An der Gesundheit bauen

Gesundheitsförderung an ungewohntem Ort

Von Adrian Ritter

Bauarbeiter leben gefährlich. Körperliche Belastungen, Unfallgefahr – kein Wunder, dass im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ihre Lebenserwartung tiefer und das Risiko der Invalidität erhöht ist. Hanspeter Züger versucht als Polier mit Atem- und Energieübungen auf seinen Baustellen für mehr Wohlbefinden zu sorgen.

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Autobahnausfahrt Dübendorf an der A1 – die Firma Locher AG Zürich saniert eine 130 Meter lange Brücke. Es ist 12.45 Uhr, die Arbeiter treten aus der Baracke, die Mittagspause ist zu Ende. Das bedeutet allerdings nicht zurück-an-die-Arbeit, sondern zuerst noch: zusammen atmen, den Boden unter den Füssen spüren, den Körper dehnen und sich gegenseitig die Schultern massieren. Das Ritual findet jeden Mittag während einer Viertelstunde statt, einige Meter von der Fahrbahn entfernt.

Aufmerksamkeit schützt vor Unfällen

Angeleitet werden die Arbeiter dabei von ihrem Polier Hanspeter Züger. Der 52-Jährige gelernte Eisenbetonzeichner und Maurer arbeitet seit 32 Jahren auf dem Bau. Vor ein paar Jahren entschloss er sich, zusätzlich eine Ausbildung in “Core-Energetik” zu absolvieren (1). Im Rahmen seiner Diplomarbeit begann er im Mai 2000, mit seinen Arbeitern Energie- und Atemübungen zu praktizieren: seine eigene Mischung aus Qi Gong, Bioenergetik, Core-Energetik und Stretching. “Ziel ist es, nach der Mittagspause wieder wacher zu werden, die Aufmerksamkeit zu steigern und motiviert arbeiten zu können.” Das ist denn auch die Wirkung, die zum Beispiel seine zwei Mitarbeiter Thomas Becker (25) und Norberto Rodrigues (44) feststellen. Beide fühlen sich durch die Übungen aktiver, weniger müde.

Aufmerksam und wach zu sein, das kann auf Baustellen sogar lebensrettend sein. Züger hatte nämlich festgestellt, dass die meisten Unfälle kurz vor und nach der Mittagspause geschehen. Das überzeugte denn auch seinen zuerst skeptischen Arbeitgeber. Und auch für diesen hat es sich gelohnt. Züger konnte ihm zeigen, dass sich seit Beginn der Übungen auf seinen Baustellen kein einziger Unfall mehr ereignet hat. Die Firma hat dadurch allein im Jahre 2001 bei der Unfallversicherung Prämien in der Höhe von 200`000 Franken gespart. Zudem sind die Absenzentage um 25 Prozent gesunken.

Körperarbeit als Konfliktprävention

Augefallen ist Hanspeter Züger auch, dass sich das Klima in seinem Team verbessert hat: “Wer dem Arbeitskollegen über Mittag den Rücken massiert, geht auch anders auf ihn zu, wenn es mal einen Konflikt gibt.” Züger versteht die Übungen somit nicht nur als Gesundheitsförderung und Unfallverhütung, sondern auch als “Männerarbeit”. Kein Wunder, dass auch die Schweizerische Gesundheitsstiftung Radix auf die Bauarbeiter aufmerksam geworden ist. René Setz, Leiter des Projektes “Männergesundheit”*: “Wir waren auf der Suche nach erfolgreichen Beispielen von Gesundheitsförderung mit Männern - um daraus zu lernen, wie bei dieser Zielgruppe Verhaltensänderungen bewirkt werden können.”

Das war erst der Anfang

Von Hanspeter Züger lernen wollen auch andere. Inzwischen hat er innerhalb der Firma Locher Kurse für andere Poliere angeboten – damit auch diese die Übungen auf der Baustelle anwenden können. Andere Baufirmen haben ebenso ihr Interesse angemeldet wie Unternehmungen aus anderen Branchen, beispielsweise dem Transportwesen. Hanspeter Züger ist überzeugt: “Das war erst der Anfang. Da liegt nämlich ein riesiges Potenzial brach.” Beispiel: Im Frühling 2002 hatte Züger mit zwölf Männern drei Wochen lang einen Tunnel saniert: Nachtschicht von 20 Uhr bis 5 Uhr morgens. Auch hier wurde massiert und gedehnt, morgens um 0.45 Uhr: “Es war toll, sogar noch intensiver als tagsüber. Und es hat wach gemacht. Gerade für regelmässige Nachtarbeitende in Spitälern oder Transportunternehmen wären solche Übungen optimal.”

Die Arbeiter machen einfach mit

Was aber braucht es, um solche Projekte auch anderswo einzuführen? Hanspeter Züger: “Zuerst müssen die Arbeitgeber überzeugt werden. Die haben zum Teil noch Angst vor Innovationen. Die Möglichkeit, dank der Übungen auch Kosten für Fehltage und Versicherungsprämien zu senken, wird aber wohl durchaus dazu beitragen, hier einen Wandel herbeizuführen.” Sind die Arbeitgeber einmal überzeugt, braucht es jemanden, der die Übungen vorzeigt und es braucht Mitarbeitende, die motiviert sind, mitzumachen. Züger sieht da keine Hindernisse: Die Übungen seien einfach zu erlernen und auf seinen Baustellen habe es in all den Jahren kaum je einen Arbeiter gegeben, der mehr als einmal zugeschaut hat: “Die machen einfach mit. Es ist ja auch etwas Spielerisches, es gibt auch etwas zu lachen.” Abschätzige Bemerkungen gab es früher höchstens von Spaziergängern, meist älteren Herren, die meinten, ob denn hier eigentlich nicht gearbeitet werde.

