Gesundheit, Menschenrechte und Gewaltprävention

Verletzbarkeit asylsuchender Frauen

Von Martine Verwey

Als eine der Schnittstellen zwischen Gesundheit und Menschenrechten bezeichnet Helena Nygren-Krug (1) die potentielle Gefährdung respektive den potentiellen Schutz von Menschenrechten durch die Ausrichtung der Gesundheitspolitik. Gibt es einen ähnlichen Zusammenhang zwischen potentieller Gefährdung respektive Schutz von Menschenrechten und der Ausrichtung der Asylpolitik? Für diese Fragestellung ziehe ich eine kürzlich erschienene holländische Studie über das Sicherheitsempfinden von Frauen in Durchgangszentren für Asyl Suchende und ihre Strategien, sich und andere zu schützen, bei.

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Es liegt zwar bereits viel Literatur über Menschenrechte, Flüchtlinge und deren Gesundheitszustand vor, wenig aber darüber, ob die Ausrichtung der Asylpolitik die Verletzbarkeit asylsuchender Frauen verringert oder erhöht. Zudem wird im Rahmen der humanitären Arbeit mit Flüchtlingen3 in Kriegsgebieten Gewalt gegen Flüchtlinge, Rückkehrende und intern Vertriebene in Bezug zu Menschenrechten gesetzt und es werden ressourcenorientierte Verfahren favorisiert – über sexuelle Gewalt innerhalb des Asylbereichs in Europa wissen wir bisher jedoch wenig.

Asyl Suchende in den Niederlanden

„Internationale Migration“ umschreibt unterschiedliche, weltweit, aber vorwiegend im Süden stattfindende Bevölkerungsbewegungen, die Ursachen dieser Bewegungen und den individuellen Rechtsstatus, welcher ausschlaggebend dafür ist, wie lange und unter welchen Bedingungen eine zugewanderte Person im Gastland bleiben kann. Fast drei Prozent der Weltbevölkerung oder etwa 175 Millionen Menschen leben zurzeit vorübergehend oder ständig ausserhalb ihres Herkunftslandes. Von diesen sind Schätzungen des UNHCR zufolge über 40 Millionen Flüchtlinge und Menschen in flüchtlingsähnlichen Situationen. Die globale Belastung durch Flüchtlinge aufgrund bewaffneter Konflikte hat zwischen 1974 und 1996 von 2,4 auf mehr als 27,4 Millionen Menschen zugenommen.4

Ende 2004 leben in den Niederlanden ungefähr 45’000 Asyl Suchende (in der Schweiz ist zur gleichen Zeit der Bestand um etwa 10’000 Personen höher) in Auffang- oder Durchgangszentren. Ein Drittel von ihnen ist minderjährig. Seit 1998 nimmt die Zahl der Asylgesuche in den Niederlanden stark ab. 2004 ist diese Zahl historisch tief. Sie ist gegenüber 2003 um fast dreissig Prozent zurückgegangen. 2002 hatte sie sich gegenüber 2001 bereits um fünfzig Prozent reduziert. Einer der Gründe: seit 2001 ist in den Niederlanden ein neues Ausländergesetz in Kraft. Wird seither ein Gesuch abgelehnt, erlischt das Bleiberecht im Land. Immer öfters werden abgewiesene Asyl Suchende aus Auffangzentren weggewiesen.

Die rückläufige Gesuchsentwicklung hat einerseits zur Folge, dass Zentren reorganisiert oder geschlossen und Bewohner umplatziert werden. Andererseits werden in bestehenden Zentren Arbeitsplätze gestrichen, und es geht so Expertise verloren. Ende 2001 und vermehrt im Jahr 2002 signalisieren Medien, dass Sicherheit und körperliche Unversehrtheit für Frauen und Mädchen in Durchgangszentren nicht immer gewährleistet sind: es wird berichtet über Vergewaltigungen, sexuelle Bedrohungen, familiäre Gewalt und spurlos verschwundene alleinstehende junge asylsuchende Frauen. Ende 2002 bewirken parlamentarische Vorstösse eine Abklärung des Sicherheitsschutzes weiblicher Asyl Suchender in Auffangzentren in den Niederlanden.

Kritische Situation der Frauen in Auffangzentren

Anfangs April 2003, zum Zeitpunkt der Untersuchung, leben 64’541 Asyl Suchende in zentralen – dies im Gegensatz zur dezentralen Aufnahme in der Schweiz – Auffangzentren. Vom weiblichen Anteil von vierzig Prozent sind wiederum vierzig Prozent minderjährig. Eigenverantwortung und Selbständigkeit der Asyl Suchenden gelten als Leitlinien. Im Rahmen der Studie werden mit 190 Frauen und Mädchen und 75 Mitarbeitenden Gespräche geführt. Es zeigt sich, dass die Situation von Frauen in Auffangzentren kritisch ist. Sie sind nicht nur stärker Bedrohungen ausgesetzt als andere Frauen in den Niederlanden, sondern ihre Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen, sind gleichzeitig eingeschränkter. Ausserdem sichern allgemeine Massnahmen eine Verbesserung der Situation nur ungenügend. Leben als Asyl Suchende und frühere Gewalterfahrungen vergrössern generell Gefühle der Verunsicherung und die Gefahr, erneut Gewalt ausgesetzt zu sein. Fehlende Zukunftsperspektiven und mangelnde Handlungsmöglichkeiten, die eigene Lebenssituation verbessern zu können, schränken das Sicherheitsempfinden ein.

