Migration als Herausforderung für das schweizerische Gesundheitssystem

20 Prozent der schweizerischen Bevölkerung...

Von Thomas Spang

Migration an sich und ihre Ursachen sind für die einzelnen Migrant/innen jeweils mit grosse Unsicherheit verbunden und können somit per se eine destabilisierende Wirkung auf ihren Gesundheitszustand haben. Zudem sieht sich ein Grossteil der Migrant/innen in der Schweiz mit Integrationsschwierigkeiten, Benachteiligung und zum Teil auch Ausgrenzung aufgrund struktureller Bedingungen sowie enttäuschten Hoffnungen konfrontiert. Um so mehr gilt es, der Gesundheit von Migrant/innen – immerhin 20 Prozent der schweizerischen Bevölkerung – besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

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Immer mehr Menschen sehen sich gezwungen, ihre Heimat auf der Suche nach existenzsichernden Lebensbedingungen aufzugeben. Die Ursachen für diese Migration sind vielfältig. Sie reichen von der wirtschaftlichen Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, ökologischen Katastrophen, Globalisierungsprozessen, modernen Informationstechnologien, bewaffneten Auseinandersetzungen, politischer Repression, Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Ausbreitung des westlichen Zivilisationsmodells und seinen Anreizen. Alleine ca. 25 Millionen der weltweit ca. 120 Millionen Migrant/innen sind als Flüchtlinge gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention einzustufen, d.h. sie waren aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die heutigen Migrationsformen sind äusserst komplex und vielfältig geworden. Begriffe wie Wirtschafts-, Gewalt-, Armuts- und Umweltflüchtling weisen zwar treffend auf den Zwangscharakter vieler Migrationsentscheidungen hin, betonen aber oft zu einseitig einzelne fluchtauslösende Faktoren.

Gesundheit und Krankheit - Spiegelbild der Integration

In der Frage, wie schwerwiegend die destabilisierende Auswirkung der Migration auf das Individuum ist, spielt die Biographie der einzelnen Person eine wichtige Rolle. Gesundheit und Integration stehen sich in einer Wechselwirkung gegenüber: Einerseits beeinflusst der Gesundheitszustand direkt den Integrationsprozess, und andererseits können Integrationsschwierigkeiten Auswirkungen auf den Gesundheitszustand haben. Gesundheit und Krankheit sind somit ein Spiegelbild des Integrationsverlaufes, des ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen und biographischen Umfeldes einer Person.

Flüchtlinge, Frauen und sich illegal in der Schweiz aufhaltende Personen sind am stärksten durch fehlende oder unzureichende soziale Integration betroffen. Gesundheit und Krankheit müssen bei ihnen ganzheitlich gesehen werden, wobei Vergangenheit, gegenwärtige Situation und mögliche Zukunftsperspektiven einer Person miteinzubeziehen sind. Krankheit kann in diesem Zusammenhang auch ein Hilferuf an die Aufnahmegesellschaft sein, eine Person mit ihren spezifischen Interessen und Besonderheiten überhaupt wahrzunehmen und aus einer unbefriedigenden Situation herauszuholen.

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung unseres Landes – zu den gesundheitsfördernden, kurativen, rehabilitativen und ergänzenden Versorgungsdiensten – stellt eine Schlüsselrolle für die gesellschaftliche Integration von Migrant/innen dar.

Es gibt Studien, die belegen, dass sich das Gesundheitswesen der Schweiz im Gegensatz etwa zum Bildungssystem oder der Sozialarbeit noch nicht auf die sozialen Wirkungen/Realitäten der Migrations- und Integrationsprozesse eingestellt hat. Vor kurzem sagte mir ein Arzt, dass unser Gesundheitswesen einen Fünftel der Wohnbevölkerung vergisst. Auch wenn diese Aussage vielleicht etwas übertrieben ist, so weist sie doch darauf hin, dass, obwohl jede Person unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus grundsätzlich ein Recht auf Gesundheit hat, dies in der Realität anders aussieht. Verschiedene Studien weisen zum Teil erhebliche Ungleichheiten im Gesundheitszustand und im Zugang zur Gesundheitsversorgung zwischen Einheimischen und Migrant/innen aus. Dieser Befund lässt um so mehr aufhorchen, da sich die traditionelle Arbeitsmigration innerhalb Europas generell dadurch auszeichnete, dass nur die Gesunden migrierten, Gesundheit von Migrant/innen somit "kein Thema" war.

