Eingefrorene Trauer

Salud Mental-Arbeit in El Salvador, ein Erfahrungsbericht

Von Ruth Waldvogel

Mitte der 90-er Jahren wurde ich von ACISAM, einer salvadorianischen Nichtregierungsorganisation, die im psychosozialen Bereich tätig ist, angefragt, ob ich ihre Arbeit supervidieren könnte. Auslöser für diese Anfrage war die Erkenntnis der MitarbeiterInnen der NGO, dass ihre Arbeit sich äusserst schwierig gestaltete, da sie selbst ebenso wie die Bevölkerung an den Folgen des zwölfjährigen Bürgerkriegs litten. Dies führte dazu, dass belastende Themen nicht angesprochen wurden. Beide Seiten versuchten mehr oder weniger bewusst,die Erinnerungen zu verdrängen, und so Trauer und Wut unter Kontrolle zu halten. Doch gerade diese “eingefrorene Trauer” ist ein wesentlicher Grund für Gewalt und Delinquenz.

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Arbeit im Gesundheitsbereich ist oft frustrierend, wenn selbst bei optimalen Bedingungen die Betroffenen mit der angebotenen Hilfestellung nicht adäquat umgehen. Aus der psychotherapeutischen Praxis ist bekannt, dass unbewusste psychische Mechanismen das bewusste Handeln durchkreuzen und behindern können. Dies trifft für alle Menschen zu, besonders jedoch bei denjenigen, die durch Krieg, Armut und schwere Katastrophen extremtraumarisiert sind. Die damit verbundenen Erlebnisse von absoluter Ohnmacht und Hilflosigkeit führen dazu, dass die Betroffenen den Zugang zu ihren eigenen Ressourcen verlieren. Sie werden unfähig, selbst aktiv zu werden und angebotene Hilfe für sich einzusetzen. Das Bewusstsein um diese Tatsache führte zur verstärkten Arbeit im Bereich von Mental Health.

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen leisten psychotherapeutische und präventive Arbeit im psychosozialen Bereich mit teilweise beachtlichem Erfolg. Da auch die MitarbeiterInnen der NGOs oft ebenfalls traumatische Erfahrungen gemacht hatten, ergeben sich immer wieder Probleme in der Arbeit. Seit einigen Jahren versucht eine salvadorianische NGO dieses Problem mit Hilfe von psychotherapeutischer Supervision durch eine externe Supervisorin anzugehen. Im Folgenden möchte ich von dieser Erfahrung, die ich seit 1996 in meinen zweimal jährlich stattfindenden dreiwöchigen Einsätzen in El Salvador machen konnte, berichten.

Die Asociación de Capacitación e Investigación para la Salud Mental (ACISAM) ist seit über 15 Jahren im Bereich von Salud Mental tätig. Zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jahre 1986 wurden vor allem in den vom Krieg besonders betroffenen Gebieten und in den Armenvierteln der Hauptstadt Kriseninterventionen gemacht, um die Bevölkerung bei der Verarbeitung der traumatischen Kriegserlebnisse zu unterstützen. Seit Anfang der 90-er Jahre und besonders seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Januar 1992 wurde das Schwergewicht auf die Primarprävention im Bereich eines integralen Gesundheitskonzeptes gelegt. Gesundheit wird dabei entsprechend der WHO-Deklaration von Alma-Ata (1978) als der Zustand von physischem, psychischen und sozialen Wohlbefinden verstanden. ACISAM ist in seiner Tätigkeit den Ideen der "educación popular" verpflichtet. Gearbeitet wird mit einem partizipativen Ansatz, d.h. die Bevölkerung ist von Beginn an aufgefordert zusammen mit der NGO mögliche Interventionsstrategien zu entwickeln. Ziel der Arbeit ist es, die eigenen Ressourcen zu entdecken und nutzbar zu machen. Dem Einzelnen zu helfen aus der Ohnmacht herauszukommen und sich so seines Lebens wieder zu ermächtigen und handlungsfähig zu werden im Rahmen ihrer sozialen Gemeinschaft. Der Gedanke der Gemeinschaft ist ein zentraler Punkt. In der solidarischen Zusammenarbeit liegen wichtige Ressourcen, die für Aufbauarbeit und Prävention genutzt werden sollen. Die Arbeit erfolgt in Kursen, an denen Freiwillige, sogenannte Promotoren, teilnehmen. Sie lernen, die neu erworbenen Erkenntnisse an die Gemeinschaft weiterzugeben.