Konkret zeigt die Studie, dass die Varietät dessen, was Frauen und Mädchen als sicher wahrnehmen und welche Strategien sie entwickeln, breit ist und in Beziehung steht zu Bildung, Alter und Zivilstand und zu Vorstellungen in ihrer Herkunftsregion darüber, wie Frauen sich benehmen sollten. Die Diversität unter den Frauen aus unterschiedlichen Regionen ist ebenfalls gross, und was von einer Gruppe als Schutz empfunden wird, kann gerade für eine andere Gruppe die Unsicherheit verstärken. Frauen fühlen sich vor allem innerhalb der Zentren und Wohneinheiten unsicher. Sexuell belästigt zu werden durch männliche Mitbewohner, familiäre Gewalt, Aggression, wechselseitige Diskriminierung und rassistische Übergriffe zwischen Bewohnern von Asylzentren, aufdringliche Männer in Duschraum und Toiletten sowie Angst um die Sicherheit der Kinder sind Teil der Lebenssituation der befragten Frauen. Alleinstehende Mädchen und Frauen sind besonders verletzlich. Werden sie bedroht, bleibt ihnen bloss die Hoffnung, dass Mitbewohner Hilfe leisten. Stereotype Bilder über alleinstehende Frauen verstärken diese Verletzbarkeit. Bedingt durch weniger Personal nehmen Kontaktmöglichkeiten zwischen Mitarbeitenden und Bewohnern und somit die Gelegenheit, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, ab. Mitglieder des Betreuungspersonals beobachten Menschen- und Frauenhandel und Zwangsprostitution als ein neues Phänomen in der Nähe ihres Arbeitsortes.

Die Untersuchung hat unter anderem bewirkt, dass Grundvoraussetzungen für Sicherheit wie nach Geschlecht getrennte sanitäre Einrichtungen und abschliessbare Schlafräume nun ernster genommen werden. Verbesserungen orientieren sich aber eher an Kontrolle und weniger an vertrauensbildenden und ressourcenorientierten Massnahmen.

Asylpolitische Grenzen der Gewaltprävention

Je rigider die Asylpolitik und je mehr Sparvorgaben beim Personal der Auffangzentren, desto verwundbarer werden weibliche Asyl Suchende – so eine Folgerung der Untersuchung. Verschärfte Massnahmen und Personalstopp im Asylbereich begünstigen strukturelle Verwahrlosung. Schliesslich kann die Zunahme von Menschenhandel eine ungewollte, jedoch direkte Folge restriktiver Migrationspolitik sein. Die Untersuchung zeigt den Zusammenhang zwischen potentieller Gefährdung respektive Schutz von Menschenrechten und der Ausrichtung der Asylpolitik. Schutz gegen Vorfälle, welche Grundfreiheiten und die Menschenwürde beeinträchtigen, sind je nach Beschaffenheit der Asylpolitik nicht mehr gewährleistet. Es gibt eine eindeutige Beziehung zwischen Gesundheit, Menschenrechten und den asylpolitischen Grenzen jener Prävention, die sich auf die Lebensverhältnisse der Zielgruppe abstützt.

*Martine Verwey, lic. phil. I, ist freiberuflich tätige Medizinethnologin. Schwerpunkt: Gesundheitsförderung mit von organisierter Gewalt betroffenen Flüchtlingen und Resilienz. Kontakt: verwey@active.ch. Erweiterte Fassung des Co-Referats zum Vortrag von Marianne Cense „Surviving on the square meter. Experiences of insecurity and violence and coping strategies of female asylum seekers” am Symposium «Violence, Health and Human Rights» der Zeitschrift “Medische Antropologie” vom 10. Dezember 2004, Amsterdam.

Anmerkungen

1. Nygren-Krug, Helena, Why health and human rights? Referat am Symposium «Armut kann Ihre Gesundheit gefährden» vom 3. November 2004, Medicus Mundi Schweiz, Basel – siehe Artikel in dieser Bulletinausgabe.

2. Kramer, Sander and Marianne Cense (2004), Overleven op de vierkante meter [Surviving on the square meter. Experiences of insecurity and violence and coping strategies of female asylum seekers], Utrecht: Pharos/TransAct.

3. United Nations High Commissioner for Refugees (2003), Sexual and gender-based violence against refugees, returnees and internally displaced persons. Guidelines for prevention and response, Geneva: UNHCR.

4. World Health Organization (2003), International migration, health and human rights, Health & Human Rights Publication Series, No. 4. Geneva: WHO.