Ungleichheiten verringern

Die Weltgesundheitsorganisation WHO forderte 1984 als erstes Ziel ihres Programmes "Gesundheit für alle im Jahr 2000", bis zum Jahr 2000 seien die bestehenden Unterschiede im Gesundheitszustand der verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb eines Landes um mindestens 25 Prozent zu verringern, und zwar durch die Verbesserung des Gesundheitszustandes der benachteiligten Gruppen. Um die Ungleichheit anzugehen, müsse man aber mehr über ihr wahres Ausmass und die dazu beitragenden Faktoren wissen. Dieses Wissen würde dann dazu beitragen, dass das Problem auch von der politischen Seite anerkannt würde. Der Gesundheitssektor müsse für eine Politik eintreten, die sich dafür einsetze, dass sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Benachteiligten verbesserten. Die WHO nannte Aspekte wie Einkommen, Wohnverhältnisse, Ernährung, Bildungschancen, arbeitsmedizinische Versorgung und Sicherheit am Arbeitsplatz und plädierte somit für einen sektorenübergreifenden Ansatz, der verschiedene gesundheitsbestimmende Faktoren umfasst.

Das Jahr 2000 steht nun vor der Türe, und die Frage drängt sich auf, ob die WHO beziehungsweise ihre Partner(länder) dieses Ziel erreicht haben. Für die Schweiz lässt sich diese Frage nicht abschliessend beantworten. In jüngster Zeit sind Untersuchungen zur Gesundheit der Gesamtbevölkerung erschienen, welche auch Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Migrant/innen erlauben. Es gibt Hinweise auf eine grössere Morbidität der Migrant/innen in der Schweiz, doch sind sie relativ ungenau und machen deutlich, dass weitere Abklärungen dringend nötig sind. Trotzdem lässt sich aufgrund der erhobenen Daten und ihrer Interpretation feststellen, dass der Gesundheitszustand und die Gesundheitsversorgung der Migrant/innen vor allem in folgenden Bereichen schlechter als derjenige der einheimischen Bevölkerung sind:

  • Allgemeines Wohlbefinden, Rückenweh, Schlaflosigkeit, Kopfweh, Müdigkeit
  • Übergewicht, Essgewohnheiten, Bewegung, Tabak- und Alkoholkonsum
  • Frauengesundheit; vor allem bei relativ neu eingereisten Frauen zeigt sich eine deutlich höhere Kindersterblichkeit
  • TB- und Malariarisiko (bei Asylsuchenden)
  • psycho-soziale Probleme (hauptsächlich bei Gewaltflüchtlingen und Asylsuchenden)
  • Somatisierung bei psychischen Problemen
  • Unfallrisiko mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen
  • Zugang zu Familienplanungsstellen und Zugang zu Präventionsangeboten in verschiedensten Bereichen
  • Sprach- und Kommunikationsprobleme; sie verhindern oft den adäquaten Zugang zum Gesundheitssystem; häufig erfolgt deshalb keine Ursachenbekämpfung, sondern Medikamentalisierung

Die aufgrund der bisherigen Datenerhebungen und -analysen gemachten Aussagen sind jedoch ziemlich allgemein gehalten und können meist nicht mit der konkreten Lebenssituation der Betroffenen in Zusammenhang gebracht werden. Sie erlauben auch kaum Rückschlüsse auf spezifische pathogene Faktoren, vor allem aber nicht auf Ressourcen von Migrant/innen. Um Massnahmen der Gesundheitsförderung im Sinne der "Gesundheit für alle im Jahr 2000" zu planen, müssten die Grundlagen der Gesundheitsbefragung überprüft und angepasst werden: Insbesondere müsste die besondere Lebenssituation von Migrant/innen in die epidemiologische Perspektive eingeschlossen und mit entsprechende Methoden untersucht werden.

