Editorial

Von Maya Natarajan

"Du kannst ganz frei zum Thema schreiben", hat mich Thomas Schwarz zu diesem Editorial verleitet. Sofort kamen mir jene Begegnungen in den Sinn, die mich so manches Mal fassungslos und betroffen gemacht haben. Und ich sagte zu.

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Spätestens seit der Weltkonferenz von Kairo 1994 stehen die reproduktive und sexuelle Gesundheit von Frauen und Mädchen im Fokus der Öffentlichkeit. Eine Vielzahl von Programmen und Projekten in armen Ländern beschäftigen sich heute mit der Verbesserung der Gesundheit von Frauen und Kindern. Das Recht auf Gesundheit, auf einen unversehrten Körper, auf Zugang zu Bildung und Information, Schutz gegen Gewalt sind heute Forderungen, die niemand mehr in Frage stellt. Der Alltag der Frauen ausserhalb Europas sieht oftmals anders aus. Frauen, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, gehen nach wie vor ein enormes Risiko ein, während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder an den Folgen der Geburt zu sterben. Statistiken belegen dies auf eindrückliche Weise. Erschütternd sind für mich jene Frauenschicksale, die sich hinter den Zahlen verbergen.

Vor gut einem Jahr habe ich in Ségou, Mali, die 16-jährige Awa getroffen. Sie leidet an Bauschmerzen und Infektionen als Folgen der Beschneidung, die sie als kleines Mädchen erlitten hat. Das Menstruationsblut kann nicht abfliessen. Sie braucht eine halbe Stunde, um zu urinieren. Hilfe soll sie über ein neues Projekt zur Behandlung von Folgekomplikationen erhalten. Aber für Awa kam jede Hilfe zu spät. Letzte Woche habe ich erfahren, dass sie an einer Infektion gestorben ist.

Soziale, psychische und körperliche Gewalt sind oft Bestandteil des Lebens einer Frau. Tatsächlich verstellen auch soziale und kulturelle Barrieren den Zugang zu Gesundheit. Auf einem Projektbesuch in einem Dorf bei Ségou liegt eine Frau im Geburtshaus bereits mehr als 18 Stunden in den Wehen. Sie kann ihr Kind nicht auf die Welt bringen. Ihr Mann und ihre Schwiegereltern sehen es als Beweis ehelicher Untreue und meinen, dies sei nun die gerechte Strafe. Sie wollen nicht, dass die Frau mit unserem Auto ins Spital gebracht wird. Erst nach langen Verhandlungen mit der Familie darf sie ins Spital. In der Folge kommt das Kind tot auf die Welt. Sie selbst überlebt, geächtet von der Familie, sozial gestorben.

Unvergesslich sind mir jene Dienstmädchen in Bamako, die erzählen, dass sie im Falle einer ungewollten Schwangerschaft heimlich abtreiben oder das Baby nach der Geburt töten würden.

Schicksale hinter den Zahlen der Statistiken, wie sie mehr als tausendfach vorkommen. Noch immer werden der Mehrheit der Frauen ihre reproduktiven Rechte vorenthalten. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Gesundheit und Würde muss erst noch realisiert werden. Dafür stehen immer mehr Frauen ein.

„Frauen begnügen sich nicht mehr mit der Hälfte des Himmels, sie wollen die Hälfte der Welt“ hat eine berühmte Vorkämpferin für die Rechte der Frauen einmal gesagt.

Maya Natarajan ist Geschäftsleiterin von IAMANEH Schweiz