Fragile Staaten unter der Lupe der DAC/OECD

Arbeiten in der Hölle

Von Martin Leschhorn Strebel

Die Arbeit in fragilen Staaten stellt die Gesundheitszusammenarbeit vor grosse Herausforderungen. Der Entwicklungsausschuss der OECD (DAC) hat vor einigen Jahren Prinzipien für ein erfolgreiches Engagement in den betroffenen Ländern aufgestellt. Nun liegt ein Zwischenbericht vor.

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Die US-amerikanische Stiftung „Fund for Peace“ publiziert zusammen mit der Fachzeitschrift „Foreign Policy“ einmal jährlich den „Failed States Index“. Gescheiterte Staaten – das ist eine Begrifflichkeit, die seit den 90er Jahren praktisch als Synonym für schwache, oder eben fragile Staaten verwendet wird. Es ist ein Ausdruck, der jegliche Hoffnung auf Besserung für die Menschen in diesen Ländern vom Tisch wischt. Gesteigert wird dieser Eindruck dadurch, dass die Zeitschrift auf ihrer Webseite den Index mit sogenannten „Postkarten aus der Hölle“ illustriert.

Diesen kritischen Bemerkungen gegenüber des Index’ wegen seiner Begrifflichkeit und Bildsprache zum Trotz, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Rangliste der schwachen Staaten und der dahinter stehenden Methodik. Den Index 2011 führen folgende Staaten an: Somalia, Tschad, Sudan, Demokratische Republik Kongo, Haiti, Simbabwe, Afghanistan, Zentralafrikanische Republik, Irak und die Elfenbeinküste.

Der „Fund for Peace“ ermittelt den Index mit zwölf sozialen, ökonomischen, politischen und militärischen Indikatoren:

    1. Bevölkerungsdruck
    2. Anzahl Flüchtlinge und intern Vertriebene Personen (IDPs)
    3. Vorhandensein von rachesuchenden Teilen der Bevölkerung
    4. Chronische und anhaltende Flucht von besser gebildeten Menschen (Brain Drain)
    5. Ungleiche ökonomische Entwicklung von ganzen Bevölkerungsgruppen
    6. Starker wirtschaftlicher Niedergang (gemessen an Pro-Kopf-Einkommen, Bruttonationaleinkommen, Kindersterblichkeit, Armutsgrenze und der Anzahl von Konkursen)
    7. Kriminalisierung und/oder Delegitimierung des Staates
    8. Zerfall der staatlichen Dienstleistungen
    9. Weitverbreitete Verletzung der Menschenrechte
    10. Sicherheitsapparat als Staat im Staat
    11. Aufstieg von gruppenspezifischen Eliten unter Ausschluss anderer Gruppen (z.B. aufgrund von ethischen Kriterien)
    12. Militärische Interventionen anderer Staaten oder externer, militärischer Akteure

Eine ganze Reihe von Ursachen beeinflussen die Möglichkeiten eines Staates, seine Pflichten gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern wahrzunehmen. Die vom „Fund for Peace“ aufgestellten Kriterien sind zwar ein für ein Ranking geeigneter Gradmesser, sie können aber die ursächlichen Mechanismen, weshalb nun ein Staat scheitert oder aber eben schwächelt, um seine Aufgaben wahrzunehmen, nicht wirklich aufzeigen. Ist es der wirtschaftliche Niedergang, welcher dazu führt, dass sich eine gesellschaftliche Gruppe ausgeschlossen fühlt und zu den Waffen greift? Oder ist es ein Bürgerkrieg, der zum wirtschaftlichen Niedergang führt? Haiti, das schon länger, vor allem armuts- und konfliktbedingt, als ein fragiler Staat gilt, ist aufgrund des Erdebebens 2010 im Ranking von Platz 11 auf Platz 4 abgestiegen.

„Republik der Hilfswerke“

Staatliche und nichtstaatliche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit sind im Kontext von fragilen Staaten besonders gefordert. Sie müssen in ihrer Arbeit vom „Fund for Peace“ aufgestellte Indikatoren im jeweiligen Einsatzland sorgfältig analysieren und den für die Arbeit notwendigen Rahmen daraus ableiten, um verantwortungsvoll tätig zu sein. Und verantwortungsvoll heisst, dass sie alles tun, um langfristig eine Stärkung der Staatlichkeit nicht zu gefährden.