Trotz den erwähnten Lücken im Grundlagenbereich, die mit der Schaffung eines Gesundheitsobservatoriums hoffentlich geschlossen werden, können wir natürlich nicht die Hände in den Schoss legen und abwarten, im Gegenteil: Wir wissen bereits heute, dass in folgenden Bereichen Gesundheitspolitik und Gesundheitsprogramme explizit die Bedürfnisse und Ressourcen von Migrant/innen berücksichtigen müssen:

Prävention und Gesundheitsförderung: Präventionsmassnahmen, zum Beispiel im Sucht- und Aidsbereich, und Gesundheitsförderungsprogramme müssen die spezifische Bedürfnisse, Interessen und Lebenslagen von Migrant/innen berücksichtigen, z.B. in der Wahl der Sprache und durch Anpassung der Inhalte an den jeweiligen soziokulturellen Kontext. Auf der andern Seite müssen aber auch die Ressourcen - Netzwerke, Schlüsselpersonen, etc. - der verschiedenen Migrationsgruppen besser genutzt werden. So werden die Botschaften der Gesundheitsförderungsprogramme von den Migrant/innen verstanden und, besonders wenn Netzwerke und Schlüsselpersonen als Vermittler eingesetzt worden sind, auch akzeptiert.

Intervention: Beratungsstellen, die in den verschiedensten Gesundheitsbereichen tätig sind, müssen vermehrt auf dem entsprechenden Gebiet qualifizierte Migrant/innen anstellen. Es ist belegt, dass der Zugang zu Beratungsstellen für Migrant/innen bedeutend vereinfacht wird, wenn Migrant/innen selbst in diesen Institutionen angestellt sind. Dies hängt einerseits mit Vertrauen zusammen, auf der anderen Seite drückt es aber auch eine erhöhte Sensibilisierung der Institution für die spezifischen Anliegen von Migrant/innen aus. Auf der Kommunikationsseite müssen entsprechende Anpassungen vorgenommen und die Angebote in verschiedenen Sprachen publik gemacht werden.

Zugang zum Gesundheitssystem: Das öffentliche Gesundheitssystem der Schweiz ist sehr ausdifferenziert. Für Migrant/innen, die in ihren Heimatländern solch differenzierte Systeme nicht kennen, ist dieses System nicht durchschaubar. Zum Informationsdefizit trägt auch die Informationspolitik der verschiedenen Institutionen bei. Informationsbroschüren in den entsprechenden Sprachen, wenn nötig zielgruppenspezifisch angepasst, entsprechen einem klaren Bedürfnis und sind eine Grundvoraussetzung für die Integration der Migrant/innen in die Regelversorgung.

Übersetzung und kulturelle Vermittlung: Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Verständigungsprobleme die grösste Barriere bei der Behandlung von fremdsprachigen Patientinnen darstellen. Schwierigkeiten ergeben sich besonders beim Erheben der Anamnese, beim Stellen von Diagnosen und beim Einholen des Einverständnisses für die Behandlung. Oft sind es dabei nicht nur sprachliche Barrieren, welche die Kommunikation erschweren. Migrations- und fluchtspezifisch geprägte Biographien, laienmedizinische Hintergründe der Patientinnen bzw. unterschiedliche Konzepte von Gesundheit und Krankheit gilt es im Kontakt des Gesundheitswesen mit Migrant/innen zu verstehen, sonst sind Unverständnis, Misstrauen und möglicherweise sogar Fehldiagnose und entsprechend auch –behandlung vorprogrammiert.