Mit Hilfe der Supervision ihrer Arbeit wollte das Team von ACISAM seine eigenen Schwierigkeiten im Umgang mit den belastenden Erinnerungen verarbeiten. Dadurch können neue Ansätze für die Arbeit mit der Bevölkerung gefunden werden. Um diese zu ermöglichen, wurde jemand gesucht, der das Land aus eigener Erfahrung kannte, ohne jedoch selbst vom Bürgerkrieg betroffen und in das komplizierte Beziehungsgeflecht verwickelt gewesen zu sein.

Die Supervision verläuft auf zwei Ebenen. Zum einen handelt es sich um Teamsupervision, bei der latente und manifeste Konflikte innerhalb der Institution angegangen werden. Daneben gibt es die Supervision der Arbeit in den Gemeinden. Vor allem zu Beginn meiner Tätigkeit war ich an den Kursen in den Gemeinden als teilnehmende Beobachterin anwesend. Später verlagerten wir das Gewicht eher auf Besprechungen der Arbeit im Sinne von Balintgruppen.

Die Supervisionsarbeit ist auf dem Konzept von Übertragung und Gegenübertragung aufgebaut. Grundlage dieses Konzeptes ist die Tatsache, dass sich jedes Individuum im Laufe seines Lebens ein Erklärungsmodell der äusseren Welt erschafft, das aus seinen ureigenen Erfahrungen mit derselben entsteht. Diese Erfahrungen sind unter anderem bedingt durch familiäre, kulturelle, ökonomische und politische Gegebenheiten und wie das Individuum auf Grund seiner Konstitution und Verfassung damit umgeht. Neue, aktuelle Ereignisse werden mit Hilfe dieses Erklärungsmodells verarbeitet, frühere Erfahrungen werden auf die gegenwärtige Situation “übertragen”. So verbindet ein Salvadorianer, der während des Bürgerkrieges in den umkämpften Gebieten gelebt hat, einen Soldaten meist mit schrecklichen Erinnerungen an Zerstörung und Gewalt. Ein Schweizer identifiziert sich wohl eher mit einem Soldaten, er erinnert ihn an seine eigene Militärzeit und die damit verbundenen Erlebnisse.

Als ich im Oktober 2001 mit einem Bekannten durch ein Wohnquartier von San Salvador ging, fuhr ein Militärjeep heran, vier oder fünf Soldaten sprangen herunter und liefen auf ein Haus zu. Mein Begleiter zuckte zusammen und bemühte sich dann möglichst unauffällig weiter zu gehen. Seine Reaktion bewirkte bei mir Betroffenheit, und gleichzeitig spürte ich eine enorme Beklemmung verbunden mit Zorn und Angst. Mein Begleiter hatte die Situation sofort als erneute Militarisierung nach dem 11. September gedeutet und gefühlsmässig entsprechend reagiert. Ich hingegen sah zuerst lediglich Soldaten. Die Bedeutung der Situation begriff ich erst, als ich die Reaktion meines Freundes spürte.

Meine Reaktion, die sogenannte Gegenübertragung, ist ein wichtiges Instrument in Psychotherapie und Supervision. Sie hilft zu verstehen, weshalb jemand in einer bestimmten Situation so und nicht anders reagiert oder die Situation in einer bestimmten Art und Weise interpretiert. Indem diese Erkenntnis dem Gegenüber vermittelt wird, können unbewusste Mechanismen bewusst gemacht werden und nach Alternativen gesucht werden.

Das Team von ACISAM beschreibt in der Evaluation unseres gemeinsamen Supervisionsprozesses verschiedene Veränderungen. Besonders hervorgehoben wird dabei ein deutliche Verbesserung von Selbstbewusstsein und Autonomie sowohl auf persönlicher als auch auf institutioneller Ebene. Neuer Raum für kritische Reflexion der eigenen Arbeit, ein stark gewachsenes Fachwissen und eine veränderte Dynamik in der Organisation, so dass heute auch schwierige Themen wie z.B. “Gender” angegangen werden können. Mit anderen Worten, die eingangs erwähnte Problematik der Passivität und Abhängigkeit konnte verbessert werden, ein Bewusstsein der eigenen Ressourcen erarbeitet werden. Dies zeigt sich auch darin, dass ACISAM die Forderung aufstellte, in die Technik der Supervision eingeführt zu werden, und wir im April 2002 bereits mit einem Lehrgang beginnen konnten.

*Dr. Ruth Waldvogel ist Psychoanalytische Psychotherapeutin EFPP. Kontakt: ruth.waldvogel@bluewin.ch