aufgerufen, damit auch die Politik sensibilisiert wird für die Anliegen dieser Bevölkerungsgruppe. Wo immer wir erkennen, dass Anliegen der Migrationsbevölkerung speziell eingebracht werden sollten, sind wir dazu aufgerufen, uns nicht vornehm zurück zu halten, sondern auf Fehlendes und Vergessenes hinzuweisen. Kontakte mit Organisationen der Migrationsbevölkerung sollten idealerweise nicht nur von ihnen, sondern auch von uns aktiv gesucht oder gepflegt werden.

*Dr. med. Ursula Steiner-König ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Mitglied des Zentralvorstands der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH. Kontakt: u.steiner@hin.ch. Internetseite Alter und Migration: www.alter-migration.ch.