Dies ist einfacher gesagt als getan. Wenn der Staat darniederliegt, sind es oft die Hilfswerke, die noch die Möglichkeit haben, eigentlich staatliche Dienstleistungen wie die Bildung oder die Gesundheitversorgung sicherzustellen. Rolf Maibach von der Bündner Partnerschaft Hôpital Albert Schweitzer in Haiti brachte die darin wohnenden Gefahren in einem Interview im November 2010 mit dem Tages-Anzeiger gut auf den Punkt. Auf die Frage, ob es auf Haiti bereits wieder so etwas wie Normalität gebe, sagte er: „Nein. Nur schon, weil der Staat kaum existiert. Kein Wunder, redet man heute von der Republik der Hilfswerke. Eine Vorstellung, die für mich eine Horrorvision wäre. Aber nach dem Erdbeben kam man nicht mehr durch die Hauptstadt wegen all der NGOs. Und jedes wusste besser, was für Haiti gut ist. Zum ersten Mal haben wir Mühe, einheimische Chirurgen für unser Spital zu finden, weil sie von anderen Hilfswerken mit hohen Löhnen abgeworben werden.“

Um solche Auswirkungen zu verhindern und positive Wirkung die Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Staaten zu erzielen, hat der Entwicklungshilfeausschuss der OECD (DAC) 2007 Prinzipien für das internationale Engagement in fragilen Staaten erlassen, die in diesem Bulletin nachstehend dokumentiert werden. Die Akteure sollten die in der Einleitung postulierten langfristigen Ziele des Engagements nicht aus den Augen verlieren: „Auf lange Sicht soll das internationale Engagement in fragilen Staaten nationalen Reformkräften beim Aufbau effektiver, legitimer und belastungsfähiger staatlicher Institutionen helfen, die in produktivem Zusammenwirken mit der Bevölkerung nachhaltige Entwicklung fördern können.“

Langfristig angelegtes Engagement

Die OECD hat 2011 zum zweiten Mal einen Bericht veröffentlicht, in dem sie der Umsetzung dieser Prinzipien nachgegangen ist. Im ersten Bericht 2009 wurden neun, im zweiten 2011 dreizehn Länder untersucht. Die OECD hat in diesem Jahr folgende Länder in ihre Untersuchung einbezogen: Burundi, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Komoren, Demokratische Republik Kongo, Guinea-Bissau, Haiti, Liberia, Sierra Leone, Somalia, Süd-Sudan, Osttimor und Togo.

Der Bericht sieht vier Bereiche, in welchen die Umsetzung nicht voran kommt:
1. Das Prinzip „Keinen Schaden anzurichten“ (Do no harm).
2. Praktische Koordinationsmechanismen zwischen internationalen Akteuren vereinbaren.
3. Schnell handeln – aber lange genug engagiert bleiben, damit sich Erfolge einstellen können.
4. Ausgrenzung vermeiden.

Die OECD stellt fest, dass die Akteure nicht systematisch darauf hinwirken, Schaden zu vermeiden. Insbesondere erwähnt der Bericht, dass nur selten Strategien eingesetzt werden, um die Abwerbung von gut ausgebildetem Personal zu verhindern.

Ebensowenig werde auf die Gefahren Rücksicht genommen, die aus einer Überabhängigkeit von internationalen NGOs bei der Gewährleistung der Basisversorgung für Bevölkerung entstehen könnte: „Development partners also need to be more alert to the potential negative effects on statebuilding of over-reliance on international non-governmental organisations (NGOs) for basic service delivery, particularly when they act outside of existing national frameworks and are not accountable to the government and end users.“ (Can’t We Do Better, p. 15)

Dies ist mit Sicherheit ein entscheidender Faktor, um das langfristig Ziel zu sichern, dass der Staat in seiner Pflicht gestärkt wirkt, die Rechte der Menschen auf Gesundheit und auf Bildung zu gewährleisten. Denn nur so kann ein schwacher Staat langfristig auch die Legitimität zurück gewinnen.

In den meisten schwachen Staaten fehlt es laut dem OECD-Bericht an einer umfassenden Koordinationsstruktur zwischen den verschiedenen internationalen und den nationalen AkteurInnen. Als besonders heikel gilt der Übergang zwischen der humanitären Hilfe zur Entwicklungszusammenarbeit: „While humanitarian assistance is often more strongly and efficiently co-ordinated at country level than development assistance, its engagement with national government tends to be limited, which can have a negative effect on ownership and statebuilding if sustained over time. This is aggravated by the fact that humanitarian and development aid are guided by different principles and objectives (...)” (Can’t We Do Better, p. 16)

Der OECD-Bericht schildert als weiter Schwäche in der Umsetzung ihrer Prinzipien, dass viele Interventionen in fragilen Staaten mit kurzfristigen Zielsetzungen versehen sind. Humanitäre Hilfe wird immer wieder erneuert – auch wenn die Instrumente der humanitären Hilfe längst durch solche der langfristigen Entwicklung ersetzt werden müssten.

Dabei ist ein langer Atem sehr zentral, denn die Ursachen, weshalb ein Staat schwach ist, sind Langzeitprobleme auf der strukturellen Ebene. Deren Behebung braucht denn auch einen langfristigen Ansatz. Gerade aber die traditionellen Rahmenbedingungen der Entwicklungspolitik – wie etwa die Millenniumsentwicklungsziele – stossen in fragilen Staaten an Grenzen. Der Bericht folgert denn auch: „There is a need for a major shift in the way development outcomes, priorities and results are defined – both globally and at the country level. The political realities and political economies of fragile states need to be taken much better into account.”


*Martin Leschhorn Strebel ist Mitglied der Geschäftsleitung des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz. Kontakt: mleschhorn@medicusmundi.ch


Quellen: