Debatte

Weltgesundheitsorganisation als Neuschöpfung

Von Karl Heinz Roth und Jochi Weil-Goldstein

Mangelnder Zugang zu Gesundheitssystemen, katastrophale sanitarische Verhältnisse und Krise beim Gesundheitspersonal. Vor diesem Hintergrund denken Karl Heinz Roth und Jochi Weil-Goldstein von medico international schweiz über eine neu zu schaffende Weltgesundheitsorganisation von unten nach oben.

Lesezeit 4 min.

1. Gesundheit ist ein öffentliches Gut, das aus prinzipiellen ethischen Gründen allen Menschen uneingeschränkt und in gleichem Ausmaß zusteht. Dieses Grundprinzip ist immer nur eine konkrete Utopie gewesen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde es jedoch durch die fortschreitende Privatisierung des Gesundheitswesens und der mit diesem verbundenen sozialen Sicherungssysteme systematisch ausgehebelt.

2. Dieser Prozess ist weltweit zu beobachten. Bei den chinesischen Bauern kursiert heute, nach dem Zusammenbruch der ländlichen, öffentlichen Gesundheitsversorgung das Sprichwort: „Eine leichte Krankheit kostet ein Schwein, eine mittlere das Jahreseinkommen einer Familie, und eine schwere Erkrankung ruiniert dich.“ In den Slum (Cities) Citys erscheint selbst dies illusorisch, denn die katastrophalen sanitären Verhältnisse machen inzwischen jede Art von Gesundheitsversorgung illusorisch. In den USA sind Dutzende Millionen von Menschen nicht krankenversichert und auf eine rudimentäre öffentliche Minimalversorgung angewiesen.

Niedergang der Gesundheitsberufe

3. Mit der weltweiten Verschlechterung der präventiven wie kurativen Gesundheitsversorgung geht häufig ein dramatischer Niedergang der Gesundheitsberufe einher. Intensiv ist die Abschmelzung und „Verschlankung“ der Gesundheitssysteme, welche die Ökonomisierung des Gesundheitswesens im Rahmen des New? Public Management auslöst.

4. Hinter dieser von der politischen Klasse ausgeführten „Sanierungspolitik“ stehen die führenden Branchen des gesundheitsbezogenen Kapitals – Pharmaindustrie, Versicherungskonzerne, Unternehmen der Medizintechnik, die zunehmend in private Krankenhauskonzerne investieren und das gesamte Versorgungssystem auf die kaufkräftigen Gesellschaftsschichten zuschneiden, während die Einkommensschwachen und Armen herausfallen.

Elementare Existenzrechte

5. Diese Entwicklung bedroht weltweit das physische Überleben immer größerer Gesellschaftsschichten. Um ihr Einhalt zu gebieten und die elementaren Existenzrechte der Armen und Einkommensschwachen wiederherzustellen und ihre gesundheitliche Versorgung an die Standards der begüterten Klassen anzupassen – und umgekehrt -, sind dringliche Gegenmaßnahmen erforderlich. Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, dass die Bedürfnisse und Interessen der KlientInnen von vorbeugenden wie kurativen Gesundheitsleistungen immer mit denjenigen der GesundheitsarbeiterInnen abzustimmen sind, und zwar nach dem Grundsatz: Eine egalitäre, basisdemokratisch verankerte und qualitativ hoch stehende Gesundheitsversorgung für alle kommt auch den Bedürfnissen und Interessen der GesundheitsarbeiterInnen zugute.

Basisdemokratisch, regulierte Selbstverwaltung

6. Lokale bzw. regionale Gesundheitsgewerkschaften (health unions) sollten sich mit der doppelten Zielstellung eines egalitären Zugangs zur Gesundheitsversorgung und einer gesicherten Existenzgrundlage des Gesundheitspersonals in den lokalen bzw. regionalen Initiativen zur Wiederaneignung der öffentlichen Güter zusammenschließen, bei denen das öffentliche Gut Gesundheit eine bedeutende Rolle spielt. Dabei sind die jeweiligen lokalen bzw. regionalen Besonderheiten und Prioritäten zu beachten, aber strukturell geht es unabhängig vom jeweiligen Standort darum, sich alle funktionsnotwendigen Strukturen des Gesundheitswesens von den Basiseinrichtungen der sanitären Hygiene, Prävention und ambulanten Krankenversorgung über die stationären Einrichtungen bis hin zu den kollektiven Kostenträgern anzueignen und in die paritätische und basisdemokratisch regulierte Selbstverwaltung der AnbieterInnen und BezieherInnen von Gesundheitsleistungen zu übernehmen. Zugleich sollten sich diese lokalen bzw. regionalen Gesundheitssysteme weltweit vernetzen, um Versorgungsgefälle, Qualitätsdefizite und besondere Engpass-Situationen auszugleichen. Dies könnte beispielsweise durch eine „Dreier-Lösung“ geschehen: Jede lokale bzw. regionale Gesundheitsstruktur der entwickelten Länder geht eine Kooperation mit einem entsprechenden Strandort in einem Schwellenland sowie einem Entwicklungsland bzw. einer slum city ein.