In diesem Bereich gilt es, Übersetzerinnen und das Versorgungssystem zu qualifizieren und auch zu sensibilisieren, damit Patient und Arzt sich wirklich verständigen können. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass eine migrationsspezifische Anamnese gemacht werden kann, die den Umständen des Patienten auch gerecht wird.

Psychische Gesundheit: Unter den gesundheitlichen Problemen von Flüchtlingen und Asylbewerbern dominieren psycho-soziale Probleme und posttraumatische Störungen. Eine Studie in diesem Bereich belegt, dass konservativ geschätzt, jeder vierte in der Schweiz lebende anerkannte Flüchtling vor der Flucht gefoltert wurde. Das vom SRK in Bern betriebene Therapiezentrum für Folteropfer versucht hier entsprechende Hilfestellungen zu bieten, kann jedoch von den Ressourcen her nur punktuell zu einer Lösung beitragen und akzeptiert nur anerkannte Flüchtlinge. Mit entsprechender Weiterbildung und vielleicht auch neuen Ansätzen sollte das Angebot in der Schweiz unbedingt und rasch vergrössert werden. Gerade im Hinblick auf die Flüchtlinge aus Kosova zeigt sich hier ein grosser Handlungsbedarf.

Zu den gravierenden psychischen Problemen von Gewaltflüchtlingen kommen psychische Probleme für viele Migranten, die als Folge einer mangelnden Integration zu werten sind.

Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen des Gesundheitssystems: Fachpersonen des Gesundheitssystems müssen für migrationsspezifische Aspekte sensibilisiert, aus- und weitergebildet werden, damit Migrant/innen im Kontakt mit Ihnen adäquat und ihren Bedürfnissen entsprechend als Patient/innen wahrgenommen werden.

Gesundheit am Arbeitsplatz: Die Invaliditätsrate unter Migrant/innen ist deutlich höher als diejenige der Einheimischen. So liegt die Rate bei den über 50-jährigen italienischen Arbeitsmigrant/innen bei 18 Prozent, diejenige der Schweizer/innen bei 10 Prozent. Eingewanderte unqualifizierte Arbeiterinnen leiden häufiger unter chronischen Rückenschmerzen als einheimische Arbeiterinnen. Entsprechende Massnahmen, besonders in Berufen, wo Arbeitsmigrant/innen übervertreten sind, drängen sich auf.

Das Gesundheitssystem für Migrant/innen öffnen

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine migrationsspezifische Öffnung des schweizerischen Gesundheitssystems angestrebt werden muss, um die Herausforderungen und Probleme in diesem Bereich anzugehen. Die Auslagerung spezifischer migrationsgesundheitlicher Angebote macht in einer ersten Phase im Sinne einer Sensibilisierung der Regelversorgung sicher Sinn. In einem zweiten Schritt muss jedoch das Gesundheitssystem der Schweiz migrationsspezifische Aspekte als Regelaufgabe in das Aufgabengebiet der Versorgungseinrichtungen integrieren. Und darin besteht auch eine Chance: es sind nämlich nicht in erster Linie kulturelle Unterschiede, die besondere Massnahmen im Bereich Migration und Gesundheit erfordern, sondern - dies belegen verschiedene Forschungen ganz klar- Problemlagen aufgrund der marginalen sozialen Position vieler Migrant/innen sowie Kommunikationsprobleme. Und somit können von einer entsprechenden Öffnung und Sensibilisierung des Gesundheitssystems auch marginalisierte Gruppen von Schweizerinnen profitieren, die zum Teil mit sehr ähnlichen Problemen konfrontiert sind.

Thomas Spang ist Leiter des Dienstes Migration im Bundesamt für Gesundheit BAG. Der Artikel beruht auf seinem Referat "Gesundheit und Migration" vom 23. April 1999 in Aarau anlässlich der Mitgliederversammlung des DOKU-Zentrums Gesundheitswesen.