Tropfen auf den heissen Stein?

Dass Bauarbeiter gut daran tun, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, das zeigt auch eine Genfer Studie aus dem Jahre 2000 (2): Bauarbeiter beziehen öfter als andere Berufsangehörige eine IV-Rente und haben eine geringere Lebenserwartung als der Durchschnitt der Bevölkerung. So weist die Studie zum Beispiel nach, dass 40 Prozent der Bauarbeiter bis zum Alter von 65 Jahren invalid geworden sind – bei den Architekten und Ingenieuren beträgt dieser Anteil nur 4 Prozent. Der Grund ist bei den Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter zu suchen: Sie sind Lärm, Wetter und Staub ausgesetzt, beanspruchen ihre Gelenke und Muskulatur oft in ungesundem Ausmass und haben vor allem im Sommer lange Arbeitszeiten. Können Energieübungen unter solchen Arbeitsbedingungen mehr sein als ein Tropfen auf den heissen Stein?

Für Hanspeter Züger ist klar, dass alle technischen Hilfsmittel einzusetzen sind, die beispielsweise das Heben von Lasten erleichtern. Die Energieübungen wirkten sich aber auf das allgemeine Wohlbefinden und damit die Gesundheit aus: “Das kann man nicht hoch genug anrechnen, dass eine Firma erlaubt, während der Arbeitszeit solche Übungen zu machen.” Christopher Oechsle, Verwaltungsratspräsident der Locher AG Zürich hofft denn auch, dass die Übungen durch die Förderung der Beweglichkeit auch im Hinblick auf Altersgebrechen präventiv wirken.

Energieübungen und Rentenalter

Auch Dario Mordasini, Beauftragter für Gesundheitsschutz bei der Gewerkschaft Bau und Industrie GBI, ist begeistert von Zügers Übungen: “Sie helfen, Gesundheitsschutz breiter als nur im Rahmen von Unfallverhütung zu thematisieren. Die Belastungen verlagern sich nämlich: die Unfallzahlen nehmen ab, der Stress dafür zu.” Das ergänze die Bestrebungen der Gewerkschaften zur Reduktion der Arbeitszeit und zur Senkung des Rentenalters. Vor kurzem hat man sich mit dem Baumeisterverband auf ein Rentenalter 60 für Bauarbeiter geeinigt.

SUVA: Ja, aber...

Stehen Arbeitgeber und Gewerkschaften hinter ihm, so würde sich Hanspeter Züger doch von einer Seite noch mehr Unterstützung wünschen – von der SUVA. Dort betont man zwar, dem Projekt positiv gegenüber zu stehen, für eine weitergehende Unterstützung müsse aber die Wirkung der Übungen über einen längeren Zeitraum evaluiert werden. Peter Schmid, Projektleiter Gesundheitsförderung bei der SUVA: “Zudem sind der SUVA finanzielle Grenzen gesetzt in der Promotion solcher Aktionen.” Man habe allerdings durchaus schon an die Arbeitgeber appelliert, dem Beispiel der Firma Locher zu folgen. Die beste Öffentlichkeitsarbeit sei aber immer noch die Medienpräsenz von Züger selber, ist Schmid überzeugt.

Und da dürfte er Recht haben. Sogar die Schweizer Illustrierte ist schon auf der Baustelle aufgetaucht: “Die hätten mich wohl am liebsten sogar noch zuhause in der Badewanne fotografiert”, lacht Hanspeter Züger. Solches geht ihm dann allerdings doch zu weit. Schliesslich solle nicht er im Mittelpunkt stehen, sondern die Übungen. Aber dank seiner Initiative wird es in Dübendorf weiterhin um 12.45 Uhr Bauarbeiter geben, die sich armkreisend und schulterklopfend auf ihre Körper zu konzentrieren versuchen. Einige Meter neben der Fahrbahn.

*Adrian Ritter ist Soziologe und freischaffender Journalist in Zürich. Seine Spezialgebiete sind Gesundheit/Medizin, Psychologie, Bildung/Forschung und Arbeitswelt. Kontakt: adrianritter@hotmail.com. Kontakt Hanspeter Züger: Locher AG Zürich, Pelikanstrasse 5, 8001 Zürich, Tel. 079/667 43 05

Anmerkungen

1. Core-Energetik ist gemäss Selbstdarstellung eine Weiterentwicklung der Bioenergetik, mit Wurzeln bei Sigmund Freud und Wilhelm Reich. Quelle:
2. Usel, Massimo / Gubéran, Etienne: Mortalité prématurée et invalidité selon la profession et la classe sociale à Genève, Hrsg. vom Office cantonal de l`inspection et des relations du travial. Bestellbar unter Tel. 022/319 28 50 oder Massimo.Usel@etat.ge.

*MaGs-Männergesundheit

Das Projekt “Männergesundheit” will Fachleute und die Öffentlichkeit für die körperlichen, seelischen und sozialen Aspekte der Gesundheit von Männern sensibilisieren und in der praktischen Umsetzung von Massnahmen unterstützen.
Das Projekt umfasst die drei Bereiche Fachtagungen, Medienarbeit und Projektarbeit. Finanziert wird das Projekt durch Gesundheitsförderung Schweiz.

Auskunft und Unterlagen:

René Setz, Radix Gesundheitsförderung
setz@radix.ch, www.radix.ch/d/mags/projekt.html