7. Darüber hinaus ist eine weltweite Koordination aller health unions bzw. Gesundheitsstandorte nötig, um alle jene Gesundheitsprobleme anzupacken, die nur auf Weltebene zu lösen sind. Die nur im globalen Kontext zu bewältigenden Aufgaben sind ungeheuer groß und vielfältig. Sicher ist es sinnvoll, dabei zwischen dringlichen Akutmassnahmen und längerfristigen Aufgaben zu unterscheiden. (Ich muss) Wir müssen uns? mich hier auf einige illustrative Beispiele beschränken.

7.1 Zu den Massnahmen gehören die Gründung von Notfallfonds zur Bekämpfung allfälliger Gesundheitskatastrophen und Pandemien, aber auch zur raschest möglichen Verbesserung der sanitären Basiseinrichtungen in den slum cities citys? und Flüchtlingslagern. Des weiteren sollte eine task force zur Bekämpfung der von den Pharma-Konzernen vernachlässigten Massenkrankheiten gegründet werden (Malaria, HIV-Erkrankung, Tuberkulose), deren Medikamente und Behandlungsverfahren dann patentfrei weiterverteilt werden können. Die Gründung dieser task force sollte mit der Initiierung einer Kampagne zur Entpatentierung aller Medikamente und medizinischen Hilfsmittel sowie Medizingeräte-Technologien verknüpft werden.

Enteignung der Gesundheitsbranche?

7.2 Mittel- und langfristig stellt sich uns die Aufgabe, die transnationalen Unternehmen der Gesundheitsbranche (Versicherungskonzerne, Pharma-Konzerne, Unternehmen der Medizintechnik und Krankenhauskonzerne) zu enteignen, ihre gesellschaftlich notwendigen Ressourcen in den regionalen Standorten der neuen Gesundheitsstruktur zu verankern und zugleich weltweit neu zu koordinieren. Sie sollten dann die materiell-ökonomische Basis einer neuen Weltgesundheitsorganisation von unten bilden, die als Beratungs- und Beschussgremium der weltweit vernetzten lokalen, regionalen und kontinentalen neuen Gesundheitsstrukturen tätig wird.

8. Die Weltgesundheitsorganisation von unten wird nach Lage der Dinge nur als völlige Neuschöpfung der basisdemokratisch vernetzten neuen regionalen / kontinentalen Gesundheitsstrukturen funktionsfähig werden. In ihr sollten die Interessen der BezieherInnen von Gesundheitsleistungen und der GesundheitsarbeiterInnen paritätisch repräsentiert sein. In ihr werden sicher aber auch die weltweit agierenden kritischen NGOs des Gesundheitswesens ihren Platz finden, und sicher auch einige RepräsentantInnen des linken Flügels des public health-Spektrums sowie der bestehenden WHO.

So weit unser Vorschlag. Er sollte als Appell verstanden werden, die Nischen zu verlassen, nach vorn zu schauen und unser gesundheitspolitisches Engagement für eine egalitäre Gesellschaft in einer entschiedenen Globalisierung von unten zu verankern. Unser Potenzial ist zu kostbar, als dass wir weiter Trübsal blasen oder sklerotische politische Klassen und Regime via NGOs mit einem Hauch von Legitimität versehen sollten. Nur das Unmögliche ist das Realistische – machen wir also einen Anfang in diese Richtung!

*Karl Heinz Roth ist Historiker, Sozialforscher und Arzt. Er war ein prominenter 68er (Vorstandsmitglied des SDS, Sozialistischer Deutscher Studentenbund, gut bekannt mit Rudi Dutschke) und ist wohnhaft in Hamburg. Kontakt: k.h.roth@gmx.de

*Jochi Weil-Goldstein, ausgebildeter Primarlehrer mit heilpädagogischer Zusatzausbildung, engagiert sich seit 1981 bei medico international schweiz, vormals Centrale Sanitaire Suisse (CSS). Er ist Projektverantwortlicher für Palästina und Israel und Mitbegründer und aktiv bei der Kampagne Olivenöl. Kontakt:
j.weil@bluewin.ch

 

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